Rezension über:

Joachim Gnilka: Wie das Christentum entstand, Freiburg: Herder 2004, 3 Bde., 336 S., 332 S., 470 S., ISBN 978-3-451-28307-9, EUR 35,00
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Rezension von:
Carmen Hammer
Institut für Geschichte, Universität Bremen
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Carmen Hammer: Rezension von: Joachim Gnilka: Wie das Christentum entstand, Freiburg: Herder 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 4 [15.04.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/04/7727.html


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Joachim Gnilka: Wie das Christentum entstand

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Die vorliegende Geschichte des Christentums vereinigt drei Monografien in einer Sonderausgabe und macht sie in dieser Form einem breiteren Publikum zugänglich. Joachim Gnilka zeigt gleichermaßen kenntnisreich wie verständlich an Person und Botschaft Jesu von Nazaret, an Wirken und Werk des Paulus von Tarsus sowie in einer auf das Neue Testament konzentrierten Theologie Verflechtungen und Interdependenzen auf, welche das frühchristliche Verständnis prägten. Den Bänden ist gemeinsam, dass der Autor dem jeweiligen Thema einen Forschungsüberblick voranstellt, der das zu behandelnde Vorhaben in den weiteren Kontext der Forschungslandschaft stellt und auch den innertheologischen Stand der Wirkungsgeschichte nicht außer Acht lässt. Die einzelnen Abschnitte verfügen über Literaturhinweise, die durch aktuellere bibliografische Angaben hätten ergänzt werden sollen.

Das Interesse an Jesus ist immens, wie es die zahlreichen, gerade populären Veröffentlichungen zeigen, die die begrenzten biografischen Hinweise zum Leben Jesu fortschreiben. Insbesondere der einführende Blick Gnilkas auf die Leben-Jesu-Forschung verdeutlicht die Komplexität einer Unternehmung, die sich - erneut - auf die Suche nach einer Antwort auf die Frage macht: Wer war Jesus von Nazaret? Der erste Band verfolgt das ausgesprochene Anliegen, ein umfassendes und gleichfalls verständliches Jesusbild zu vermitteln. Für Gnilka bedeutet dies, gestützt vor allem auf die perikopenweise in den Evangelien der Synoptiker Markus, Matthäus und Lukas überlieferten Nachrichten, dass man die Person Jesus und seine Botschaft gemeinsam betrachten und Informationen über Jesu Leben und Wirken in das Gefüge der Zeit und die geistig-religiöse wie auch soziale Lage einbinden muss. Die Rückfrage nach dem historischen Jesus ist somit nicht nur sinnvoll, sondern notwendig (21), zumal die synoptischen Überlieferungen in der Person auch gleichzeitig den Verkündiger der Botschaft sehen.

Gnilka nimmt ausgehend von der politischen Lage in Israel bis zum Kreuzesweg wichtige Stationen in den Blick. Dem Kapitel zum politischen und sozialen Hintergrund des Wirkens Jesu folgen Bemerkungen zu Botschaft und Weisung sowie zu Jüngerschaft und Nachfolge. Die "Mitte seines Wirkens" (87) machte die Botschaft Jesu von der Herrschaft Gottes aus, um die sich alles andere ordnet. In seinen Predigten verkündete er die Ankunft einer Basileia, einer bevorstehenden "Gottesherrschaft", terminologisch entlehnt aus der jüdischen Tradition. Und er verknüpfte mit dem Angebot des Heils das endzeitliche Gottesgericht. Beachtlich hierbei laut Gnilka, "daß die durch die Zukunft bestimmte Gegenwart als Entscheidungszeit in den Brennpunkt tritt" (164). Zeit wird dadurch quantifizierbar, also überschaubar, und qualifizierbar, also: in ihrer Bestimmung auf das angekündigte Heil hin orientiert. Zukunft und Gegenwart treten in Korrespondenz durch die Nähe der Gottesherrschaft.

Doch nicht nur durch das Wort, auch handelnd wirkte Jesus: Er wandte sich in seinem Wirken an die Öffentlichkeit im Volk. Vergleichbar anderen "maßgebenden Menschen" (166) sammelte Jesus Anhänger um sich; prägendes strukturelles Element ist hierbei "der willentlich erweckte Eindruck, daß es sich um die erste Begegnung zwischen Berufendem und Berufenen handelt": Der Ruf erreicht die Menschen mitten in ihrer täglichen Arbeit, ihr "unverzüglicher Gehorsam" (167) reißt sie, nicht ganz hindernisfrei, aus der Familie und dem gewohnten Lebenszusammenhang in die Nachfolge. Gnilka stellt die Radikalität der Forderungen Jesu heraus, welche sich, wenn auch inhaltlich nur noch fragmentarisch nachvollziehbar, bei Themen wie Feindesliebe, Gewaltverzicht, Versöhnung, Besitz und Reichtum sowie dem Verhältnis zum Staat manifestiert (240).

Mit Paulus begegnen wir im folgenden Band dem Apostel, dessen Briefe uns aus der zweiten Generation einen ersten unmittelbaren Einblick in die frühchristlichen Gemeinden, deren Organisation und Struktur, aber auch deren Problemstellungen vermitteln. Wortgewaltig in seinen Briefen, kritisiert für seinen Vortrag - der weit gereiste Stadtmensch, ehelos, mit einem großen Freundes- und Mitarbeiterkreis wandte sich ganz dezidiert in seiner Verkündigung an die Heiden. Paulus, selbst "Angehöriger zweier Kulturen" (7), des Judentums und des Hellenismus, prägte durch sein Wirken das sich formierende Christentum entscheidend. Dem Autor ist insbesondere daran gelegen, "die ermittelbaren biographischen Einzelheiten, die historischen Spuren des Apostels einerseits und seine Botschaft und Theologie andererseits in ein korrespondierendes Verhältnis zu bringen" (7). Er tut dies, indem er zwei Aspekte in den Mittelpunkt seiner Darstellung rückt: das Wirken des Paulus als Missionar und als Theologe. Die einleitende Rezeptions- und Forschungsgeschichte hebt ausgewählte Stationen des geistigen Ringens um Paulus hervor.

Tarsus, die Geburtsstadt des Paulus, und die Weltstadt Jerusalem, sind Orte, die seine Jugend und Erziehung in besonderem Maße prägten. Kultur- wie sozialgeschichtlich vergleichende Untersuchungen eröffnen Zugänge zum Lebensweg des Paulus. Eine Vielzahl von Nachrichten hierüber wie auch über Paulus als Christenverfolger und seine Berufung verdanken sich der Apostelgeschichte; zentral für die Hinwendung zum Christentum war für ihn das Damaskuserlebnis. Im Unterschied zu den Jüngern, die bereits mit dem irdischen Jesus gegangen waren, war für den später berufenen Paulus die "Verneinung eine totale", weil er alles, "was bis dahin sein Leben erfüllt hatte, was ihm heilig war, wonach er mit all seinen Kräften gestrebt hatte", preisgab (45).

Die sich daran anschließende Betrachtung des missionarischen Wirkens des Apostels nimmt breiteren Raum ein: Gnilka beschäftigt sich näher mit den missionarischen Reisen des Apostels, der Methode seiner Missionierung, wendet sich den von ihm gegründeten Gemeinden und seinen Mitarbeitern wie auch seinen Gegnern zu. Wichtige Stationen der paulinischen Missionsreisen verknüpft der Autor eng mit der Diskussion von Forschungspositionen und gewinnt aus der Einbeziehung und Abwägung historisch gesehen akuter Fragestellungen erhellende Einsichten zum Jerusalemer Apostelkonvent und zum so genannten Antiochenischen Zwischenfall, in denen Paulus "seine Rechtfertigungslehre, das sola fide, gegenüber dem dem mosaischen Gesetz verhafteten Petrus" verteidigte (102) und schließlich zur Geltung brachte. Für die Durchführung seiner missionarischen Aufgabe suchte und fand Paulus - konzentriert auf große Städte, die Poleis - Anschluss an bestehende Gemeinden, und er gewann Mitarbeiter, die sein Werk unterstützten und fortführten. Für Gnilka war Paulus bei Weitem kein unverstandener Einzelgänger, sondern ein Teamworker (144); auch das bei Paulus häufig gebrauchte Wort: Synergos, wörtlich: Mitarbeiter, sowie die Benennung von Mitautoren für fünf Paulusbriefe spreche dafür, dass "dem Apostel der Gedanke der Kollegialmission vertraut war", wenn er ihnen auch voraus hatte, selbst von Jesus berufener Apostel zu sein (145); nicht als vereinzelter Propagandist sei er zu denken, "sondern als einer, der in einer Gemeinschaft stand" (91) und aus dieser Position heraus agierte. Philippi, Thessalonike, Korinth, Ephesus - dies waren Zentren, auf die sich die missionarischen Bemühungen des Paulus und seiner Mitarbeiter erstreckten. Gnilka verfolgt - beschränkt auf den Zeitraum, für den die Paulusbriefe Auskunft geben - die Entwicklung und das Leben in den ersten christlichen Gemeinden; er konzentriert sich auf den Bereich der entstehenden Gemeinde, den von Haus und Familie sowie den des bürgerlichen Lebens in der Polis. Dem Autor geht es darum, den Theologen Paulus, also "das Eingebundensein der Persönlichkeit des Apostels in seine Theologie, die Entwicklung seiner Gedanken" (183) - nicht seine Theologie - darzustellen. Gnilkas Anliegen, auf diese Weise "Theologie im Prozeß" herauszuschälen, gelingt ihm durch die Einordnung der paulinischen Lehre in die bestehende christliche Tradition und die Herausarbeitung des originär Paulinischen, er kennzeichnet das Eingebundensein in die Tradition und hebt gleichfalls die dem Apostel auferlegten Beschränkungen, aber auch dessen Akzentsetzung am Beispiel der Taufe und Eucharistie hervor (272 ff.) sowie das Ringen des Apostels um Israel und das mosaische Gesetz (288 f.). Mit Blick auf die nachpaulinischen neutestamentlichen Paulusbilder, die uns den Apostel als das "Vorbild vor allem für jene, die ein Amt übernommen haben, [das] Vorbild in der Lehre, im Leben, im Streben, im Glauben, in der Langmut, in der Liebe, in der Geduld, in den Verfolgungen, in den Leiden" bewahrt haben (319), bietet Gnilka abschließend eine Einordnung von Leben und Werk.

Im dritten Band entwirft Gnilka eine Theologie des Neuen Testaments, die sich dem rettenden Handeln in Jesus Christus - durch Kreuz und Auferweckung vom Tod - nach den neutestamentlichen Schriften des Paulus, der Synoptiker, des Johannes sowie nach den nachpaulinischen Briefen, der Apokalypse und den Kirchenbriefen zuwendet. In Anlehnung an die Bultmann'sche These, Jesus bzw. seine Verkündigung gehörten zu den Voraussetzungen der neutestamentlichen Theologie und seien nicht Bestandteil derselben, wird in Bezug auf Jesus bewusst die theologische Reflexion der Evangelisten von der geschichtlichen Rückfrage getrennt und auf das eingangs besprochene Jesus-Buch verwiesen. Verzichtet wird ebenfalls auf eine Erörterung der Verkündigung der Urgemeinde.

Leitend für das Vorgehen Gnilkas ist das Kerygma: "Christus ist gestorben für unsere Sünden gemäß den Schriften [...]" (1 Kor 15,3 ff.). Dies bedingt eine Offenheit gegenüber dem im Alten Testament Gesagten. Damit wird das Neue Testament zum Schlüssel für das Verständnis des Alten Testaments. Auch für diesen Band gilt die Besonderheit, dass für alle Schriften nach den Bedingungen und Vorgaben gefragt wird und sie damit in die Tradition gestellt werden.

Anhand der seitens der Forschung vorgelegten Kriterien gelingt es Gnilka dank seiner profunden Kenntnis detailliert und nachvollziehbar, Grundstrukturen der synoptischen Überlieferung zu identifizieren, diese aus Entwicklungen, Verflechtungen und Kontinuitäten herauszuarbeiten und sie in kompakter Form darzustellen. Darüber hinaus eröffnet der Autor in Ansätzen den Blick für nachösterliche Umprägungen und Neuinterpretationen, zeigt auf, inwiefern durch das Wirken Jesu Weichen für die Zukunft gestellt worden sind und wo "Kontinuität in der Diskontinuität" (Bd. 1, 8) liegt.

Carmen Hammer