Rezension über:

Martha Howell / Walter Prevenier: Werkstatt des Historikers. Eine Einführung in die historischen Methoden, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, 261 S., ISBN 978-3-8252-2524-7, EUR 17,90
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Rezension von:
Georg Vogeler
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Georg Vogeler: Rezension von: Martha Howell / Walter Prevenier: Werkstatt des Historikers. Eine Einführung in die historischen Methoden, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 7/8 [15.07.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/07/11095.html


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Martha Howell / Walter Prevenier: Werkstatt des Historikers

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Der Titel des Buches von Martha Howell und Walter Prevenier erinnert an einen anderen UTB-Band, Ahasver v. Brandts "Werkzeug des Historikers" (16 Aufl. 2003). Mit diesem Buch hat es die Überzeugung gemeinsam, dass Quellenarbeit Kern historischer Forschung ist. Der vorliegende Band ist aber etwas anderes, nämlich eine Einführung in die historische Methode auf modernem Stand.

Das Buch ist mehr als ein Wegweiser zum Studium der Geschichte. Ihren eigenen Ansprüchen entsprechend stellen die beiden Autoren einleitend ihre Position als "westliche" Historiker fest und ordnen sich mit einer Skizze der Historiografiegeschichte in ihre Tradition ein, die von Herodot und Thukydides bis zur in Namenlosigkeit bleibenden Vielzahl aktueller Forschungen zur Geschlechtergeschichte, marxistischer Geschichtsforschung, neuer Kulturgeschichte usw. reicht. Die Position der Autoren zu diesen Forschungsansätzen ist das eigentliche Thema dieses Buches.

Zentrale Thema auf dem Weg zu dieser Position sind die "Quellen". Das erste und zweite Kapitel widmen sich der Vorstellung von Quellen und des Umgangs mit ihnen. Dabei hat diese Einführung einen angenehm breiten Horizont, der von den archäologischen Quellen bis zu Interviews reicht. Quellen werden dabei als "Artefakte, die von der Vergangenheit hinterlassen wurden (24)" definiert und in Relikte ("Überreste") oder Darstellungen ("Traditionen" später: "Zeugnisse") eingeteilt. Da die Begrifflichkeit "Überrest" und "Tradition" in der Theoretisierung der Geschichtswissenschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf schriftliche Zeugnisse reduziert verwendet worden ist, überzeugt es, dass sich Howell und Prevenier im Folgenden auf "Relikt" und "Zeugnis" konzentrieren, denn damit liefern sie eine quellenkritisch relevante Unterscheidung. Zusammen mit der epistemologischen Feststellung, dass beide Gattungen erst dann "Quellen" historischer Forschung sind, wenn der Historiker in ihnen Bedeutung sucht, ergibt sich eine funktionale Definition von Quellen: "Quellen sind also jene Materialien, aus denen Historiker Bedeutungen konstruieren." bzw. "Eine Quelle ist ein Objekt aus der Vergangenheit oder ein Zeugnis, das die Vergangenheit betrifft, auf das Historiker sich stützen, wenn sie ihre Beschreibung der Vergangenheit schaffen" (26), die als Kondensat des Buches gelten könnte.

Doch das Buch ist keine wissenschaftstheoretische Untersuchung, sondern eine Einführung. So folgen auf theoretische, aber immer gut mit Beispielen illustrierte Überlegungen methodische Handreichungen zur "technischen Analyse" von Quellen. Diese Abschnitte stellen zentrale Teildisziplinen der Quellenkritik vor, die teilweise dem traditionellen Kanon der Historischen Hilfswissenschaften angehören (Paläografie, Diplomatik), sich teilweise als eigene Wissenschaften etabliert haben (Archäologie) oder schon immer eigene Wissenschaften waren (Statistik). Dabei fällt auf, dass Archäologie und Statistik sehr viel Raum eingeräumt wird, aber Methoden der Analyse von amtlichem Schriftgut der Neuzeit ausgelassen werden. Auch im anschließenden Kapitel zur Quellenkritik entfernen sich Howell und Prevenier sehr schnell von den Methoden, die sich am Reliktcharakter der Quellen orientierten, und handeln die traditionellen Fragen ab nach Überlieferungsform, Entstehung und Echtheit eines Dokuments sowie nach der Stellung des Autors zum untersuchten historischen Ereignis.

In den folgenden Kapiteln wächst die Entfernung der Autoren von den Quellen weiter: Die Interpretation der Quellen in ihrem traditionellen Verständnis, in dem es nachvollziehbare Operationen gibt, allgemein akzeptierte historische Fakten zu ermitteln, wird neuen Interpretationsansätzen gegenüber gestellt, die das historische Faktum in einen erkenntnistheoretischen Kontext stellen: Sozialwissenschaftliche Theorien und aktuelle anthropologische Ansätze brechen die unreflektierten Interpretationsansätze nationalen Denkens des späten 19. Jahrhunderts ebenso auf wie die strukturalistische und poststrukturalistische Ansätze der Linguistik die Objektivität der in Sprache gewonnen und vermittelten Erkenntnis infrage stellen. Daraus ergeben sich für Howell und Prevenier die drei dominierenden "Schulen" moderner Geschichtswissenschaft: die "Annales", die "Neue Linke" und die "Neue Geschichte(n)" von in der älteren Geschichtsschreibung marginalisierten oder übersehenen sozialen Gruppierungen und die "Neue Kulturgeschichte". Nur ein zentrales Werk dieser erkenntnistheoretischen Neuorientierung der Geschichtswissenschaft - Hayden White's "Metahistory" [1] - vermisst man, auch in der Bibliografie, die immerhin etwa ein Drittel des gesamten Bandes ausmacht.

Im vorletzten Kapitel suchen Howell und Prevenier nach der "Natur historischer Erkenntnis", d. h. nach Konstanten historischer Forschung jenseits der Entwicklungen in Methode und Fragestellung. "Wandel und Kontinuität" ist eine dieser Grundfragen historischer Forschung, die zyklischen oder teleologischen Modellen ebenso wie der Suche nach der "longue durée" oder anthropologischen Unveränderlichkeiten zu Grunde liegt. Die zweite ist die Frage nach der "Kausalität", die unterschiedliche Begründungszusammenhänge im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte kannte: Religiöse Ideologien, Biologie und "Rasse" ebenso wie Macht oder Umwelt. Auch Streit zwischen den Vertretern der "Helden der Geschichte" und den Vertretern der "Historischen Gesetzmäßigkeiten" wird als Teil der Suche nach den historischen Gründen dargestellt.

Am Ende ihres Buches ergreifen Howell und Prevenier noch einmal selber das Wort und stellen ihre Vorstellung von "Geschichte heute" vor: Als prägendes Merkmal moderner Geschichtswissenschaft sehen sie die Vielfalt der Geschichten, die über die Vergangenheit erzählt werden können - ohne dabei unwissenschaftlich zu werden. Dass es angesichts der Standpunktgebundenheit von geisteswissenschaftlicher Erkenntnis nicht mehr die eine "Objektivität" geben kann, führt Howell und Prevenier dazu, Selbstreflexion zu fordern und zwar insbesondere im Umgang mit den Quellen. Konsequenterweise halten sie grundsätzlicher Kritik eines überzogenen Postmodernismus die Überzeugung entgegen, dass die Quellen der Ausgangspunkt der Suche nach Deutung bleiben, dass also das in den Quellen konstruierte Bild von der Realität der Vergangenheit das eigentliche Forschungsobjekt der Historiker ist.

Das Buch von Howell und Prevenier ist damit nicht nur ein Einführung in die Geschichtswissenschaft, sondern auch ein Plädoyer, ein Plädoyer für die - in die wissenschaftstheoretische Gegenwart geholte - historische Methode und sei auch als solches dem Leser ans Herz gelegt.


Anmerkung:

[1] Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa (Metahistory, Baltimore, London 1973 dt.) , Frankfurt a. Main 1991.

Georg Vogeler