Shahrooz Mohajeri: 100 Jahre Berliner Wasserversorgung und Abwasserentsorgung 1840-1940 (= Blickwechsel. Schriftenreihe des Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin; Bd. 2), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, 320 S., ISBN 978-3-515-08541-0, EUR 39,00
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Die hier vorliegende Dissertation entstand im Fachgebiet Umweltverfahrenstechnik der TU Berlin am Zentrum Technik und Gesellschaft im Rahmen des von der Volkswagen-Stiftung geförderten Forschungsvorhabens "Wasserver- und Abwasserentsorgung in Berlin und Istanbul - historische Entwicklung, heutiger Zustand, zukünftige Planungen".
Die interdisziplinär angelegte Arbeit beleuchtet wichtige Aspekte der Geschichte der Berliner Wasserwirtschaft im Zusammenhang sowohl mit politischen und sozialen Faktoren als auch mit dem für die technische Infrastrukturausweitung der Großstädte so wichtigen wissenschaftlichen Diskurs der Agenten von Hygiene, Medizin, Biowissenschaft, Chemie und Städtebau. Deren Kompetenzzuwachs stellte im Bereich der Ver- und Entsorgungseinrichtungen von Städten ein wesentliches Charakteristikum der Urbanisierung dar. Das gewählte Beispiel Berlin als Hauptstadt des preußischen Staates und späterer Hauptstadt des Deutschen Reiches ist dabei in mehrfacher Hinsicht von besonderem Interesse. Zum einen übernahm hier mehrmals die Staatsmacht an Stelle der städtischen Selbstverwaltung die Initiative in diesem Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge: so etwa König Friedrich Wilhelm IV. und der Polizeipräsident Hinckeldey beim Bau des ersten Wasserwerks am Stralauer Tor, Handelsminister von der Heydt mit der Einsetzung einer Fachkommission zur Lösung der Abwasserentsorgung 1870 und Reichskanzler Bismarck, der 1883 die Inbetriebnahme einer Wasserfilteranlage initiiert hatte. Zum anderen waren mit Robert Koch und Rudolf Virchow renommierte Wissenschaftler in der Hauptstadt tätig. Schließlich waren mit dem kaiserlichen Gesundheitsamt und der kgl. Prüfungsanstalt für Wasserver- und Abwasserentsorgung wichtige wasserwirtschaftliche Forschungseinrichtungen dort angesiedelt. Dadurch erreichte Berlin ab 1875 auf nationaler und internationaler Ebene eine führende Rolle auf diesem Sektor und übernahm die Führung im Technologietransfer, der bis in die 1850er-Jahre von England ausgegangen war. Dass in dieser Arbeit die Wasserver- und Abwasserentsorgung gemeinsam in den Blick genommen werden, ist nur zu begrüßen: Lagen doch bis Ende der 1850er-Jahre in Berlin die Motive zur Errichtung einer zentralen Wasserversorgung hauptsächlich in der verbesserten Spülung der Rinnsteine, betrafen also im Grunde Fragen der Abwasserentsorgung, und in der Folgezeit richteten sich in allen Städten Planung und Ausgestaltung der Abwasserentsorgung nach den Vorgaben des Wasserverbrauchs.
Der Untersuchungszeitraum ist ebenfalls überzeugend gewählt: Wie in vielen deutschen Städten wurden in den 1840er-Jahren erste Pläne und Vorschläge zur Verbesserung der Wasserversorgung, in den 1940er-Jahren im Bereich der Abwasserentsorgung die auch noch heute gebräuchlichen Technologien des Belebtschlammverfahrens entwickelt. Aus diesen Prämissen ergibt sich die chronologische Struktur der Arbeit: Auf zwei einführende Überblickskapitel zu Problemen, Entwicklungs- und Diskussionsstand von Wasserver- und Abwasserentsorgung bis 1840 folgen im Wechsel je vier Kapitel zur Ver- und Entsorgung. Damit wird die Geschichte der Wasserwirtschaft in vier Phasen strukturiert: 1856-1874, 1874-1900, 1900-1925, 1925-1940. Die zeitlich unterschiedlich verlaufenden Innovationsschübe für die Implementierung neuer infrastruktureller Standards und Technologien im Bereich von Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung zeigen sich auch am Berliner Beispiel deutlich: Während der Beginn einer zentralen Wasserversorgung bereits in der ersten Phase durch ein englisches Privatunternehmen realisiert wird und ab der Übernahme des Wasserwerks in städtische Hand 1874 der Ausbau zu einer flächendeckenden Grundversorgung bis 1900 bereits im Wesentlichen erreicht ist, beginnt der Auf- und Ausbau eines leistungsfähigen Kanalisationssystems zeitversetzt erst in der zweiten Phase. Hier mussten zunächst in wissenschaftlichen Grundsatzdebatten wesentliche Fragen einer leistungsfähigen Abwasserbeseitigung geklärt werden. Der Verfasser kann zeigen, dass in Berlin jahrelange empirische Untersuchungen unter der Leitung Virchows tragfähige Entscheidungen ermöglichten. Schwerwiegende technische Fehler bei der Konzeption und dem Bau der Kanalisation und hohe Fehlinvestitionen, wie dies etwa in Frankfurt, Düsseldorf, Essen und Münster der Fall gewesen war, konnten so verhindert werden. Durch die Entwicklung der biologischen Abwasserreinigung und das Belebtschlammverfahren trat in den Jahren 1900-1940 die Abwassertechnologie in ihre entscheidenden Innovationsphasen.
Die Arbeit zeichnet in jedem Kapitel aber nicht nur wichtige Etappen von Planung und Ausbau der Berliner Ver- und Entsorgungseinrichtungen und des Wandels ihrer Organisationsformen nach, sondern integriert darin auch die für die Innovationen der Wasserwirtschaft zentrale Entwicklung der Trinkwasser- und Abwasseranalytik. Instruktiv sind überdies die in jedem Abschnitt zur Wasserversorgung befindlichen Unterkapitel zum öffentlichen und privaten Wassergebrauch. So kann der Verfasser durch eine Korrelation der Wasserverbrauchszahlen mit den ab 1871 erhobenen statistischen Daten aus der Volks- und Wohnungszählung etwa nachweisen, dass in Berlin bereits 1871 ein Wasseranschluss zu einer selbstverständlichen Dienstleistung für alle Bevölkerungsschichten gehörte und vor allem Bewohner in höheren Stockwerken dies nutzten, ein WC dagegen vorerst nur bei wohlhabenderen Einwohnern installiert war. Bereits 1890 weist die Verbreitung der Wasseranschlüsse in den verschiedenen Stadtteilen keinerlei Unterschiede mehr auf, zehn Jahre später war mit 97% eine fast flächendeckende Ausbreitung von WCs erreicht. Der durch Tabellen und Grafiken überzeugend nachgewiesene Implementierungsprozess für Wasseranschlüsse und WCs wiederholte sich in der Folgezeit noch einmal bei der Installation von Badeeinrichtungen, wie etwa Badewannen und Badeöfen.
Im Bereich des öffentlichen Wasserverbrauchs kann der Verfasser ebenfalls nennenswerte Veränderungen konstatieren: Die Ausgaben für Straßenreinigung und Rinnsteinspülung sanken durch die sukzessive Asphaltierung der Straßen und den Ausbau des Kanalisationsnetzes, insgesamt aber stieg der öffentliche Wasserverbrauch mit der Errichtung öffentlicher Pissoirs, Volksbadeanstalten und durch den Eigenbedarf der Wasserwerke.
Leider sind zahlreiche Grafiken durch die Schwarz-Weiß-Wiedergabe bzw. durch zu schwache Grauabstufungen oft ebenso schwer lesbar wie die kaum zu entziffernden Fußnoten. Auch die viel zu klein abgedruckten historischen Fotografien und Pläne besitzen dadurch kaum noch Informationswert. Insgesamt leistet die Arbeit einen wichtigen und differenzierten Einblick in die Geschichte der Wasserver- und Abwasserentsorgung und bildet einen fundierten Referenzpunkt für Studien zur Geschichte der Wasserwirtschaft anderer Großstädte. Ihre Stärke liegt im interdisziplinären Ansatz, der Historikern die Probleme der politischen Entscheidungsträger und die Unverzichtbarkeit von Expertenwissen und Forschung bei der Etablierung neuer Technologien zum Ausbau der städtischen Infrastruktur sinnfällig macht. Dass diese Längsschnittstudie den Bogen bis in die 1940er-Jahre spannt, schärft zudem den Blick für Kontinuitäten und Innovationen bis hin zur Problematik der gegenwärtigen Reprivatisierungswelle der Ver- und Entsorgungsbetriebe.
Charlotte Bühl-Gramer