Claudia Fröhlich: Wider die Tabuisierung des Ungehorsams. Fritz Bauers Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung von NS-Verbrechen (= Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts; 13), Frankfurt/M.: Campus 2006, 430 S., ISBN 978-3-593-37874-9, EUR 39,90
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Das von Claudia Fröhlich vorgelegte Buch ist die überarbeitete Fassung ihrer Dissertation, die 2004 am Otto-Suhr-Institut in Berlin eingereicht wurde. Die Arbeit ist in drei Großkapitel gegliedert. Das Erste befasst sich mit dem Remer-Prozeß von 1952 in Braunschweig. Der damalige Braunschweiger Generalstaatsanwalt Fritz Bauer hatte das Vorstandsmitglied der rechtsextremen Sozialistischen Reichspartei Otto Ernst Remer wegen dessen beleidigender Äußerungen über den Widerstand des 20. Juli 1944 zur Rechenschaft gezogen, wobei Remer wegen übler Nachrede in Tateinheit mit Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener zu drei Monaten Haft verurteilt wurde.
Das Verfahren war insofern bedeutsam, als dadurch erstmals der Widerstand gegen das NS-Unrechtsregime rehabilitiert und juristisch legitimiert wurde. Fritz Bauer war es hierbei gelungen, das Recht auf Widerstand jedes mündigen Bürgers gegen eine Diktatur eindrucksvoll zu begründen und so eine Neubewertung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Erinnerungskultur einzuleiten.
Das zweite Kapitel erläutert vertiefend Fritz Bauers politisches Denken und seine Auffassungen zum Widerstand, indem zahlreiche seiner Veröffentlichungen analysiert werden. Bauers Haltung wird vor allem in Abgrenzung zu den Auffassungen des Bundesgerichtshofs-Präsidenten von 1950 bis 1960, Hermann Weinkauff, deutlich gemacht. Weinkauffs Überlegungen lag ein exklusives Verständnis von Widerstand zu Grunde, wonach lediglich eine gesellschaftliche Elite potenziell zum Widerstand berechtigt sei.
Das dritte Kapitel befasst sich mit einem Prozess und einem Ermittlungsverfahren, die Fritz Bauer als hessischer Generalstaatsanwalt gegen Ärzte und Juristen führte, nämlich dem Verfahren gegen Werner Heyde u. a. (Frankfurt (GStA) Js 17/59 = Ks 2/63) und gegen Franz Schlegelberger u. a. (Frankfurt (GStA) Js 20/63). Hier will die Autorin zeigen, dass Bauer den Widerstandsbegriff nun deutlich weiter fasste, indem er nicht nur das Recht, sondern vielmehr die Pflicht des Bürgers auf Widerstand gegenüber dem Nationalsozialismus postulierte.
Die Autorin benutzte für ihre Studie im Wesentlichen die Publikationen von Fritz Bauer, Prozessunterlagen im Staatsarchiv Wolfenbüttel und im Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Personalakten aus dem niedersächsischen und dem hessischen Justizministerium und wertete zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften aus.
Ohne Zweifel war Fritz Bauer einer der bedeutendsten Generalstaatsanwälte in der bundesdeutschen Justiz. Eine Studie zu seinem Widerstandsbegriff wäre also grundsätzlich zu begrüßen. Allerdings ist Bauers Wirken bereits vor fünf Jahren in einer Dissertation eingehend gewürdigt worden. (Matthias Meusch: Von der Diktatur zur Demokratie. Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Hessen (1956-1968), Wiesbaden 2001). Claudia Fröhlich ist sicher bewusst gewesen, dass sie es nach der wegweisenden Studie von Matthias Meusch schwer haben würde, fundamental Neues zu bieten. Unglücklicherweise ist ihr dies auch durch die engere Fokussierung auf den Widerstandsbegriff Fritz Bauers nicht gelungen. Die Schriften Fritz Bauers wurden gewissenhaft durchforstet, ohne aber über Meuschs Arbeit wesentlich hinausführen zu können. Der Verfahrensverlauf in den Fällen Remer, Heyde und Schlegelberger wird breit ausgewalzt, wesentliche Teile von Anklagen und Urteilen minuziös referiert. Das könnte theoretisch interessant sein, die Verfahren sind aber mittlerweile zu bekannt und zu häufig in der Literatur geschildert worden, als dass man hier noch mit Überraschungen rechnen könnte. Seitenweise wird der Leser stattdessen mit nur partiell Relevantem traktiert (z. B. langatmigen Ausführungen über Albert Camus' "Die Pest", 242-251). Das wirkt sehr bemüht und der Aufwand steht in keinem Verhältnis zu dem Erkenntnisgewinn, sondern lässt einen vielfach ratlos zurück. Erschwert wird die Lektüre auch durch den Jargon, dessen sich die Autorin befleißigt. Als Beispiel diene hier lediglich folgender Satz: "Fritz Bauer konnte eine der historischen Analyse des NS-Staates als einem Funktionszusammenhang von politischer Führung, Eliten und Gesellschaft adäquate strafrechtliche Verfolgung der Tatbeiträge der funktionellen Elite im NS-Staat nicht durchsetzen." (371)
Die Frage ist, ob die Analyse von Strafverfahren (zwei Prozessen und einer Ermittlung, die erst nach Bauers Tod abgeschlossen wurde) die richtige Methode darstellt, um Bauers rechtsphilosophischen Überlegungen nachspüren zu wollen. Für die Prozesse spielte das Strafgesetzbuch einfach die bedeutendere Rolle, persönliche Motive oder Überlegungen der (General-)Staatsanwaltschaft haben zwangsläufig in einem Strafverfahren herzlich wenig zu suchen. Es ist anzunehmen, dass Fritz Bauer sein umfangreiches publizistisches Wirken begann, weil er um die Grenzen wusste, die das Strafgesetzbuch der Strafverfolgung von NS-Verbrechern auferlegte. Inwiefern er als Generalstaatsanwalt (und damit Leiter einer großen Behörde, die keineswegs nur nationalsozialistische Verbrechen, sondern eben auch die ganz gewöhnliche Alltagskriminalität zu verfolgen und die Dienstaufsicht über die Staatsanwaltschaften zu führen hatte) die Anklagen selbst verfasst und nicht nur den Duktus vorgegeben und schließlich unterschrieben hat, steht auf einem anderen Blatt und wird von der Autorin nicht thematisiert.
Auch die Auswahl der Verfahren ist nicht besonders glücklich. Anstatt Ärzte und Juristen hätten sich auch andere Täter angeboten, denn Fritz Bauer forschte auch die Rolle leitender Angehörige des SS-Ahnenerbes (siehe Frankfurt (GStA) Js 8/66 = 4 Ks 1/70) oder des Auswärtigen Amtes (siehe Frankfurt (GStA) Js 8/58 = Ks 2/67) aus, die ebenfalls unter den Elitenbegriff der Autorin fallen würden.
Und wenn es schon Juristen sein sollten, so hätten zahlreiche andere Verfahren untersucht werden können. Neben dem bekannten Schlegelberger-Verfahren leitete Bauer zahlreiche weitere Ermittlungen gegen Juristen ein, darunter eines gegen einen bekannten Frankfurter Strafverteidiger, der in zahlreichen Prozessen zu nationalsozialistischen Gewaltverbrechen Angeklagte vertreten hatte und seinerseits während des 'Dritten Reiches' als Angehöriger der Staatsanwaltschaft beim Sondergericht Bromberg an Todesurteilen gemäß Polenstrafrechtsverordnung beteiligt war (siehe Frankfurt (GStA) Js 135/60). Ein anderes von Bauer initiiertes Verfahren richtete sich sogar gegen den Oberstaatsanwalt und Leiter der Staatsanwaltschaft Limburg, der als Kriegsgerichtsrat und Zugführer einer Kompanie des Infanterie-Regiments 119 die Erschießung zweier russischer Jugendlicher westlich Orel im November 1941 befohlen haben soll (siehe Frankfurt (GStA) Js 17/65). Weitere Untersuchungen der Generalstaatsanwaltschaft betrafen frühere Angehörige des Volksgerichtshofs (Js 18/60), des Sondergerichts Breslau (Js 2/60), des Sondergerichts Brünn (Js 6/61), des Sondergerichts Zichenau (Js 9/59), des Sondergerichts Frankfurt (Js 97/60) und des Landgerichts Frankfurt (Js 59/60). Wenig später stellte Bauer die Nachforschungen allerdings sämtlich ein; er handelte damit nicht anders als seine Kollegen in anderen Generalstaatsanwaltschaften, die zum gleichen Zeitpunkt die laufenden Ermittlungen gegen NS-Juristen ohne Anklageerhebung beendeten. Ein Beweis für die "Krähenjustiz" (Hubert Rottleuthner) oder ein Zeichen für den Pragmatismus Bauers, der wusste, dass er innerhalb des Rahmens des Strafgesetzbuchs keine Verurteilung wegen Rechtsbeugung erreichen konnte? Hier hätte die Autorin reiches Studienmaterial gefunden, allerdings dabei die ausgetretenen Pfade verlassen müssen.
Ein Anliegen der Arbeit ist es, "die Debatten um den Widerstand in einer biografischen Perspektive [zu] untersuch[en]" (26). Hier noch eine Überlegung zum Schluss: Es scheint mir nicht ganz zufällig, dass so viele bedeutende Vertreter des deutschen Widerstandes - ganz unterschiedlicher Prägung - aus Schwaben stammten: Georg Elser, die Geschwister Scholl oder Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Sie alle haben mit ihrem Leben bezahlt, was Fritz Bauer für ein fundamentales Menschenrecht hielt: den Widerstand jedes einzelnen Bürgers gegen einen diktatorischen Staat. Es ist daher vielleicht nicht ganz belanglos, dass der Widerstand für den gebürtigen Stuttgarter Fritz Bauer eine so wichtige Rolle in seinem Lebenswerk gespielt hat.
Edith Raim