Peter Tångeberg: Retabel und Altarschreine des 14. Jahrhunderts. Schwedische Altarausstattungen in ihrem europäischen Kontext, Stockholm: Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademien 2005, 296 S., ISBN 978-91-7402-346-6, SKR 448,00
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Charles T. Little (ed.): Set in stone. The Face in Medieval Sculpture, New Haven / London: Yale University Press 2006
Der schwedische Restaurator Peter Tångeberg leistet mit seiner Studie zu den schwedischen Retabeln des 14. Jahrhunderts Pionierarbeit. Der Bedeutung dieser Studie wird man sich schnell bewusst, wenn man auf die Zahlen blickt: In Schweden haben sich aus dem 14. Jahrhundert insgesamt 44 Retabel, zum Teil vollständig, zum Teil fragmentarisch erhalten. Davon befinden sich allein 34 auf der Ostseeinsel Gotland. Damit ist der schwedische Bestand umfangreicher, als im ganzen restlichen Europa, Italien ausgenommen. Hat sich im mitteleuropäischen Raum nur ein geringer Bruchteil der Altarausstattungen erhalten, ist auf Gotland nahezu ein Drittel zumindest in Teilen auf uns gekommen, darunter sieben noch einigermaßen komplett. Diese einmalige Erhaltungsdichte verdankt die Insel dem allmählichen wirtschaftlichen Abstieg, der im 14. Jahrhundert einsetzte, und dem Ausbleiben reformatorischer Bilderstürme sowie späterer Veränderungskampagnen.
Die wirtschaftliche Position Gotlands als Schaltstelle im Ostseehandel war auch prägend für die künstlerischen Kontakte und erlaubt so wichtige Rückschlüsse auf die Kunst im übrigen Europa. Angesichts der Materialdichte kann man sogar sagen, dass das Verständnis für die Gesamtzusammenhänge ohne die Einbeziehung Schwedens unvollständig bleibt. Dies führt Tångebergs Studie auch methodisch eindrücklich vor Augen, indem er technologische Beobachtungen mit kunsthistorischen Ansätzen zusammenführt.
Mit seinen Ergebnissen wirft der Autor Fragen auf, die die gesamte mitteleuropäische Kunst dieser Zeit betreffen. So überrascht die Vielfalt der verschiedenartigen Retabel-Lösungen, die zur selben Zeit bzw. in einem sehr kurzen Zeitraum auf der Insel Gotland nachweisbar sind und für die es nördlich der Alpen zum Teil keine Entsprechungen gibt. Am Beispiel der Retabel mit flankierenden Türmen (41-156), mit Parallelen nur in Italien, stellt sich die Frage, ob angesichts der weit reichenden Handelskontakte Gotlands ein direkter "Import" dieses Typs von dort denkbar wäre. Der Autor vermutet hier sicher zu Recht, dass sich in den gotländischen Kunstwerken im Wesentlichen die Situation in Nordwesteuropa widerspiegelt, auch wenn sich dort oft keine entsprechenden Werke mehr erhalten haben. Die zentrale Frage für die weitere Forschung hier zu Lande ist also: Liegt auf Gotland eine Vielfalt vor, die im 14. Jahrhundert auch in Mitteleuropa kennzeichnend war?
Zugleich muss man aber auch damit rechnen, dass die verschiedenartigen Einflüsse auf Basis der gotländischen Fernhandelskontakte eine besondere Situation schufen, die sich nur schwer mit den Bedingungen hier zu Lande vergleichen lässt. Wiederholt vermutet Tångeberg zum Beispiel englische Einflüsse. Denkbar ist, dass durch die Handelsverbindungen englische Kunst direkt in den Ostseeraum kam, oder vermittelt über andere Regionen, wie zum Beispiel Westfalen, wo sich ebenfalls englischer Einfluss bemerkbar macht - ein Aspekt, der weiterer Forschung bedarf.
Die erfassten Objekte fallen zudem durch ihre künstlerische Heterogenität auf: So gibt es kaum zwei Werke, die derselben Werkstatt zugeschrieben werden können. Dies widerspricht dem klassischen kunsthistorischen Modell, dass die Produktion am selben Ort zu einer bestimmten Zeit Übereinstimmungen aufweist (85). Will man nicht vermuten, dass alle Bildwerke gleichermaßen eingeführt wurden, muss man das Ineinandergreifen verschiedener Faktoren dafür verantwortlich machen.
So stellt sich für Gotland die Frage des Nebeneinanders von Import, zugewanderten Künstlern und lokaler Produktion. Leider besitzen wir keine Informationen über künstlerische Werkstätten auf Gotland. Dies unterscheidet die Insel nicht von anderen Orten. Für die lokale gotländische Produktion kann Tångeberg einige technische Besonderheiten herausarbeiten, so zum Beispiel, dass die Retabel häufig aus verschiedenen Materialien bzw. verschiedenen Kleinteilen zusammengestückt sind (28). Auf der anderen Seite ist unser Bild von anderen Regionen zu bruchstückhaft, um ausschließen zu können, dass nicht auch dort ähnliche Praktiken üblich waren (195).
Tångeberg kann deutlich machen, dass schon damals ganze Retabel - zum Teil auch mittelmäßige - nach Gotland verschickt wurden. Diese wiederum wirkten ohne Zweifel vorbildhaft für die lokale Produktion. In einigen Fällen kann eine Verbindung zur niederländischen Kunst wahrscheinlich gemacht werden, wie z. B. beim Retabel in Ala (159-177), das auf Grund der für Gotland typischen Arbeitstechnik am ehesten von einem eingewanderten Künstler gefertigt worden sein könnte. Währenddessen könnten die Figuren in Hubbo (Västmanland) importiert worden sein (198-203).
In zwei Fällen ist die Herkunft des Holzes von besonderem Interesse: Das Flügelretabel in Gammelgarn sowie die thronende Muttergottes in Lemland auf Åland (251) wurden aus Eichenholz gefertigt, das aus dem Weserbergland stammt. Dies belegt, dass der Import von Retabeln und Bildwerken schon damals verbreitet gewesen sein muss. Der letzte Splintholzring am Retabel von Gammelgarn stammt von 1352, was eine Entstehung um 1360-1370 wahrscheinlich macht. Dies erlaubt wiederum wichtige Rückschlüsse auf die Entwicklung der Retabel und der Skulptur dieser Zeit in Norddeutschland. So wird das älteste erhaltene Beispiel eines Flügelretabels in Westfalen in Kirchdornberg bei Bielefeld nur wenig früher in die Zeit um 1340 datiert. Der Autor geht deshalb zu Recht davon aus, dass dieser Typus schon damals größere Verbreitung besessen haben muss (21).
Tångeberg diskutiert ausführlich die verschiedenen stilistischen Einflüsse, bis hin nach Frankreich und England. Ein besonderes Anliegen ist es ihm dabei, die Bedeutung Westfalens für die Kunst des 14. Jahrhunderts in Norddeutschland und im Ostseeraum aufzuwerten. Darin ist ihm prinzipiell beizupflichten. Hauptproblem jeder Untersuchung ist aber die geringe Zahl erhaltener Objekte in Westfalen selbst, gerade in einem wichtigen Handels- und Kunstzentrum wie Soest. Man ist deshalb dazu gezwungen, auf andere Kunstgattungen auszugreifen. So wurden für die Tafel von Töresund (Södermanland) zum Teil dieselben Vorlagen benutzt wie für das Soester Nequambuch (um 1315), aber auch für die Wandmalereien im Schwahl des Domes zu Schleswig. Gerade hier wird deutlich, dass man mit einer größeren Anzahl wandernder Künstler zu rechnen hat und deshalb nicht zweifelsfrei zu entscheiden ist, wo das Retabel von Töresund gefertigt wurde (33).
In anderen Fällen ist die genaue Lokalisierung schwieriger: So gibt es für die Figuren des Retabels in Gammelgarn, dessen Holz ja aus dem Weserbergland stammt, keine eindeutigen Parallelen im westfälischen Raum (248). Hier müsste eine Entstehung in den Zentren Ostfalens, wie z. B. Braunschweig oder Hildesheim als eine weitere Möglichkeit ins Auge gefasst werden. Direkte Beziehungen zur Kölner Kunst scheint es nicht zu geben. In einigen Fällen wirkt die Abgrenzung von Köln durch den Autor jedoch etwas überpointiert, wenn er etwa am Beispiel von Gammelgarn ohne weitere Begründung einen "ganz bewussten Stil und eine ebenso bewusste Distanzierung von der Kölner Kunst" vermutet, ohne auf die möglichen Motive für eine solche Stilwahl einzugehen (248). Soest und Köln waren nicht nur politisch und wirtschaftlich eng miteinander verbunden (vgl. die Rezension von Hartmut Krohm in dieser Ausgabe), weshalb eine Abgrenzung, die von einer westfälischen Kunst ausgeht, zu sehr an modernen politischen Grenzen orientiert ist.
Neben der Diskussion westfälischen Einflusses zieht sich die Frage nach der Rolle Lübecks wie ein roter Faden durch die Abhandlung. Insbesondere die ältere Forschung hatte einseitig die Rolle der Handelsstadt betont. In den vergangenen Jahrzehnten setzte eine kritische Neubewertung ein. Es ist nicht zuletzt dem Autor zu verdanken, durch die Klärung der Herkunft wichtiger mittelalterlicher Bildwerke im Ostseeraum hierzu einen zentralen Beitrag geleistet zu haben. TÅngeberg stellt die Rolle Lübecks als relevantes Kunstzentrum für den Ostseeraum - zumindest für das 14. Jahrhundert - grundsätzlich in Frage. In der Tat gibt es nur wenige Bildwerke, die man mit einiger Wahrscheinlichkeit einer Werkstatt in Lübeck zuschreiben kann. In vielen Fällen bleiben Zweifel oder es fehlen entsprechende Indizien.
Gerade die Diskussion um die Rolle Lübecks spiegelt aber auch die Unsicherheiten wider, die vor allem in der jüngeren Forschung zur Malerei und Skulptur in Norddeutschland zu Tage getreten sind. Auf der einen Seite gibt es keine ausreichende Grundlage an Schriftquellen, die es erlauben, verschiedene Kunstzentren in ihrer Bedeutung gegeneinander abzuwägen. Auf der anderen Seite macht der Fall Gotland deutlich, dass es in einem wichtigen Handelszentrum nicht unbedingt eine Produktion gab, die benennbare Gemeinsamkeiten aufwies. Es ist davon auszugehen, dass auch in Lübeck Kunstwerke importiert wurden, in größerer Zahl Künstler von auswärts kamen, sich dort niederließen oder für einen bestimmten Auftrag verpflichtet wurden (vgl. meine Besprechung zu "Corpus der mittelalterlichen Holzskulptur in Schleswig Holstein" in dieser Ausgabe). Somit ist auch damit zu rechnen, dass Werke in Lübeck geschaffen wurden, die man künstlerisch und unter Umständen auch technologisch nicht ohne Weiteres dorthin lokalisieren würde.
Peter Tångeberg hat - so lässt sich zusammenfassen - mit dieser Publikation eine wichtige Studie vorgelegt. An den darin aufgeworfenen Fragen muss sich die künftige Forschung zur spätmittelalterlichen Malerei und Skulptur in Norddeutschland und weit darüber hinaus messen lassen.
Gerhard Lutz