Martina Switalski: Landmüller und Industrialisierung. Sozialgeschichte fränkischer Mühlen im 19. Jahrhundert (= Internationale Hochschulschriften; Bd. 450), Münster: Waxmann 2005, 278 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-8309-1539-3, EUR 24,90
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Über 500.000 Wassermühlen waren in Europa im ausgehenden 18. Jahrhundert in Betrieb; sie übernahmen nicht nur zentrale Funktionen insbesondere in der Nahrungsmittelversorgung, sondern galten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts auch als Inbegriff technischer Einrichtungen. [1] Nicht umsonst stand deshalb bisher die technische Entwicklung im Zentrum der historischen Mühlenforschung. Die 2004 als volkskundliche Dissertation an der Universität Augsburg angenommene Arbeit von Martina Switalski nimmt nun eine andere Perspektive auf die Mühlengeschichte ein: Sie untersucht das Arbeits- und Sozialleben der Müller im 19. Jahrhundert anhand des Beispiels Franken, einer der mühlenreichsten Regionen Deutschlands. Vor dem Hintergrund des sich im Lauf des Jahrhunderts deutlich ausdifferenzierenden Tätigkeitsfelds der Mühlen konzentriert sich Switalskis Studie auf die ländlichen Getreidemühlen an der Schwabach. Bewusst wendet sie sich somit einem eng mit der Landwirtschaft verbundenen ländlichen Handwerk zu, um die bisherige Konzentration der Handwerksforschung auf den Wirtschaftsraum Stadt zu durchbrechen.
Auf der Grundlage einer breiten Quellenbasis wählt Switalski einen lebensweltlichen Ansatz, ohne sich allerdings eingehender mit aktuellen Diskussionen um diese Forschungsrichtung auseinanderzusetzen. Nach einem Überblick über die Entwicklung des Naturraums Schwabach und die Geschichte der Schwabachmühlen bis zum frühen 19. Jahrhundert beleuchtet sie aus verschiedenen Blickwinkeln Alltag, Arbeit und das soziale Beziehungsgeflecht der fränkischen Landmüller. Indem sie zunächst die Bauweise und Technik der Mühlen erläutert, um dann die verschiedenen Bewohner der Mühlen vom Müllermeister über den Lehrling bis zum Gesinde vorzustellen, arbeitet sich die Autorin gewissermaßen von außen nach innen vor. Als Gerüst der Darstellung dient hier die kritische Auseinandersetzung mit der Brunner'schen These vom "ganzen Haus", die laut Switalski die auf die Einhaltung einer sittlichen Ökonomie ausgerichtete Einheit von produzierendem Betrieb und konsumierendem Haushalt sowie die über die verwandtschaftlich verbundene Familie hinausgehende Hausgemeinschaft durchaus treffend beschreibt. Im weiteren Verlauf der Untersuchung bestätigt Switalski jedoch die bereits in anderen Studien herausgestellten Schwächen des Brunner'schen Konzepts: Sie analysiert die von Brunner vernachlässigten Sozialbeziehungen außerhalb des "ganzen Hauses" und kommt zu dem Schluss, dass dieses keineswegs als geschlossene Einheit anzusehen ist, sondern "ein mit der Umwelt vielfach verbundenes Handels-, Werte- und Servicesystem" (97) darstellte. Wenn auch erst spät zünftig organisiert, unterhielten die fränkischen Landmüller vielfältige soziale Beziehungen, die allerdings häufig durch Konflikte gekennzeichnet waren. Gegenüber verwandten Zweigen des Nahrungsmittelgewerbes zeigten sie ein großes Konkurrenzbewusstsein und drängten z. B. durch die schrittweise Übernahme des Mehlhandels die Zwischenhändler, die Melber, zielstrebig in die Bedeutungslosigkeit; mit der dörflichen Gemeinschaft kam es zu immer wieder aufflammenden Streitigkeiten, die sich vor allem um die knapper werdenden natürlichen Ressourcen drehten.
Dennoch - so kann Switalski nachweisen - wurden die fränkischen Landmüller keineswegs bewusst aus der dörflichen Gemeinschaft ausgeschlossen. Zwar lebte die durch verschiedene Faktoren bedingte Assoziation des Müllerhandwerks mit dem Begriff der "Unehrlichkeit" - der im 19. Jahrhundert nicht mehr als soziale Kategorie, sondern als moralische Bewertung aufzufassen war - in zahlreichen Redewendungen weiter. Die Abstinenz von Ehrenämtern und die weitgehend endogamen Heiraten waren offenbar aber freiwillige und bewusste Entscheidungen der Landmüller selbst. Ähnlich hartnäckig wie die Charakterisierung der Müller als unehrlich hielten sich die Beschreibung der Mühle als erotischer Ort und der buhlerische Ruf der Müllerin. Die Romantisierung der Mühlen als Sinnbild "natürlicher Technik" (176) und nichtentfremdeter Arbeit nahm parallel zur Industrialisierung und zur fortschreitenden Technisierung der Mühlen sogar noch zu, wie Switalski in einer anregenden Auseinandersetzung mit verschiedenen literarischen Gattungen zeigt. Vielfach wurde der nostalgische Blick auf die Mühlen als positives Gegenbild der kritisch betrachteten Gegenwart genutzt; noch in den 1980er-Jahren - so zeigt die Autorin - wurde die Mühle als gesellschaftliches Gegenmodell beschrieben.
Zu diesem Zeitpunkt war das "Mühlensterben" bereits lange abgeschlossen. Es setzte, wie Switalski im fünften und vorletzten Teil herausarbeitet, kurz nach der Reichsgründung ein. War es bis dahin den Landmüllern gelungen, durch eine frühe Handelstätigkeit eine gute Position gegenüber der städtischen Konkurrenz zu erlangen, wurden auch sie nun durch die industriellen Kunstmühlen verdrängt. Es fand eine deutliche Konzentration statt, die Zahl der Kleinbetriebe ging zugunsten von neuen Mittel- und Großbetrieben zurück, nicht zuletzt gefördert durch die staatliche Schutzzollpolitik und die allmähliche Zerschlagung der handwerklichen Organisationen und Traditionen. Träger technischer Innovationen waren nicht etwa risikofreudige Müller, sondern vielmehr eine Reihe metierfremder Unternehmer und die Regierung, die die Vorteile der Rationalisierung für die Mehlversorgung erkannte. Das Müllerhandwerk hingegen zeigte größtenteils Technikfeindschaft und geringe finanzielle Risikobereitschaft. Dieses Auseinanderklaffen staatlicher Wirtschaftspolitik und unternehmerischer Tätigkeit ist ein interessanter Befund, reizvoll wäre an dieser Stelle die Einbeziehung neuerer, durch die Neue Institutionenökonomik beeinflusste Diskussionen um den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und institutioneller Entwicklung gewesen - zumal Switalski durchaus die Auswirkungen der Aufhebung des Mühlenbanns und der Einführung der Gewerbefreiheit analysiert.
Wie bereits in vorangegangenen Abschnitten fällt es in diesem Teil der Arbeit aufgrund zahlreicher zeitlicher und örtlicher Sprünge in der Darstellung schwer, die genaue Position der Landmüller nachzuvollziehen. Es wird nicht recht deutlich, ob sie die mit ihrer frühzeitigen Handelstätigkeit bewiesene Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Entwicklungen auch in der Hochindustrialisierung beibehielten oder ob sie sich nun dem allgemeinen Trend des Mühlenhandwerks zu reaktionärer Larmoyanz anschlossen. Die Arbeitsbedingungen auch in den kleinen Mühlen wurden jedenfalls unter dem Druck der Industrialisierung deutlich härter: Gesundheitliche Belastungen, lange Arbeitszeiten und schlechte Bezahlung waren die Regel und führten im letzten Drittel des Jahrhunderts zur Bildung von Verbänden, die die Mühlenarbeiter zu organisieren suchten - ein weiterer Schritt in der Ausbildung industrieller Strukturen.
Insgesamt stellt Switalskis Arbeit eine quellengesättigte Studie dar, die die bisher stark technikzentrierte Mühlenforschung um neue sozialhistorische Ergebnisse ergänzt. Zwar wäre eine klarere, nicht so sehr in (nicht selten eher als Exkurse zu betrachtende) Unterkapitel verästelte Gliederung wünschenswert gewesen. Jedoch ist dieser Umstand nicht zuletzt der Vielschichtigkeit der Darstellung und der Präsentation zahlreicher unterschiedlicher - auch ungewöhnlicher - Perspektiven auf das Müllerhandwerk geschuldet.
Anmerkung:
[1] Akos Paulinyi / Ulrich Troitzsch: Mechanisierung und Maschinisierung 1600 bis 1840 (= Propyläen Technikgeschichte, 3), Berlin 1991, 33.
Vera Hierholzer