Carlos Watzka: Vom Hospital zum Krankenhaus. Zum Umgang mit psychisch und somatisch Kranken im frühneuzeitlichen Europa (= Menschen und Kulturen. Beihefte zum Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte; Bd. 1), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005, XIII + 385 S., ISBN 978-3-412-25205-2, EUR 42,90
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Die zu besprechende Arbeit befasst sich mit dem Hospital der Barmherzigen Brüder in Graz von seiner Gründung im Jahr 1615 bis ins frühe 18. Jahrhundert. Der Anspruch reicht erheblich weiter: "Vor allem soll gezeigt werden, dass bereits im 16. und 17. Jh. im weiterhin katholisch geprägten Teil Europas neu gegründete Ordensgemeinschaften [...] ein weitverzweigtes System von Krankenhäusern [Hervorhebung im Original] im modernen Sinn etablierten, und dass 'Irre' im Rahmen jener Anstalten meist durchaus als 'Kranke' und nicht bloß als 'Verbrecher', 'Asoziale' oder 'unheilbare Narren' behandelt wurden." (1)
Watzka bezieht sich auf zwei Debatten der Medizinhistoriografie: Die Frage um den Status des frühneuzeitlichen Hospitals respektive den historischen Charakter des Übergangs von der multifunktionellen Verwahranstalt zur spezialisierten therapeutischen Einrichtung für heilbare Kranke zum einen, sowie zum anderen die Debatte über die Vor- und/oder Frühgeschichte der Geschichte von Psychiatrie und Psychologie. Bezugspunkt sind die psychiatriekritischen Arbeiten Michel Foucaults, während eine Auseinandersetzung mit dessen "Geburt der Klinik" (dt. 1973) sowie der darauf aufbauenden Forschungstradition zur Krankenhausgeschichte unterbleibt.
Watzka distanziert sich von allen Versuchungen retrospektiver Diagnostik. "Irre" wird mit "psychisch krank" gleichgesetzt als "eine von den Betroffenen selbst nicht zureichend kontrollierbare, über einen längeren Zeitraum auftretende, sozial werthaft negativ besetzte Erscheinung defizitärer Autonomie, die von der sozialen Umwelt primär anhand devianten Sozialverhaltens, erst sekundär aber - vielleicht - anhand körperlich-materieller Abnormitäten wahrgenommen wird." (11) Sodann wird die breite therapeutische Palette im Umgang mit "psychisch" Kranken der Vormoderne aufgefächert, die sich indes von den Therapeutika "somatisch" Kranker nicht spezifisch unterscheidet.
Ein Umriss der Geschichte des abendländischen Hospitals erfolgt gründlich. Die Unterbringung "psychisch" Kranker führte bis ins 18. Jahrhundert jedenfalls nicht üblicherweise zu miserablen Lebensbedingungen. Die Hospitäler der Barmherzigen Brüder sahen nicht nur tägliche Visiten durch Ärzte und Chirurgen vor, sondern legten auch großen Wert auf die pflegerische Ausbildung der Brüder. Dass in den Ordensspitälern in Prag und Graz seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts "psychisch" Kranke in allgemeinen Krankenräumlichkeiten belegt werden können, vermag der Rezensent allerdings nicht "als eine medizin- und sozialhistorische Überraschung [zu] betrachten" (164). Die Interpretation der "Nuevo Selva di Cirurgia" (Frankfurt 1625) des Barmherzigen Bruders und Arztes Gabriel de Ferrara gerät zum Teil wenig überzeugend: "Bei seinen Ratschlägen verliert Ferrara schließlich auch den Aspekt der Kontingenz menschlicher Existenz und menschlichen Handelns aus den Augen; für den Fall der Einhaltung seiner Ratschläge verspricht er 'guten Erfolg mit der Hilfe Gottes.'" (175)
Mit Kapitel V beginnt die Spezialstudie über das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Graz. Sie basiert im Wesentlichen auf Krankenprotokollbüchern 1684-1711 sowie 1726-1741. Von herausragender Bedeutung ist die quantitative Auswertung der Krankenprotokolle 1684-1711, von denen eine repräsentative Stichprobe von 5 % (299 von 5.998) der Fälle bearbeitet wurde. Bei einer Mortalität von 10 % verblieben mehr als 75 % der Hospitaliten kürzer als vier Wochen im Spital. Auch die Auswertung der Altersangaben ergibt ein Bild, das bislang eher für das (frühe) 19. Jahrhundert vertraut war. Mehr als wiederum 75 % der Behandelten gehört in die Altersgruppe der 16-35jährigen, nur 2% dagegen in die Gruppe der über 55-jährigen. Dienstpersonal und Handwerker stellten ganz überwiegend die Klientel. Die Grazer Handwerkszünfte hatten mit den Barmherzigen Brüdern Verträge geschlossen, die eine verbilligte Aufnahme der Gesellen im Spital vorsahen. Die Verträge scheinen in Vielem dem von Eva Brinkschulte [1] analysierten Würzburger Gesellen-Institut des späten 18. Jahrhunderts zu ähneln.
Der zweite Teil der Analyse bezieht sich auf die "psychisch" Kranken. Hier ist das Gesamt von 187 Fällen (also 3,1% von 5.998) erhoben worden. Die ambitionierte Untersuchung der Semantik des Irreseins aus Krankenprotokollen ist vorbildlich, gerade weil das Ergebnis auf den ersten Blick wenig spektakulär scheint: Die vergleichsweise geringfügigen Verschiebungen sind wohl zu einem erheblichen Teil auf "bloß wechselnde Usancen der Protokollsprache" (292) zurückzuführen. Die "psychisch" Kranken waren älter als die Gesamtgruppe und umfassten etwa doppelt so viele Angehörige der Altersgruppe 36-55 Jahre. Auffällig auch, dass nur etwa die Hälfte der Unterschicht, etwa ein Viertel der unteren Mittel- und knapp ein Fünftel der oberen Mittel- und Oberschicht zuzurechnen sind. Sie kamen ganz auffällig häufig vom Land und betreffen Bauern aus der Weststeiermark prägnant häufiger als Handwerker und Dienstboten aus Graz. 115 der 183 aussagekräftigen Fälle waren im allgemeinen Krankensaal, 68 gesondert, davon wiederum nur 12 im "Narrenzimmer" untergebracht. Insgesamt ergibt sich für die "psychisch" Kranken bei einer Mortalität von unter 5 % eine vergleichsweise kurze Aufenthaltsdauer von durchschnittlich 40 Tagen - die Aufnahme als "rasend" oder "tobend" qualifizierter Menschen wurde unter Umständen von den Fratres abgelehnt (273 f.). Nach spätestens 10 Wochen erfolgte die Entlassung im Zweifel "unverändert"; eine Strategie, um dauerhaft belegte Betten nach Möglichkeit zu vermeiden.
Die Arbeit legt wichtige Ergebnisse vor, die mit denjenigen der quantitativen Analyse durchaus nicht erschöpft sind. Aus diesen aus Krankenprotokollen der Jahre 1684-1711 gewonnenen Erkenntnissen zu schließen, dass "im Bereich der Unterbringungsorganisationen therapeutische Ansätze auf fachmedizinischer Basis [Hervorhebung im Original] bereits im 16. und 17. Jh. eine ungleich größere Bedeutung gehabt haben, als bislang erkannt wurde" (320), scheint dem Rezensenten indes nicht nur chronologisch wenig plausibel. In zentralen Aspekten in eine ähnliche Richtung zielende Arbeiten zur Geschichte von Hospital und Krankenversorgung im 15.-17. Jh. - genannt seien hier nur die Arbeiten des ansonsten reichlich zitierten Robert Jütte [2] und Ulrich Knefelkamps [3] - hätten durchaus konsultiert werden sollen, bevor eine im Ton zuweilen unangenehme Pauschalschelte der "bisherigen Medizinhistoriographie" (321 f.) betrieben wird.
Watzkas Studie zur Grazer Krankenanstalt der Barmherzigen Brüder ist ein wichtiger Beitrag zur Hospitalgeschichte um 1700, deren auf einer faszinierenden Quellenbasis sorgfältig erarbeiteten Ergebnisse entsprechend dem Forschungstrend der letzten Jahre zu einer weiteren Rehabilitierung der therapeutischen Option des frühneuzeitlichen Hospitals beitragen. Dies gleichzeitig an - nach heutigen Begriffen - "somatisch" und "psychisch" Kranken getan und damit die bislang unbefriedigend isolierten Debatten um die "allgemeine" Hospitalgeschichte sowie die frühe Psychiatriegeschichte zusammengeführt zu haben, ist das besondere Verdienst von "Vom Hospital zum Krankenhaus".
Anmerkungen:
[1] Eva Brinkschulte: Krankenhaus und Krankenkassen. Soziale und ökonomische Faktoren der Entstehung des modernen Krankenhauses im frühen 19. Jahrhundert, die Beispiele Würzburg und Bamberg (= Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Bd. 80), Husum 1998.
[2] Robert Jütte: Obrigkeitliche Armenfürsorge in deutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit. Städtisches Armenwesen in Frankfurt am Main und Köln (= Kölner historische Abhandlungen; Bd. 31), Köln 1984.
[3] Ulrich Knefelkamp: Das Heilig-Geist-Spital in Nürnberg vom 14. - 17. Jahrhundert: Geschichte, Struktur, Alltag (= Nürnberger Forschungen; Bd. 26), Nürnberg 1989.
Fritz Dross