Sandra Gianfreda: Caravaggio, Guercino, Mattia Preti. Das halbfigurige Historienbild und die Sammler des Seicento (= zephir; 4), Emsdetten / Berlin: edition imorde 2005, 192 S., 93 Abb., ISBN 978-3-9809436-0-4, EUR 32,00
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Wie intensiv Caravaggios Historienbilder gerade auf die Zeitgenossen gewirkt haben, können wir uns nur annähernd vorstellen. Niemand zuvor hatte die biblischen Sujets derart wirkmächtig erzählt. Neben der Hell-Dunkel-Ausleuchtung und der fingierten Plastizität der Figuren im malerischen rilievo ist für diese Eindringlichkeit auch das neue Format des Halbfiguren-Gemäldes verantwortlich, das den Betrachtern die verbildlichten Geschehen im Wortsinn nahe bringt, ja sie ihnen im Sinne des rhetorischen Topos "vor Augen stellt".
Dass das halbfigurige Historienbild in Rom um 1600 ein Novum war, müssen wir uns erst vergegenwärtigen, so souverän nutzte Caravaggio dieses Format und so rasch verbreitete es sich unter den so genannten Caravaggisten. Sandra Gianfreda hat nun in ihrer Dissertation die Geschichte dieser Bildgattung geschrieben, die bislang erstaunlicherweise ein Desiderat der Forschung war. Sie zeichnet nach, woher Caravaggio Anregungen bezog und wie er sie transformierte; sie informiert über die weitere Entwicklung des Bildtypus im Secondo Seicento, vor allem in den Sammlerbildern von Guercino und dem Kalabresen Mattia Preti. Weiterhin fragt sie nach den soziologischen und kulturellen Hintergründen, die seine Entstehung in Rom um 1600 begünstigten und verortet es in der dortigen Sammlungskultur. Dass das Format Caravaggios Interesse am dramatischen Erzählen entgegenkam, dass es sich als Sammlerbild besonders eignete, dass Guercino und Preti neue Akzente setzen, indem sie verstärkt auf das ästhetische delectare und das docere setzten und Caravaggios Absicht, die Betrachter seiner Gemälde emotional zu affizieren, zurückdrängten, sind Gianfredas Überlegungen. Sie leuchten dem Leser unmittelbar ein, aber genau da sitzt das Problem der schlanken Arbeit, die all diese Themen auf gut hundert (Text-)Seiten behandelt: Kaum eine ihrer Überlegungen ist grundlegend neu, keine ist innovativ. Es wird - etwa was die Vorläufer des halbfigurigen Historienbildes in der oberitalienischen und niederländischen Malerei des 16. Jahrhunderts angeht - wenig in der Caravaggio-Forschung nicht schon bekanntes Bildmaterial eingeführt und es werden wenig neue Erkenntnisse über Vermittlungswege gewonnen. Auch die Galleria Mattei, die die Autorin als Fallbeispiel für eine auf Halbfigurengemälde konzentrierte Bildersammlung anführt, konnte durch die Ausstellung "Caravaggio e la collezione Mattei" (Rom, Palazzo Barberini 1995) bereits als recht gut erforscht gelten. Eindringliche Bildanalysen oder -vergleiche fehlen, überhaupt schifft die Autorin an wichtigen Problemkomplexen glatt vorbei: Die parallele Ausbildung von halbfigurigen Historien und halbfigurigen Genrebildern wird kaum vermerkt, gar nicht, dass diese Bildgattungen mittels der Ambiguisierung der Historien offensichtlich bewusst einander angeglichen wurden - man denke nur an die strukturell so ähnliche Marktszene und Darstellung der Verleugnung Petri des so genannten Pensionante del Saraceni (vielleicht Georges de la Tour). So entgeht Gianfreda ein Potenzial dieses Bildtyps, das die Zeitgenossen ganz offensichtlich fasziniert hat und das für seinen Erfolg verantwortlich war.
Gianfreda sieht Caravaggios primäres Interesse an halbfigurigen Historienbildern in der durch sie bedingten Steigerung der Dramatik der Handlungsschilderung. Wenn die Autorin allerdings, die halbfigurige "Geißelung Christi" des Malers in Rouen (Musée des Beaux-Arts) mit dem ganzfigurigen Altarbild desselben Sujets für S. Domenico Maggiore in Neapel (Pinacoteca Capodimonte) vergleichend, schreibt, das "kompositorische (...) Ungleichgewicht" im erstgenannten Sammlungsbild erzeuge eine "starke Dramatik im Bild, die für einen sakralen Raum nicht angemessen gewesen wäre", stutzt man über solche weitgehenden Schlüsse, hielt man bislang doch Dramatik durchaus für ein Signum barocker Altarbilder.
Bedauerlicherweise haben sich nur wenige secenteske Kunsttheoretiker über Gemälde "a mezza figura" geäußert. Wenn sie es taten, wie Orazio Zamboni und Francesco Albani, sind die Bemerkungen kritisch, was Gianfreda überzeugend mit der generellen kritischen Haltung gegenüber Caravaggios Bildverständnis erklärt. Eine Bemerkung Giulio Mancinis in diesem Kontext lässt dabei aufhorchen. Er spricht den Gemälden des Malers zwar "forza" zu, nicht aber "moto" und "affetti" - essenzielle Kategorien dramatischer Historienbilder also. Bellori äußert sich ähnlich. Bei der Bedeutung, welche die Autorin nun gerade der durch das Bildformat mit Halbfiguren gewonnenen Dramatik zuschreibt, hätte dieses Urteil für sie Anlass einer vertieften Beschäftigung mit Caravaggios Narrationstechniken werden müssen, für die auch die Konsultation der jüngeren einschlägigen Forschungsliteratur gewinnbringend gewesen wäre. Sicherlich ist die Caravaggio-Literatur inzwischen kaum noch überblick- oder gar vollständig rezipierbar. Aber dass Gianfreda sich so völlig unberührt von Forschungsdiskussionen zum Konzept des Naturalismus oder Caravaggios angeblichem Arbeiten vor dem Modell zeigt, erstaunt doch etwas. Weiterhin vermisst man in ihrer Dissertation tiefergehende Überlegungen bezüglich der Rezeptionshaltung gegenüber religiösen Historien in Sammlungen und einen Vergleich der oberitalienischen Sammlungskultur des Cinque- und der römischen des Seicento. Das sind, zusammengenommen, bedauerlich viele Desiderate.
Valeska von Rosen