Lioba Theis: Flankenräume im mittelbyzantinischen Kirchenbau. Zur Befundsicherung, Rekonstruktion und Bedeutung einer verschwundenen architektonischen Form in Konstantinopel (= Spätantike - Frühes Christentum - Byzanz. Kunst im ersten Jahrtausend. Reihe B: Studien und Perspektiven; Bd. 18), Wiesbaden: Reichert Verlag 2005, VIII + 216 S., 143 Tafeln, ISBN 978-3-89500-359-2, EUR 98,00
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Wer Istanbul kennt, weiß um die Schwierigkeiten, die sich einer wissenschaftlichen Untersuchung der byzantinischen Sakralarchitektur Konstantinopels entgegenstellen. Bürokratische Hürden machen offizielle Anträge für eine regelrechte Bauuntersuchung nahezu aussichtslos. Noch schwerer wiegt jedoch die Zuständigkeit der Vakιflar, die sich als religiöse Stiftungen für die Pflege der in Moscheen umgewidmeten Kirchen zwar durchaus verantwortlich zeigen, dabei aber ein Gespür für bauhistorische Zusammenhänge vermissen lassen. Derzeit ist die Generalsanierung der justinianischen Sergios- und Bacchoskirche als krasser Fall der Verweigerung zu beklagen. Die einmalige Gelegenheit für die Dokumentation des Innenraums verstreicht, weil internationale Kooperationsangebote ausgeschlagen wurden und die Baustelle auch für ein Fachpublikum geschlossen bleibt. Für Wissenschaft und Denkmalpflege ist ein derartiges Verhalten skandalös, das weder der Bedeutung des Bauwerks noch der weltoffenen Atmosphäre Istanbuls würdig ist. Aber auch andernorts fehlen Möglichkeiten für dringend erforderliche Nachuntersuchungen und sind ein wesentlicher Grund, warum die Forschung zur byzantinischen Architektur Konstantinopels stellenweise stagniert. Für ein Gesamtbild der mittelbyzantinischen Baudenkmäler Konstantinopels ist man daher - trotz einiger vorzüglicher Baumonografien - immer noch auf die bald einhundert Jahre alten Publikationen von van Millingen und Ebersolt - Thiers angewiesen. [1]
Wer sich wie Lioba Theis in dieser Situation dennoch auf die Suche nach einer verschwundenen architektonischen Form begibt, benötigt mehr als nur Enthusiasmus. Es bedarf nicht nur der Gabe, unscheinbare Details als Indizien für die Baugeschichte auszuwerten, sondern vor allem des persönlichen Engagements, um mit dem nötigen Fingerspitzengefühl das Vertrauen einer Moscheegemeinde zu gewinnen, wenn sich - wie im Fall der Atik Mustafa Paşa Camii - durch Zufall die Chance für eine baubegleitende Dokumentation ergibt. Theis erfüllte diese Voraussetzungen und konnte eine Reihe von Detailbeobachtungen zu einem revidierten Bild der mittelbyzantinischen Kirchenarchitektur Konstantinopels zusammensetzen. Dabei war schon vorher bekannt, dass Annexbauten, die den Kernraum einer Kirche flankieren, in Konstantinopel bereits in mittelbyzantinischer Zeit die Regel waren und später meist vollständig verschwanden, weil sie nach dem Umbau in eine Moschee nicht mehr benötigt wurden. Was zuletzt allerdings fehlte, war eine systematische und aktualisierte Untersuchung, die sich nicht nur mit der Rekonstruktion und Funktion dieser vernachlässigten Raumform beschäftigt, sondern auch die zentrale kunsthistorische Frage behandelt, welche Bedeutung sie für das ursprüngliche Konzept und das Erscheinungsbild einer mittelbyzantinischen Kirche hatte. [2]
Die in Bonn als Habilitationsschrift eingereichte Arbeit besticht mit ihren rund 190 Seiten durch ein erfreulich handliches Format und ist klar in drei Abschnitte gegliedert: Auf die Einleitung mit der Begriffsklärung, einem Forschungsüberblick und den Fragestellungen (1-28) folgen im Hauptteil über zehn ausgewählte mittelbyzantinische Kirchenbauten des 9. bis 12. Jahrhunderts (29-148). Im dritten Abschnitt werden die Folgerungen aus den Baubeschreibungen gezogen, die Fragen nach der Funktion der Flankenräume sowie formale Aspekte und mögliche Planungsprinzipien betreffen. Schließlich wird die Bedeutung der Flankenbauten für die mittel- und spätbyzantinische Architektur gewürdigt (149-184). Der umfangreiche Tafelteil dient der detaillierten Dokumentation und wird durch eine Reihe eigenhändiger Zeichnungen wesentlich bereichert.
Der chronologisch angelegte Hauptteil über den Baubefund der einzelnen Kirchen beginnt mit der 880 geweihten Nea Ekklesia Basilios I. (30-39) und endet mit der Kalenderhane Camii im späten 12. Jahrhundert (134-147). Von den zehn Bauwerken hat lediglich die Bodrum Camii nachweislich keine Flankenräume besessen (65-73), während sie für die Übrigen durch Ausbruchspuren oder wie im Fall der schon lange zerstörten Nea durch Beschreibungen mit Sicherheit nachgewiesen werden können. Den jeweiligen Einträgen ist ein gleich bleibendes Schema zugrunde gelegt: Zunächst gibt Theis durch Angaben zur Lage und zum möglichen Patrozinium sowie durch eine generelle Baubeschreibung eine allgemeine Vorstellung von dem Bau, bevor sie ausführlich dessen Forschungsgeschichte behandelt. Ihre eigene Leistung kommt im jeweiligen Abschnitt über den besonderen Baubefund und den daraus resultierenden Folgerungen zum Tragen.
Weitreichend sind ihre Ergebnisse vor allem für die Atik Mustafa Paşa Camii und die Gül Camii. Im Fall der Atik hatte Theis die seltene Möglichkeit zu einer gründlichen Bauuntersuchung, als während einer Renovierung der Putz von den Mauern abgeschlagen war (40-55). Der Befund, der in einer Reihe steingerechter Aufnahmen vorgelegt wird, erbrachte den sicheren Nachweis, dass die vier Eckkompartimente Oberräume besaßen. Da diese vom Naos aus nicht erreichbar waren, erfolgte ein Zugang von außen, der die Rekonstruktion von emporenartig begehbaren Flankenräumen erfordert. Mit der zurückhaltenden Gliederung des Außenbaus und den Charakteristika des Mauerwerks begründet Theis ihren Datierungsvorschlag noch in das 9. Jahrhundert, womit die Atik in den Rang des ältesten Kirchenbaus erhoben wird, der sich aus dem mittelbyzantinischen Konstantinopel erhalten hat. Die Nähe zum Blachernenpalast und die Fragmente einer reichen Bauausstattung, die aus der osmanischen Aufschüttung des Bodens geborgen wurden, sind meines Erachtens aber keine ausreichenden Gründe, um wie Theis von einem kaiserlichen Stifter der anonymen Kirche auszugehen. Bleibt zu hoffen, dass die angekündigte Publikation der Kleinfunde - es handelt sich um Wandmosaiken, Inkrustationsplatten und keramoplastischen Dekor - nicht mehr lange auf sich warten lässt.
Die Folgerungen aus der Befundsicherung hat Theis methodisch in der Tradition einer kunsthistorischen Hermeneutik als Dreischritt angelegt, der sich von Fragen nach der Funktion und Form der Flankenräumen bis zu den auf wenige Grundbegriffe reduzierten Planungsprinzipien des mittelbyzantinischen Kirchenbaus steigert. Bezüglich der Funktion kommt Theis zu dem Schluss, dass die Flankenräume keine klar definierte Nutzung für nur einen Zweck erkennen ließen, sondern als "Vielzweckräume" konzipiert waren (149-158). Sie dienten in Verbindung mit dem Narthex als Wandelhalle und Portikus, erfüllten aber eine spezifischere Funktion, wenn sie durch Apsiden und eine entsprechende Ausmalung als Seitenkapellen ausgestattet waren (so für Fenari Isa, Kilise, Gül, Odalar, Kalenderhane und wahrscheinlich auch die Molla Zeyrek Camii nachgewiesen). Für einen beachtlichen Teil der Bauten ist von einer zweigeschossigen Anlage der Flankenbauten auszugehen (Nea Ekklesia, Atik Mustafa Paşa, Fenari Isa, Eski Imaret und Kalenderhane Camii), wobei im Einzelfall offen bleiben muss, ob die begehbaren Oberräume lediglich als Dachterrasse oder als Vollgeschoss ausgebaut waren. Unabhängig von ihrer Funktion waren die Flankenräume ihrer Form nach vereinheitlichte Jochreihen, deren in der Regel dreigliedrige Einteilung an der Grundstruktur der Kernräume ausgerichtet war (159-168). Von einem standardisierten Raumtyp kann jedoch keine Rede sein, weil die Anlagen je nach Erfordernis in unterschiedlichem Grad nach innen oder außen geöffnet bzw. geschlossen waren. Die symmetrische Struktur ist für Theis eins der maßgeblichen Planungsprinzipien im mittelbyzantinischen Kirchenbau, die sich von asymmetrischen Lösungen der Palaiologenzeit unterscheidet (168-180). Der dreistufigen Gliederung von Kernraum und Flankenbauten entspricht auf vertikaler Achse die "Pyramidenform" eines hierarchischen Bauprinzips, das mit der Ausmalung zusammen einer theologischen Gesamtkonzeption folgt. [3] Ihr unterliegt auch die Lichtführung, der Theis ein eigenes Unterkapitel widmet (171-174): Die ursprüngliche Wirkung von unterschiedlich intensiven Helligkeitszonen wurde durch die Flankenräume gesteigert, da sie für ein diffuses Streulicht sorgten, das die untere Raumzone kontrastreich von den hellen oberen Raumteilen absetzte. Die Arbeit endet im letzten Abschnitt mit einem Ausblick auf die 'Wirkungsgeschichte' byzantinischer Raumformen und ihrer Bedeutung für den osmanischen Moscheebau (181-183).
Um das Verdienst von Theis abschließend zusammenzufassen, ist besonders auf ihre Leistung im Bereich der Befundsicherung hinzuweisen. Einerseits wird man nach der Lektüre einen Großteil der mittelbyzantinischen Kirchen Konstantinopels nur noch als stark amputierte Baukörper wahrnehmen können. Andererseits ist Theis in der Auswertung der wenigen erhaltenen Indizien so konsequent, dass sich zumindest auf dem Weg der Rekonstruktion eine Vorstellung von dem einstigen Erscheinungsbild und der subtilen Raumwirkung der Bauwerke zurückgewinnen lässt. Unter den wenigen fundierten Publikationen über mittel- und spätbyzantinische Sakralarchitektur gehört ihre Arbeit zu den brauchbaren und anregenden, der man eine ihr gebührende Beachtung wünscht.
Anmerkungen:
[1] A. van Millingen: Byzantine Churches in Constantinople. Their History and Architecture, London 1912; J. Ebersolt / A. Thiers: Les églises de Constantinople, Paris 1913; s. auch den Überblick von M. Restle in: Reallexikon zur byzantinischen Kunstgeschichte IV (1992) 484-529 s. v. Konstantinopel.
[2] Dazu inzwischen auch E. K. Chatzitryphonos: Le Peristoon (galerie perimetrale) dans l'architecture ecclésiastique dans l'architecture de la periode byzantine tardive, Thessaloniki 2004 (griechisch).
[3] Immer noch aktuell O. Demus: Byzantine Mosaic Decoration. Aspects of Monumental Art in Byzantium, London 1948.
Stephan Westphalen