Rezension über:

Malte Fuhrmann: Der Traum vom deutschen Orient. Zwei deutsche Kolonien im Osmanischen Reich 1851-1918, Frankfurt/M.: Campus 2006, 419 S., ISBN 978-3-593-38005-6, EUR 45,00
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Rezension von:
Joachim Zeller
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Joachim Zeller: Rezension von: Malte Fuhrmann: Der Traum vom deutschen Orient. Zwei deutsche Kolonien im Osmanischen Reich 1851-1918, Frankfurt/M.: Campus 2006, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 7/8 [15.07.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/07/10473.html


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Malte Fuhrmann: Der Traum vom deutschen Orient

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Keine kolonial- bzw. weltpolitische Frage beschäftigte die reichsdeutsche Öffentlichkeit während der Regentschaft von Kaiser Wilhelm II. so wie die 'orientalische'. Schwärmereien von einem "deutschen Orient" zogen denn auch im Laufe des 19. Jahrhunderts viele Deutsche ins Osmanische Reich. Umso erstaunlicher ist es, dass die bisherige - vor allem auf die afrikanischen Kolonien fixierte - Imperialismusforschung dem Orient als Objekt deutscher Begierde bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Die Ägäisregion, so lautete der häufig vorgetragene Vorbehalt, sei nicht von kolonialer Fremdherrschaft betroffen gewesen. Der Berliner Historiker Malte Fuhrmann tritt dieser These mit seiner Dissertationsschrift "Der Traum vom deutschen Orient" entgegen. Nach seiner Auffassung schloss der "Griff nach der Weltmacht" auch das Osmanische Reich ein.

Bezogen auf den Zeitraum 1851 bis 1918 untersucht Fuhrmann die deutsche Orientpolitik in Makedonien westlich und Westanatolien östlich des Mittelmeeres. Südosteuropa und Vorderasien waren zuvor schon häufig als geeignete Gebiete für eine deutsche Kolonisation angepriesen worden. So hatte etwa Ernst Moritz Arndt im Jahr 1803 ein vereinigtes Deutschland herbei geschworen, das im Namen Österreichs das Erbe des Osmanischen Reiches antreten und dessen europäischen Besitztümer und die Ägäisküste annektieren sollte.

Das deutsche Streben nach Hegemonie in dieser Region umfasste praktische und symbolische Strategien der Bemächtigung. Neben der Gründung von Ackerbau- und Handelskolonien wurden Bergbauunternehmen zur Erschließung und Ausbeutung der Bodenschätze initiiert. Eines der ambitioniertesten Projekte war das 1902 der Reichsregierung angetragene Mäandertalprojekt in Westanatolien, dessen Planungsgröße sich auf 15.000 qkm erstreckte und weit über ein landwirtschaftliches Siedlungsvorhaben hinausging. Natürlich lässt Fuhrmann die Bagdadbahn nicht unerwähnt, auf die er aber nur am Rande eingeht, da sie zu den gut erforschten Themenbereichen gehört. Das wichtigste Prestigeprojekt wilhelminischer "Weltpolitik" nach 1900 sollte Berlin über die schon bestehende Strecke nach Konstantinopel hinaus mit dem Orient verbinden. Das Vorhaben - ein Musterbeispiel für jenen später so genannten informellen Kolonialismus - beflügelte die Fantasien von Börsenspekulanten, wie mancher Politiker davon träumte, zwei Millionen deutsche Kolonisten entlang der Bahnstrecke anzusiedeln.

Die Errichtung von Schulen, Kirchen und Waisenhäusern zielte hingegen auf eine Evangelisierung der Bevölkerung. Den Menschen vor Ort sollte nicht zuletzt eine colonial mentality eingeimpft werden, die sie freudig die Vasallität gegenüber dem Deutschen Reich akzeptieren ließe. Die Hoffnung, über den Umweg der pénétration pacifique im Osmanischen Reich später einmal ein "Schutzgebiet" am östlichen Mittelmeer zu erhalten, ging Hand in Hand mit der mission civilisatrice, der Überzeugung, dass die Deutschen dazu berufen seien, die Bewohner der Ägäisprovinzen auf eine "höhere Kulturstufe" zu heben. Fuhrmann wählt hierfür den Begriff der "moralischen Eroberungen", womit nichtmilitärische Maßnahmen gemeint sind, die die Kampfmoral und Zuversicht der eigenen Gruppe, Herrschaft über Dritte zu erringen, stärken und gleichzeitig die Widerstandskraft der zu unterwerfenden Gruppe schwächen sollen.

Doch so sehr die Deutschen sich auch mühten, alle diese Kolonisationsprojekte blieben Feuilletondebatten, waren lediglich von kurzzeitiger Dauer oder verliefen sang- und klanglos im Sande. Letztlich scheiterten sie auch an der Konkurrenz anderer (Kolonial-)Staaten, ob es sich dabei um die Saloniker "Kolonie" handelte, die "Handelskolonie" in Smyrna, die deutschen Niederlassungen in Thasos und Palikura oder die Landwirtschaftssiedlung Biyikli. Zudem migrierte die größte Gruppe von Deutschen in andere Regionen des Osmanischen Reiches, nach Syrien und Palästina. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges musste das deutsche Kaiserreich endgültig seinen Kampf aufgeben, im Orient Fuß zu fassen. Zwar ließ der Eroberungsfeldzug Richtung Südosteuropa Ende 1915 mit der Besetzung Serbiens und Nordmakedoniens alte Träume für kurze Zeit noch einmal wahr werden. Die Errichtung eines deutschen Vasallenstaates Serbien (für den man sogar schon Herzog Johann Albrecht von Mecklenburg, den Vorsitzenden der Deutschen Kolonialgesellschaft, als zukünftigen König ins Gespräch gebracht hatte) blieb jedoch ein Planspiel.

Da die kolonialen Erfolge im Orient ausblieben, musste die deutsche Archäologie zur Kompensation herhalten, um wilhelminische Großmannssucht zu befriedigen. Die spektakuläre Ausgrabung des Pergamon-Altars erlaubte es dem Deutschen Reich, wenigstens symbolische Präsenz im Osmanischen Reich zu zeigen. Die in Kleinasien gemachten Funde - dazu gehörte zum Beispiel auch das Markttor von Milet - wurden ins neu gegründete Pergamon-Museum nach Berlin überführt. Die Reichshauptstadt konnte auf diese Weise ihren Ruf als "Spree-Athen" festigen. Im Wettstreit mit den anderen europäischen Kolonialmetropolen wie London oder Paris erlaubte es ihr der pompöse Musentempel, imperiale Größe zur Schau zu stellen. Der darwinistische Biologe Ernst Haeckel formulierte 1890 ganz in diesem Sinne, dass die "pergamenischen Alterthümer [...] uns einen Anspruch auf dauernden Colonialbesitz in jenen herrenlosen Gebieten sichern". Das Berliner Pergamon-Museum kann insofern auch als Zeugnis einer kulturellen Kolonisierung des Vorderen Orients betrachtet werden. In diesem Zusammenhang wird zu Recht die Frage aufgeworfen, ob den Museen Preußischer Kulturbesitz nicht immer noch jegliche Distanz zur kolonialen Inszenierung fehlt, die die pergamenischen 'Eroberer' der Anstalt einst verliehen haben.

Fuhrmann hat eine methodisch anspruchsvolle Studie vorgelegt, in der er auf eine postkoloniale Diskursanalyse foucaultscher Prägung zurückgreift. Er widerlegt die Legende, dass der "Drang nach Südosten" niemals im kolonialen Geiste erfolgt sei. Das Expansionsstreben der Deutschen im östlichen Mittelmeer identifiziert er als eine Variante des Semikolonialismus, auch wenn der deutsche Einfluss im Osmanischen Reich begrenzt blieb. Damit geht Fuhrmann über die herkömmliche Definition von Kolonialismus hinaus, nach der dieser sich nur als unmittelbare überseeische Territorialherrschaft verstehen lässt. Dem Autor kommt das Verdienst zu, ein weitgehend vergessenes Kapitel der deutsch-türkischen Beziehungen aufgearbeitet zu haben. Vor dem Hintergrund des demnächst vielleicht zu erwartenden Beitritts der Türkei zur Europäischen Union dürfte das Buch nicht nur für (Kolonial-)Historiker von Interesse sein.

Joachim Zeller