Alheydis Plassmann: Origo gentis. Identitäts- und Legitimitätsstiftung in früh- und hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen (= Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters; Bd. 7), Berlin: Akademie Verlag 2006, 458 S., ISBN 978-3-05-004260-2, EUR 69,80
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Unter einer "Origo gentis" verstehen Mediävisten bekanntlich eine Volks- oder Stammesgeschichte, deren Mittelpunkt die Erzählung von der Herkunft eines gentilen Verbandes bildet und die zunächst nur mündlich tradiert wurde. Zu einem bestimmten Zeitpunkt wurden dann die Origines beispielsweise der Goten, Franken oder Langobarden in lateinischer Sprache schriftlich fixiert und spätestens bei dieser Gelegenheit mit allerhand antiker und spätantiker Gelehrsamkeit angereichert. In ihrer uns heute vorliegenden Form stellen sie jedoch im allgemeinen keine eigenständige literarische Gattung dar, sondern sind Bestandteile umfangreicherer Werke, die sich wie etwa die Historiae Gregors von Tours oder die Res gestae Saxonicae Widukinds von Corvey bis in die Gegenwart des Autors mit der Geschichte der jeweiligen Gens befassen. Gleichwohl weisen die Origines in literarhistorischer Hinsicht zahlreiche Parallelen auf. Dies gilt vor allem für ihre Darstellungsabsicht, denn sie sollten nicht zuletzt angesichts des Eintritts der Barbaren in die spätantik-christliche Welt, in der diese in der Minderheit waren, gentile Einheit stiften, der Selbstvergewisserung dienen und die neuen Herrschaftsbildungen rechtfertigen.
Wesentliche Anregungen verdankt die Beschäftigung mit den Origines vor allem Reinhard Wenskus, der in seinem 1961 vorgelegten Werk "Stammesbildung und Verfassung" im Gegensatz zu älteren Historikern nicht an den Wanderungen und Lebensverhältnissen der so genannten germanischen Stämme interessiert war, sondern vielmehr nach der Ethnogenese, also nach der Entstehung einer Gens fragte. Die aktuelle Diskussion wird von zwei gegensätzliche Schulen bestimmt: Während ein Wiener Kreis um Herwig Wolfram Wenskus' Forschungen letztlich fortschreibt, vertreten der an der Yale University lehrende Walter Goffart und seine Mitarbeiter die Ansicht, dass es Origines gentium im bisherigen quellenkundlichen Sinne nie gegeben und jeder Verfasser vielmehr eine ganz eigene Darstellungsabsicht verfolgt habe.
In dieser Auseinandersetzung schließt sich Alheydis Plassmann in ihrer hier kurz vorzustellenden Bonner historischen Habilitationsschrift aus dem Jahre 2004 mit guten Gründen Herwig Wolfram an. Im Gegensatz zu den Wiener Historikern beschäftigt sie sich freilich nicht mit Fragen der Ethnogenese, sondern untersucht vielmehr, wie eine Origo überhaupt Identität stiftete und wie die bei ihrer Verschriftlichung bestehende Ordnung legitimiert wurde. Dabei bedarf es keiner eigenen Begründung, dass die Origines nicht isoliert betrachtet werden dürfen, sondern im Zusammenhang des jeweiligen Werkes gedeutet werden müssen.
Aus dem Kreis der Quellen, in deren Rahmen eine Origo auf uns gekommen ist, trifft Alheydis Plassmann eine Auswahl. Sie beschäftigt sich nacheinander mit Gildas, der Historia ecclesiastica gentis Anglorum des Beda Venerabilis, der Historia Brittonum, der Angelsächsischen Chronik, den Historien Gregors von Tours, dem so genannten Fredegar, dem Liber historiae Francorum, der Langobardengeschichte des Paulus Diaconus, der Normannengeschichte Dudos von St-Quentin, der Sachsengeschichte Widukinds von Corvey, der Chronik des Gallus Anonymus und der Böhmengeschichte des Cosmas von Prag. Damit ist die Zeit vom frühen 6. bis zum 12. Jahrhundert erfasst, und in räumlicher Hinsicht bewegt sich die Untersuchung von den Inseln sogar bis in die Welt der Slaven, lässt aber auch das bereits unter der Botmäßigkeit Karls des Großen stehenden langobardische Italien nicht außer Acht. Die Gotengeschichte des Iordanes, die gemeinhin als Musterbeispiel einer Origo gentis gilt, wurde aus den bekannten quellenkritischen Gründen jedoch beiseite gelassen.
Diese Autoren und Werke werden mehr oder weniger katalogartig abgearbeitet, wobei Fragen nach der Herkunft und dem Hintergrund des jeweiligen Autors, der Origo selbst, dem Bild der Herrscher, der Sicht auf die eigene Gens oder der Auffassung fremder Stämme im Mittelpunkt stehen. Der unmittelbare und kritische Quellenbezug ist zwar lobend hervorzuheben, doch machen die breiten Nacherzählungen, gespickt mit lateinischen Zitaten, die sich manchmal dem deutschen Satzbau nicht recht fügen wollen, das beleggesättigte Werk zu einer hohe Aufmerksamkeit erfordernden Lektüre.
Als wichtiges Ergebnis lässt sich festhalten, dass sich die Muster der Identitäts- und Legitimitätsstiftung vom 6. bis zum 12. Jahrhundert nicht geändert haben, doch erstreckten sie sich auf unterschiedliche Gegenstände wie die Gens, das Reich oder das Land. Die Muster selbst reichen von der positiven Sicht des Eigenen und der negativen Bewertung des Fremden über die Landnahme, die Namenfindung, die Einordnung des Stammes in den Verlauf der Heilsgeschichte, die Herleitung von heidnischen Göttern oder den Römern und die Hervorhebung kriegerischer Tüchtigkeit bis hin zum Herrscher, durch den die bestehende Ordnung besonders gerechtfertigt wird.
Dass die Deutung der Vergangenheit auf die Gegenwart zielte und sich die Autoren bei ihrer Darstellung bestimmter Versatzstücke bedienten, überrascht eigentlich nicht. Daher liegt der besondere Wert dieser Qualifikationsschrift darin, den einschlägigen Quellenbestand unter einer genau bestimmten Fragestellung und in Anlehnung an neue Literatur und Forschungspositionen noch einmal gründlich untersucht und die durch minuziöse Quelleninterpretationen gewonnenen Ergebnisse fester als bisher gesichert zu haben. Die künftige Beschäftigung mit den Origines kommt an dem Buch von Alheydis Plassmann jedenfalls nicht vorbei.
Bernd Schütte