Rezension über:

Maurus Reinkowski: Die Dinge der Ordnung. Eine vergleichende Untersuchung über die osmanische Reformpolitik im 19. Jahrhundert (= Südosteuropäische Arbeiten; Bd. 124), München: Oldenbourg 2005, 365 S., ISBN 978-3-486-57859-1, EUR 49,80
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Bekim Agai
Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Conermann
Empfohlene Zitierweise:
Bekim Agai: Rezension von: Maurus Reinkowski: Die Dinge der Ordnung. Eine vergleichende Untersuchung über die osmanische Reformpolitik im 19. Jahrhundert, München: Oldenbourg 2005, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 7/8 [15.07.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/07/10706.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Islamische Welten" in Ausgabe 7 (2007), Nr. 7/8

Maurus Reinkowski: Die Dinge der Ordnung

Textgröße: A A A

Das vorliegende Buch stellt die osmanische Tanzimatzeit in ihren Auswirkungen auf die politischen Ideen der osmanischen Staatsführung, des Verwaltungs- und Militärapparats dar, und beleuchtet deren Umsetzungsstrategien in zwei "inneren Peripherien" des Reiches, der albanischen Stadt Shkodër und seinem Umland sowie dem Libanongebirge.

Als Quellenbasis dient die administrative Korrespondenz zwischen Istanbul und den beiden Peripherien von 1840 bis in die 1870er Jahre. Durch den Vergleich soll die Reformzeit in ihrer Vielfalt und Überlagerungen von Herrschaftspraktiken besser ausgeleuchtet werden, da die bisherige Forschung entweder stark auf die Zentrumsperspektive fokussiert oder aber einzelne lokale Entwicklungen verallgemeinert. Die Herausarbeitung wichtiger Begriffe aus den Dokumenten im Rasterverfahren dient zum Verständnis des Wandels in der Wahrnehmung von gesellschaftlichen und politischen Prozessen bei den Osmanen, z.B. hinsichtlich der aufkommenden Nationalismen oder der Bedeutung von Religion für die Gruppeneinteinteilung. Der Autor hinterfragt, ob Begriffe wie Nationalismus oder Proto-Nationalismus für die Tanzimatzeit nicht vorschnell verwendet werden.

Die kombinierte Analyse von Herrschaftspraktiken und politischen Ideen zeigt, wie die Tanzimat (d.h. Neuordnung) verstanden wurde und wie man ihr vor Ort Geltung zu verschaffen suchte. Die Analyse wirft damit auch einen Blick auf die politische Soziologie des Reiches und die Frage, wie stark dieses im Reformprozess politisches Subjekt oder Objekt europäischer Politik war. Durch vorbildliches Quellenstudium und einen methodischen Ansatzen, der sich auf höchstem Niveau bewegt, gelingt es dem Autor, vieles an sicher geglaubtem Wissen in Frage zu stellen und damit neue Perspektiven zur Erforschung der Epoche aufzuwerfen. Inhaltlich und methodisch ist das Buch damit Maßstab für eine vergleichende Forschung und jede weitere Studie zu dieser Zeit.

Nach der Einführung wendet sich der Autor im Kapitel "Zentrum und Peripherie" den grundlegenden Ideen und Entwicklungen im Vorfeld und während der Tanzimatzeit (1839-1876) im Zentrum zu. Hier werden auch die etablierten Herrschaftstechniken gegenüber der inneren Peripherie dargestellt, wie die Zusammenarbeit mit lokalen Eliten, die Benennung von Gouverneuren und die Entsendung von Sonderkommissaren.

Es schließt sich die Darstellung der Entwicklungen in den beiden inneren Peripherien an. Dabei handelt es sich um Gebiete, die zwar im zentralen Herrschaftsbereich lagen, aber schwer zugänglich, landwirtschaftlich unergiebig und durch tribale Ordnung geprägt waren, die vom Zentralstaat allenfalls berührt, aber nicht durchdrungen wurden.

Reinkowski beschreibt die überkonfessionellen Allianznetzwerke von drusischen und maronitischen Familien im Libanongebirge vor der Tanzimatzeit sowie die Konfessionalisierung der Gruppen- und Ordnungsvorstellungen unter europäischen Einflüssen. Ausdruck hiervon war die Errichtung eines drusischen und eines maronitischen ḳa'immaḳāmlık 1845), die Besetzung von ihnen untergeordneten Verwaltungsräten nach religiösem Proporz und die Ernennung eines Osmanen christlicher Denomination zum Gouverneur des Libanongebirges ab 1861.

Auch das nordalbanische Umland von Shkodër war eine innere Peripherie, in der die Stammeszugehörigkeit - und nicht die Religion - die Grundlage für Konflikte und Allianzen mit dem Staat bildete. Ab 1844 wurden in Shkodër Reformen zu einer stärkeren Anbindung an Istanbul eingeführt, ab den 1850ern versuchte man die staatliche Ordnung (Steuern, Rekrutierung, zentrales Recht etc.) auch ins Hochland zu bringen, stieß hierbei auf Probleme bei der Durchsetzung. Anschließend listet der Autor Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Nordalbanien und dem Libanongebirge auf, die er in seine Methodik des Vergleichs von Ähnlichkeiten und Unterschieden einordnet.

Reinkowski eröffnet nun im Kapitel "Formen der Herrschaft" Vergleichsfelder für die Herrschaftsmechanismen, -konzepte und -praktiken. Hierbei entwickelt er eine anfangs gewöhnungsbedürftige deutsche Begrifflichkeit, die sich jedoch als ausgesprochen präzise erweist. Ein solcher Begriff ist z.B. "Hegung", d.h. die Idee, Ordnung dadurch zu sichern, dass der osmanische Staat sein Gewaltmonopol nur dort einforderte, wo Gruppen ihre eigenen Grenzen überschritten, sich in ihre innere Ordnung nicht einmischte, bestehende Einheiten einhegte und gegeneinander ausspielte und hierdurch den Aufwand zur Herrschaftssicherung minimierte. In den folgenden Fallbeispielen untersucht der Autor Funktion und Wandel der Hegung, die in der Tanzimatzeit zunehmend in Frage gestellt wurde.

Diesen Wandel in den Ordnungsvorstellungen weist er so unter anderem an der Politik der Osmanen gegenüber dem nordalbanisch-katholischen Stamm der Mirditen nach, die im Zuge der Neuordnung ab 1855 von treuen Partnern zu "Wilden" für den Staat wurden. Ihre staatliche "Zivilisierung" wurde dadurch verhindert, dass man auf ihre Hilfe gegen Montenegro angewiesen war. So wurde erst 1873 ein Verwaltungs- und Gerichtsrat eingerichtet und eine Gendarmerieeinheit in der Mirdita stationiert. Im nordalbanischen Bergland kam es zu einer Mischung aus Konfrontation und Kooption. Musste man in Albanien auf die Interessen der Stämme Rücksicht nehmen, weil man sie zur Grenzsicherung brauchte, so bestimmten im Libanon die sich an der Konfession orientierenden Ordnungsvorstellungen der Europäer die osmanische Politik stark mit, wie im Kapitel "Zwischen Konfusion und Konkordanz: Konfessionalismus im Libanongebirge" erläutert wird.

Nachdem für beide Regionen die praktische Politik der Tanzimat beschrieben worden ist, wendet sich der Autor anschließend im Kapitel "Begriffe der Herrschaft" ihren Termini zu. Durch das "Verzeichnis der Ordnungsbegriffe" und Textbelege aus dem Anhang gestützt, ist es ein Meilenstein in der Ideengeschichte der Tanzimat, das Grundlage zu weiterer Forschung zu politischen Begrifflichkeiten und ihren Ideen sein muss. Hier offenbart das Buch seine Originalität erneut. Es wird gefragt, wie europäische Begriffe angeeignet, umgeformt und unterworfen wurden. Dabei stehen die Begriffe der Ordnung im Vordergrund: Was macht diese aus, was widerspricht ihr, wie kann sie erreicht werden?

Der Leser erhält einen exzellenten Einblick in die Entwicklung der osmanisch-politischen Terminologie und das staatliche Denken über Gesellschaft, ihre Fundamente und Einheiten. Die Veränderungen im politischen Gehalt von eigenen osmanischen Begriffen oder Entlehnungen wird deutlich und damit der Geist der Tanzimatzeit.

Im Kapitel "Ergebnisse" werden nun die Formen mit den Begriffen der Herrschaft zusammengebracht. Hierbei wird deutlich, wie der Wandel in der politischen Begrifflichkeit mit dem Wandel der Politik verbunden ist. Auf beiden Ebenen wurde die Praxis der Hegung innerhalb des Untersuchungszeitraums vom osmanischen Staat und seinen Beamten in Frage gestellt, und die Vorstellungen von Ordnung wandelten sich: Gehörten zyklische Unterbrechungen staatlicher Ordnung früher zum System, die durch Strafmaßnahmen wiederhergestellt wurde, so wurde Ordnung während der Tanzimat zu einem linearen Fortschrittsprozess, der durch Erziehung hergestellt wurde. Hinsichtlich der Gruppenvorstellungen ist zu beobachten, dass die Osmanen in Albanien sehr streng zwischen Stammes- und Religionszugehörigkeit trennten, während sich im Libanongebirge im Wechselspiel von osmanischen Ordnungsbemühungen und europäischen Einflüssen ein ethnischer Konfessionalismus entwickelte.

Bezüglich der Übernahme wichtiger europäischer politischer Konzepte kam es laut Reinkowski zu "Anverwandlungen", d.h. der Umdeutung und Aneignung des in der diplomatischen Auseinandersetzung nützlichen Begriffes für die eigene politische Praxis. So bedeutete die osmanische Übersetzung des Begriffs égalité, tesāvi, Äquidistanz des Staates und nicht Gleichheit der Bürger. Diesen Formen der "Anverwandlung" liegt für den Autor ein teilweise mangelhaftes Verständnis der europäischen Konzepte zugrunde, nicht eine weise Adaption. Die Konsequenz hieraus war eine Amalgamisierung von neuen patizipativ-emanzipatorischen Konzepten mit traditionellen Praktiken, die erstere einschränkten. Der Nachweis dieser Verwobenheit ist dem Autor überzeugend gelungen. Das Buch schließt mit einem Verzeichnis der Ordnungsbegriffe, Textbelegen, biographischen Angaben zu wichtigen Personen sowie einem ausführlichen Register.

Der synchrone Vergleich von osmanischer Ideengeschichte der Tanzimatzeit und ihren Umsetzungen in den beiden inneren Peripherien zeigt deutlich Anspruch, ideengeschichtliche Entwicklung und Gestaltungsmöglichkeiten der Neuordnung. Reinkowski hat eine Vorlage geliefert, anhand derer nun andere Regionen oder andere Quellen der Ideengeschichte der Tanzimatzeit verglichen werden können. Es bleibt zu hoffen, daß die Arbeit solche Studien stimulieren wird.

Bekim Agai