Rezension über:

Aram Mattioli: Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935-1941. Mit einem Vorwort von Angelo Del Boca (= Kultur - Philosophie - Geschichte. Reihe des Kulturwissenschaftlichen Instituts Luzern; Bd. 3), Zürich: Orell Füssli Verlag 2005, 239 S., ISBN 978-3-280-06062-9, EUR 38,80
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Rezension von:
Malte König
Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Malte König: Rezension von: Aram Mattioli: Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935-1941. Mit einem Vorwort von Angelo Del Boca, Zürich: Orell Füssli Verlag 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 5 [15.05.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/05/10392.html


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Aram Mattioli: Experimentierfeld der Gewalt

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Giftgas, Gewaltexzesse und Massenexekutionen - zwischen 350.000 und 760.000 Äthiopier fielen dem italienischen Angriffskrieg und Besatzungsregime in den Jahren 1935 bis 1941 zum Opfer. Brutal nutzte das faschistische Italien im Abessinienkrieg seine technische Überlegenheit und schreckte auch vor Übergriffen auf die Bevölkerung nicht zurück. Dennoch fanden die Ereignisse kaum Eingang in das kollektive Gedächtnis der Europäer. Im Schatten des 'Dritten Reiches' hielt sich der "Mythos des anständigen Italieners" (David Bidussa) über Jahrzehnte. Die Erinnerung an den Abessinienkrieg wurde verdrängt, verzerrt und vergessen, sodass der Obelisk von Axum bis ins Jahr 2003 die römische Piazza di Porta Capena als Siegestrophäe schmücken konnte.

Dieses falsche Geschichtsbild zu korrigieren, ist nicht das einzige Ziel von Aram Mattioli, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Luzern. In der vorliegenden Studie unterstreicht er zudem, dass die italienischen Streitkräfte in Äthiopien das Tor zu einer "neuen Dimension militärischer Gewalt" aufstießen (190). Der Überfall auf das Königreich Abessinien müsse weniger als letzter Kolonialkrieg gesehen und interpretiert werden, sondern vielmehr als Schlüsselereignis des "Katastrophenzeitalters" (Eric J. Hobsbawm), das eine neue Entgrenzung der Gewalt einläutete. Die historische Bedeutung des Krieges reicht laut Mattioli weit über Italien und Abessinien hinaus, da er dem durch den Völkerbund repräsentierten System der kollektiven Sicherheit einen schweren Schlag versetzte und politisch wie militärisch neue Konstellationen schuf, die Europa 1939 in den zweiten großen Krieg des 20. Jahrhunderts stürzen sollten (14).

In einer skizzenhaften Vorgeschichte verdeutlicht Mattioli, dass schon das liberale Italien von Großmachtstreben und Expansionsdrang getrieben wurde und am kolonialen Wettlauf in Afrika teilnahm. Im Jahre 1885 landeten italienische Truppen in Eritrea, 1911 überfielen sie Tripolitanien und die Cyrenaika (das heutige Libyen). Und auch Abessinien wurde bereits 1895 in eine kriegerische Auseinandersetzung verwickelt, doch gelang es dem afrikanischen Staat, Italien in der Schlacht von Adua eine demütigende Niederlage zuzufügen und seine Unabhängigkeit zu bewahren (32-35). Die so genannte Wiedereroberung Libyens wurde dann nach der Machtübertragung an Mussolini zum ersten Krieg, den das faschistische Italien führte, und entwickelte sich laut Mattioli zu einer "Schule der Gewalt" (54). Insbesondere im Umgang mit der Zivilbevölkerung manifestierte sich hier eine neue Qualität der Kriegsführung, in der die Besatzer erstmals zu Maßnahmen wie Kollektivstrafen, Deportationen und Exekutionen griffen.

Übereinstimmend mit Nicola Labanca interpretiert Aram Mattioli den Überfall auf Äthiopien als typisch "faschistischen Krieg" (93). Diplomatisch, militärisch und logistisch wohl kalkuliert, setzte das italienische Regime bei der Aggression ganz auf Geschwindigkeit und technische Überlegenheit. Das Kräfteverhältnis war extrem asymmetrisch, da in Äthiopien eine vergleichsweise modern ausgerüstete Armee samt Luftwaffe auf ein schlecht bewaffnetes Heer von Reitern und Stammeskriegern traf (81). Als im Dezember 1935 aber weder die waffentechnische noch die zahlenmäßige Überlegenheit ausreichte, um den Widerstand der Äthiopier zu brechen, entschieden sich Benito Mussolini und sein Oberbefehlshaber Pietro Badoglio für den Einsatz chemischer Waffen im großen Stil (88). Der Konflikt wurde entgrenzt, die Frontlinien aufgelöst, und Flugzeuge trugen die Kampfstoffe tief ins Landesinnere. Eine stark brutalisierte Kriegsführung, zu der Giftgasattacken und das Abbrennen ganzer Landstriche ebenso gehörten wie Vergewaltigungen und Blutbäder, prägte von nun an den Konflikt und die Besatzungszeit.

Gegenüber der eigenen Bevölkerung gelang es der faschistischen Propaganda, aus dem Krieg politisches Kapital zu schlagen. Italien wurde als kleine Nation stilisiert, die sich dem Völkerbund und den Westmächten erfolgreich widersetzte, um sich den ihr zustehenden "Platz an der Sonne" zu erkämpfen. In der Giornata della fede wurde die Übergabe von Trauringen als "symbolische Hochzeit mit dem Vaterland" (Petra Terhoeven) inszeniert, der Vatikan schien dem Feldzug seinen Segen zu geben, und die ferne Kolonie wurde den Italienern zu einer "Projektionsfläche für ein besseres Leben" (125). Obschon der äthiopische Kaiser Haile Selassie I. im Juni 1936 persönlich in Genf vorsprach und ausdrücklich auf den Großeinsatz von Giftgas hinwies, versagte der Völkerbund dem angegriffenen Land eine effektive Unterstützung. Stattdessen wurden die Wirtschaftssanktionen gegen Italien einen Monat später aufgehoben und die Annexion Abessiniens von einem Mitgliedsstaat nach dem anderen anerkannt (128 ff.). Europa war in einer "neuen Ära des internationalen Faustrechts" angekommen (Hermann Graml).

Die Legende vom humanen italienischen Kolonialismus, die den Vernichtungskrieg, das Terrorregime und die Rassenpolitik der Italiener stillschweigend überging, wenn nicht gar leugnete, verbreitete sich nach Ende des Zweiten Weltkrieges zusehends. Begünstigt wurde dieser Prozess "kollektiver Selbstabsolution" (177) laut Aram Mattioli vornehmlich durch das ausgebliebene Kriegsverbrechertribunal. In Italien gab es kein Pendant der Nürnberger Prozesse, in denen die Gräueltaten des faschistischen Regimes öffentlich aufgearbeitet und verurteilt worden wären. [1] Die Klage der äthiopischen Regierung wurde nach Ende des Zweiten Weltkrieges verschleppt und der Verklärung der Vergangenheit somit Tür und Tor geöffnet. Bis ins Jahr 2003 zeichnet Mattioli den Kampf um die Deutungshoheit über dieses historische Tabuthema nach und würdigt dabei vornehmlich die Rolle des Journalisten Angelo Del Boca, der die ungläubige Öffentlichkeit seit 1965 mit erdrückenden Belegen zum Gaskrieg und zur Repressionspolitik konfrontierte. Erst im Jahre 1996 nahm die italienische Regierung Stellung und gab den Einsatz von Giftgas offen zu (179-185).

Aram Mattioli führt in seiner exzellent geschriebenen Studie nicht nur die Einzelergebnisse der Fachliteratur (Angelo Del Boca, Giorgio Rochat, Richard Pankhurst, u. a.) sowie editierte Quellen und Zeitzeugeninterviews gekonnt zusammen und ergänzt sie an einigen Stellen durch Archivmaterial des Völkerbundes und des Internationalen Roten Kreuzes. Er liefert darüber hinaus zahlreiche Denkanstöße und verarbeitet die neuen Erkenntnisse originell, indem er die internationale Bedeutung des Abessinienkrieges mit Ausblick auf den Zweiten Weltkrieg neu bewertet. Zu beanstanden bleibt in diesem Zusammenhang allenfalls eines: Mattioli übergeht die Tatsache, dass die deutsche Seite den Ausbruch des Krieges bewusst förderte, um von der eigenen Aufrüstung abzulenken und einen Bruch der gegen das Deutsche Reich gerichteten "Front von Stresa", zu der auch Italien gehörte, zu provozieren. Berlin sicherte Italien wohlwollende Neutralität zu und beschenkte die Äthiopier gleichzeitig mit Waffen. [2] Den überaus positiven Eindruck, den das lesenswerte Buch hinterlässt, mindert dieser Kritikpunkt aber keineswegs.


Anmerkungen:

[1] Vgl. jetzt auch: Filippo Focardi/Lutz Klinkhammer: The question of fascist Italy's war crimes: the construction of a self-acquitting myth (1943-1948), in: Journal of Modern Italian Studies 9 (2004), 330-348.

[2] Manfred Funke: Sanktionen und Kanonen. Hitler, Mussolini und der internationale Abessinienkonflikt 1934-36, Düsseldorf 1970, 175.

Malte König