Rezension über:

Annerose Menninger: Genuss im kulturellen Wandel. Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade in Europa (16. - 19. Jahrhundert) (= Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte; Nr. 102), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, 488 S., ISBN 978-3-515-08624-0, EUR 68,00
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Rezension von:
Norbert Ortmayr
Fachbereich für Geschichte, Universität Salzburg
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Norbert Ortmayr: Rezension von: Annerose Menninger: Genuss im kulturellen Wandel. Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade in Europa (16. - 19. Jahrhundert), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 3 [15.03.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/03/10775.html


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Annerose Menninger: Genuss im kulturellen Wandel

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Annerose Menninger untersucht in ihrer von der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität der Bundeswehr in München angenommenen Habilitationsschrift die Geschichte von Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade in der Westhälfte Europas während des 16. - 19. Jahrhunderts. Die Geschichte dieser vier Genussmittel lässt sich in zweierlei Art und Weise erzählen, als Geschichte der Ausweitung des Konsums in Europa einerseits und als Geschichte der Ausweitung der Produktion dieser Genussmittel in den einzelnen Anbauregionen der Welt andererseits. Menninger ist es nun gelungen, diese beiden Geschichten parallel zu erzählen. Beide Erzählungen gehören ja auch zusammen wie zwei Seiten einer Medaille. Bisher wurden diese beiden Geschichten aber leider meistens getrennt behandelt. Ein Forschungsstrang hat sich mit der Konsumgeschichte in Europa beschäftigt, mit der Einführung der genannten Genussmittel in Europa und den geographischen sowie schicht- und geschlechtsspezifischen Mustern seiner Ausbreitung. Ein zweiter Forschungsstrang hat sich dann dem expansions- bzw. kolonialgeschichtlichen Kontext gewidmet, also der Geschichte der Genussmittelproduktion, der Frage der Standortausweitung, der Betriebsstruktur, der Form der Arbeitskräfterekrutierung, der Geschichte des Genussmittelhandels.

Menninger hat in ihrem Buch diese beiden Forschungsstränge zusammengeführt. Nun hat es auch schon früher Versuche gegeben, die Geschichte wichtiger Agrarexportgüter in globaler, transnationaler Weise zu rekonstruieren. Als Klassiker dieses Zugangs ist hier sicherlich Sidney Mintz zu nennen. In Sweetness and Power hat er bereits 1985 die Geschichte der Produktion des Rohrzuckers in den Tropen und die Geschichte des Zuckerkonsums im neuzeitlichen Europa in paralleler Weise erzählt. Seither ist die Tradition solcher transnationalen Erzählungen nicht mehr abgerissen. Neu am hier rezensierten Buch ist nun, dass dieser Zugang einer globalen Produkt- bzw. Warengeschichte nicht nur am Beispiel eines Produktes, sondern am Beispiel von gleich vier Genussmitteln, nämlich von Kaffee, Kakao, Tee und Tabak versucht wird.

Das Buch ist in sechs Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt werden die allgemeinen Voraussetzungen erörtert. Man erfährt hier, wo genau die vier Genussmittel heute erzeugt werden, in welchen Formen sie konsumiert werden, welche physiologischen Wirkungen sie besitzen, wo sich ihr Ursprung befand und in welcher Art und Weise sie in ihren Herkunftskulturen gebraucht wurden. Man hört weiters von zwei interessanten Gemeinsamkeiten: nämlich einerseits die Tatsache, dass alle vier Produkte bereits in ihren Herkunftskulturen auch als Arzneien verwendet wurden - diese medizinische Funktion sollte dann auch beim Transfer nach Europa eine wichtige Rolle spielen. Und andererseits zeichnen sich alle vier Genussmittel durch einen bitteren Geschmack aus. Dieser macht es prinzipiell erklärungsbedürftig, wieso sie sich global so erfolgreich durchsetzen konnten, obwohl man aus der modernen Ernährungspsychologie weiß, dass der Mensch grundsätzlich eine Vorliebe für Süßes, Salziges und Milch hat, jedoch eine Abneigung gegen bitter schmeckende Substanzen.

Im zweiten Abschnitt wird die Wahrnehmung der vier Genussmittel durch die ersten Europäer im Kontext der europäischen Expansion behandelt. Man erfährt hier, dass die Europäer nicht nur nach Edelmetallen und Gewürzen suchten, sondern auch nach Heilmitteln gegen die frühneuzeitlichen Epidemien und Infektionskrankheiten. Europa stand diesen Krankheiten ja bis weit ins 19. Jahrhundert relativ hilflos gegenüber. Die aus dieser Hilflosigkeit resultierende Angst im Abendland wurde dann - so eine These des Buches - zu einem wichtigen Motor beim Transfer nach Europa.

Das dritte Kapitel behandelt den expansionsgeschichtlichen Kontext. Im Detail wird hier die Ausweitung des Anbaus, der Transfer der Genussmittelpflanzen und der Umbau ganzer Weltregionen in Lieferregionen für Tabak, Kaffee, Tee oder Kakao beschrieben. Abschnitt vier widmet sich der Rolle der Befürworter und der Rolle der Gegner der Einführung der vier neuen Genussmittel im frühneuzeitlichen Europa. Hier wird eine der zentralen Thesen des Buches detailgetreu dargelegt und plausibel erklärt, und zwar die zentrale Rolle der Schulmedizin bei der Propagierung der Genussmittel: diese galten nämlich in der zeitgenössischen Schulmedizin als wirksame Arzneien gegen eine Vielzahl von Krankheiten - angefangen von Husten, Lungensucht, Kopfschmerzen und Micrene bis zur roten Ruhr und sogar zur Pest- und sie wurden deshalb auch von dieser massiv beworben. Ohne diese massive Propagierung durch die zeitgenössische Schulmedizin wäre die Verankerung der vier neuen Genussmittel mit ihrem bitteren Geschmack in der europäischen Esskultur sicherlich langsamer verlaufen.

Kapitel fünf stellt den Diffusionsprozess im Europa des 16. bis 19. Jahrhunderts dar. Man erfährt hier, dass der Tabak am frühesten zu einem billigen Massenkonsumgut wurde. Und zwar bereits im Laufe des 17. Jahrhunderts, als die übrigen drei Genussmittel noch teure Raritäten darstellten. Kaffee, Tee und Kakao hatten sich im Laufe des 17. Jahrhunderts nur als Luxusgetränk an verschiedenen Höfen Europas und innerhalb der Aristokratie etabliert. Im 18. Jahrhundert drangen sie dann verstärkt in den Alltag der europäischen Mittelschichten ein, und zwar vor allem über die sich damals bildende Institution des bürgerlichen Kaffeehauses. Den sozialen Unterschichten blieben aber alle drei Heißgetränke - von wenigen Ausnahmen abgesehen - bis weit ins 20. Jahrhundert schwer zugänglich. Als Ersatz für den Bohnenkaffee etablierten sich in den Unterschichten am europäischen Festland im 19. und frühen 20. Jahrhundert verschiedene Formen von Ersatzkaffees, wie Zichorien-, Malz- oder Feigenkaffee.

Eine ähnliche Funktion wie der am Festland mit Zucker und Milch getrunkene Ersatzkaffee übernahm in Großbritannien der Tee. Er wurde auch mit Milch und Zucker zubereitet und entwickelte sich zu einem wichtigen Energielieferanten für die Arbeiterschaft. Dass der Tee in England bereits im 19. Jahrhundert zum Volksgetränk werden konnte, hängt u.a. mit zwei Prozessen zusammen: einerseits mit der britischen Dominanz im Chinahandel und andererseits mit der Tatsache, dass es den Briten bereits nach dem Opiumkrieg um die Mitte des 19. Jahrhunderts gelungen war, die Teepflanze erfolgreich aus China in ihre Kolonialbesitzungen nach Indien und Ceylon zu transferieren und dort in großbetrieblich-agrarkapitalistischer Weise mit der Massenproduktion auf Teeplantagen zu beginnen.

Der sechste und letzte Abschnitt untersucht die Reaktionen der Obrigkeit auf die neuen Genussmittel, die zahlreichen Konsumverbote im 17. und 18. Jahrhundert und die verschiedensten Formen der Besteuerung und Monopolerrichtung nach dem Scheitern der herrschaftlichen Verbotspolitik. Letztere trugen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert nicht unwesentlich zur Finanzierung der europäischen Staatsapparate bei. So betrugen 1786 in Preußen die jährlichen Profite aus dem Tabakmonopol 18,5% der Staatseinnahmen. Und im England des frühen 19. Jahrhunderts lieferten die Teezölle immerhin ein Zehntel der jährlichen Staatseinnahmen.

Das Buch von Menninger ist Synthese und originäre Forschungsarbeit zugleich. Bekanntes Wissen wird in neuer Weise zusammengefügt, neues Wissen wird aus einem umfangreichen Quellenmaterial, das von frühneuzeitlichen Reiseberichten, medizinischen Traktaten, obrigkeitlichen Dekreten und Policeyordnungen bis zu zeitgenössischen Bilddokumenten reicht, herausdestilliert. Gleichzeitig nutzt sie das enorme Erkenntnispotential des systematischen Vergleichs, wodurch vieles nochmals deutlicher und schärfer sichtbar wird. Auf 430 Seiten Text schafft es Menninger, Struktur- und Ereignisgeschichte gekonnt zu verbinden. Acht Seiten Quellenverzeichnis und 30 Seiten Literaturverzeichnis dokumentieren die enorme Materialfülle, die in der vorliegenden Studie verarbeitet wurde. Ausgewählte Graphiken zeigen die Anbaugebiete sowie die globalen Transfers der vier untersuchten Genussmittelpflanzen im Untersuchungszeitraum. Der Text ist gut lesbar und immer wieder durch spannend zu lesende und gleichzeitig unterhaltsame Partien aufgelockert.

Die zentrale Leistung der Arbeit nach Meinung des Rezensenten ist es aber, dass hier in einer im deutschen Sprachraum selten zuvor geschehenen Weise europäische und außereuropäische Perspektive verbunden worden sind. Nicht zuletzt dadurch wird das Buch zu einer Einladung, auf diesem von Menninger eingeschlagenen Forschungspfad weiter zu fragen. Dies erscheint mir heute notwendiger denn je. Der jüngste Globalisierungsschub hat vor allem im Nahrungs- und Genussmittelbereich einen enormen Orientierungsbedarf entstehen lassen. Jeder Gang durch den Supermarkt zeigt uns aufs Neue, in welch hohem Maße heute der Lebensmittelmarkt globalisiert ist. Immer neue und immer exotischere Nahrungsmittel - mit meistens immer gravierenderen Umweltbelastungen bei Produktion und Transport - werden uns hier angeboten. Gleichzeitig wird dadurch der europäische Konsument immer intensiver mit den Produzenten dieser Nahrungsmittel in immer entfernter liegenden Weltregionen verknüpft. Ein auf Produkte und Waren zentrierter historischer Zugang wie ihn Menninger gewählt hat, kann hier auf die großen Zusammenhänge, die globalen Vernetzungen und die sozial-ökologischen Folgekosten im Agrar-/Lebensmittelkomplex hinweisen und so wichtige Aufklärungs- und Orientierungsarbeit leisten.

Norbert Ortmayr