Rezension über:

Armin Müller: Institutionelle Brüche und personelle Brücken. Werkleiter in Volkseigenen Betrieben der DDR in der Ära Ulbricht (= Wirtschafts- und Sozialhistorische Studien; Bd. 15), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, X + 384 S., ISBN 978-3-412-31005-9, EUR 44,90
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Rezension von:
Winfried Halder
Technische Universität, Dresden
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Winfried Halder: Rezension von: Armin Müller: Institutionelle Brüche und personelle Brücken. Werkleiter in Volkseigenen Betrieben der DDR in der Ära Ulbricht, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 9 [15.09.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/09/10034.html


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Armin Müller: Institutionelle Brüche und personelle Brücken

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Die Unternehmensgeschichte hat als Zweig der Wirtschafts- und Sozialgeschichte in jüngerer Zeit wesentliche neue konzeptionelle und methodische Impulse erhalten, wodurch sie sich von den lange Zeit dominierenden Betriebsgeschichten alten Stils - die nicht selten mehr der firmeneigenen PR-Strategie, denn der wissenschaftlichen Erhellung verpflichtet waren - deutlich abgesetzt hat. Als ein gelungenes Produkt dieser unternehmensgeschichtlichen Neuorientierung darf die Untersuchung von Armin Müller, ursprünglich eine von Clemens Wischermann betreute Konstanzer Dissertation, betrachtet werden.

In der Einleitung ordnet Müller sein Thema zunächst in die Forschungslage ein. Zu Recht stellt er fest, dass sich unternehmensgeschichtliche Arbeiten bislang nur vergleichsweise selten mit Betrieben in der DDR auseinandergesetzt haben. Da aber - nicht zuletzt in Anbetracht der hohen Erwerbsquote beider Geschlechter in der DDR - die volkseigenen Betriebe für die Masse der Bevölkerung einen wesentlichen Teil ihrer Lebenswelt ausmachten, handelt es sich um eine ausgesprochen wichtige und sinnvolle Ergänzung zu bisherigen Forschungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des zweiten deutschen Staates. Müller geht exemplarisch vor: Er hat insgesamt fünf Industriebetriebe in Leipzig und Jena (darunter als sicherlich bekanntestes Unternehmen Carl Zeiss) zur näheren Betrachtung ausgewählt. Dass das entscheidende Auswahlkriterium dabei die archivalische Überlieferungslage war, leuchtet ein. Die Untersuchung basiert auf umfangreichem, überwiegend ehemals firmeninternem beziehungsweise in den staatlichen Wirtschaftslenkungsorganen entstandenem Schriftgut, das vor allem in verschiedenen sächsischen bzw. thüringischen Archiven ausgewertet wurde.

Im Mittelpunkt des Interesses stehen für die Beispiel-Betriebe die "historisch-institutionellen Bedingungen von Weitergabe- und Nachfolgeprozessen in ihren Führungsfunktionen" (11). Insofern handelt es sich nicht zuletzt auch um einen Beitrag zur Elitenforschung, denn auf die verantwortlichen Entscheidungsträger der einzelnen Betriebe und die Voraussetzungen unter denen sie mit ihren Funktionen betraut und gegebenenfalls von diesen wieder entbunden wurden, richtet sich das Augenmerk der Untersuchung. Diese setzt, anders als der Titel zunächst vermuten lässt, zeitlich bereits vor der Gründung der DDR an. Dies ist schlüssig, denn entscheidende Weichenstellungen hinsichtlich der Änderung der industriellen Eigentumsstruktur und der damit verbundene Wandel in Bezug auf die betrieblichen Verfügungsrechte, fanden in der Sowjetischen Besatzungszone bereits lange vor 1949 statt.

In einem zweiten Kapitel setzt sich der Autor ausführlich und differenziert mit Überlegungen auseinander, die darum kreisen, ausgehend vom Modell der "Neuen Institutionenökonomik" die in jüngerer Zeit häufig als Gegensatz betrachteten Ansätze der Kulturgeschichte und der historischen Sozialwissenschaft miteinander zu verbinden. Generell fällt in Müllers Arbeit das - auch für Dissertationen keineswegs selbstverständliche - hohe Niveau der theoretischen Reflexion auf.

Nach einigen Präliminarien zur Entstehung des volkseigenen Sektors in der Wirtschaft der SBZ/DDR und einer knappen Skizze zur Geschichte der ausgewählten Unternehmen bis 1945 beginnt im vierten Kapitel die konkrete Entfaltung der Fallbeispiele. Es geht hier um die sich aus der in allen Fällen bis 1948 vollzogenen Verstaatlichung jeweils ergebenden Folgen für die Betriebsleitung bis etwa zur Mitte der 1950er-Jahre. Die wesentliche Erkenntnis besteht darin, dass für die Generation der "Transformationsleiter" - also derjenigen Inhaber von betrieblichen Entscheidungspositionen, die im Kontext der Enteignung bestellt wurden - im Allgemeinen gilt, dass für ihre "Beförderung" die Mitwirkung innerbetrieblicher Akteure und zumeist auch eine bereits über einen längeren Zeitraum zuvor erworbene innerbetriebliche Sozialisation mindestens ebenso bedeutsam waren wie die Vorstellungen der beteiligten staatlichen Wirtschaftslenkungsorgane und Parteistellen. Die "Transformationsleiter" gingen mithin in der Regel aus den betroffenen Betrieben selbst hervor, und sie hatten oft bereits zuvor (mittlere) Leitungsfunktionen wahrgenommen. Ihre "Parteitreue" war meist ein Faktor für ihre Bestellung, aber keineswegs der ausschlaggebende.

Die von Müller herausgearbeitete Einsicht, dass das SED-Regime in der ersten Phase seiner Existenz in der "Kaderpolitik" Zugeständnisse machen musste, die dem schlichten Mangel an Personen geschuldet war, die alle ideologisch notwendig erscheinenden Qualifikationen vorweisen konnten, und dass dementsprechend manche personelle Kontinuität geduldet wurde, ist nicht gänzlich neu und - recht besehen - auch nicht unbedingt überraschend. Der Autor belegt hier allerdings in empirisch abgesicherter Form für einen gerade aus kommunistischer Sicht entscheidenden gesellschaftlichen Bereich, dass die reale "Durchherrschung" der Gesellschaft in einem als totalitär gekennzeichneten Regime sektoral differenziert und vor allem nicht unabhängig von zeitlich bestimmbaren Durchsetzungsetappen zu betrachten ist. Daher leistet die vorliegende Arbeit auch einen Beitrag zur genaueren Analyse der SED-Herrschaft.

Der zweite und letzte Durchgang der betrieblichen Fallbeispiele beschäftigt sich mit der Ablösung der "Transformationsleiter" durch die im Schnitt weitaus jüngere Generation der "studierten Manager". Hier zeigt Müller, dass mit dem Generationswechsel politische Aspekte bei der Leiterauswahl stärker in den Vordergrund rückten, dass aber zugleich auch eine akademische Ausbildung für den Leiternachwuchs zur Regel wurde. Die für die "Transformationsleiter" so wichtige innerbetriebliche Prägung trat demgegenüber zurück. Im gewissen Sinne darf man wohl diejenigen Betriebsleiter, die zumeist in den 1960er-Jahren installiert wurden, als erste "echte" DDR-Elite ansehen, da ihre Sozialisation altersbedingt bereits wesentlich im Zeichen der SED-Herrschaft stattgefunden hatte. Müller formuliert einleuchtend, dass diese neue Generation im Unterschied zur zeitlich vorangehenden Kohorte der "Transformationsleiter" "nicht die Brücken zur eigenen Unternehmenstradition, sondern vornehmlich den Bruch mit den alten Eliten" verkörperte (349).

Auf den ersten Blick erscheint das Untersuchungsfeld Armin Müllers recht kleinräumig. Aber es handelt sich eben nicht um eine traditionelle Betriebsgeschichte, sondern um einen theoretisch überzeugend fundierten, in seinen Ergebnissen weit über die Ebene der exemplarisch untersuchten Betriebe hinausreichenden Beitrag zur Sozial- wie auch zur Herrschaftsgeschichte der DDR. Eine ganze Reihe von Abbildungen und Grafiken macht die Studie darüber hinaus im wörtlichen Sinne anschaulich. Quantitativ mag die historische DDR-Forschung derzeit im Rückgang begriffen sein, qualitativ hat sie durch Müllers Arbeit sicher eine Bereicherung erfahren.

Winfried Halder