Hans-Christian Petersen: Bevölkerungsökonomie - Ostforschung - Politik. Eine biographische Studie zu Peter-Heinz Seraphim (1902-1979) (= Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau; Bd. 17), Osnabrück: fibre Verlag 2007, 405 S., ISBN 978-3-938400-18-0, EUR 35,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Hans-Christian Petersens 2006 an der Universität Kiel eingereichte Dissertation setzt die Reihe vertiefender biografischer Arbeiten fort, in denen die deutsche Geschichtsschreibung in den letzten Jahren einen kritischen Blick auf ihre eigene Fehlentwicklung vor 1933, im Nationalsozialismus sowie in den unmittelbaren Nachkriegsjahren geworfen hat. [1] Mit dem Ökonomen Peter-Heinz Seraphim steht dabei erstmals ein ausgesprochener "Judenforscher"[2] im Mittelpunkt des Interesses, der in der NS-Zeit als führender Experte für das Ostjudentum Ansehen genoss. Neben dessen Tätigkeit unter dem NS-Regime beleuchtet der Verfasser jedoch auch den gesamten Lebenslauf, der mit Seraphims Geburtsort Riga, den Universitäten Königsberg und Greifswald sowie, nach 1945, in erster Linie mit Bochum und wechselnden Orten in Oberbayern verbunden war. So kann Petersen, der Materialien in zahlreichen Archiven in Deutschland, Lettland und Polen eingesehen und ausgewertet hat, an vielen Stellen Kontinuitäten sichtbar machen. Seiner Schlussbetrachtung stellt er die Überschrift voran: "eine deutsche Biographie".
Seraphim wurde in ein zutiefst konservatives, deutsch-nationales Milieu am Rande des Zarenreiches hineingeboren, das sich unter dem Einfluss wiederholter revolutionärer Umwälzungen, die strikt abgelehnt wurden, politisch radikalisierte. Am Ende des Ersten Weltkriegs beteiligte sich der 17-jährige an den Kämpfen deutschbaltischer Freikorps gegen die Bolschewiki. Danach ging er nach Ostpreußen, wo er in den 1930er-Jahren am Institut für Osteuropäische Wirtschaft der Königsberger Albertina an der Seite des frühen NS-Aktivisten Theodor Oberländer eine durch den Nationalsozialismus begünstigte Universitätskarriere begann, denn das Thema, mit dem sich Seraphim immer wieder in NS-Fachblättern und auch publizistisch befasste, war die Stellung der jüdischen Bevölkerungsgruppe in Ost-(mittel-)europa, insbesondere in Polen. Dort war er 1940 für das nationalsozialistische Institut für Deutsche Ostarbeit, aber auch als 'Praktiker' tätig (wenngleich sich heute nicht mehr genau feststellen lässt, welche Aufgaben er im Rahmen der antijüdischen "Maßnahmen" der Verwaltungsbehörden erledigte). Durch seine Ende 1938 erschienene materialreiche Monografie über "Das Judentum im osteuropäischen Raum" und durch seine in noch stärkerem Maße antisemitischen und rassistischen Ungeist atmenden kleineren Schriften für Fachorgane und offen zugängliche wie auch interne NSDAP-(Schulungs-)Blätter wurde er einer der wichtigsten Ideengeber und Propagandisten für eine radikale Neuordnung der sozioökonomischen Strukturen in den besetzten polnischen Gebieten. In Übereinstimmung mit den Absichten der NS-Politiker liefen seine planerischen Ansätze darauf hinaus, dass die jüdische Bevölkerung verschwinden - d. h. vertrieben werden - müsse. Ende 1941, nach einem weiteren Radikalisierungsschub unter dem NS-Regime, konnte sich Seraphim als Oberkriegsverwaltungsrat bei der Rüstungsinspektion in der eroberten Ukraine vor Ort selbst ein Bild davon machen, wie die Praktiker des Völkermords nun eine Regelung der "Judenfrage" herbeiführten. Dass Seraphim in einer Denkschrift Kritik daran äußerte - etwa: es habe "eine planmässige Erschiessung der Juden durch [...] Ordnungspolizei stattgefunden", die Durchführung der Massenmorde sei "grauenhaft" - und sie unter Missachtung des Dienstwegs direkt an den Chef des Wirtschafts- und Rüstungsamtes im Oberkommando der Wehrmacht schickte, rechnet der Verfasser Seraphim etwas unvermittelt als "mutigen Widerspruch" (193) an. Sichtbare Konsequenzen hat er aus seiner Bezeugung des Völkermords aber nicht gezogen. Vielmehr hat er - wie Gerhard Volkmer feststellte -"mit seinem Ruf als Wissenschaftler seit 1942 bei der Tarnung der Massenmorde am jüdischen Volk mitgeholfen". [3]
Gleichzeitig wurden seine Verbindungen zum NSDAP-"Institut zur Erforschung der Judenfrage" immer enger. Zu dessen Eröffnung im März 1941 hielt er einen Vortrag, der sich mit den politischen Planungen "in Übereinstimmung" befand, die damals darauf hinausliefen, die Juden Europas sämtlich in unwirtliche, noch zu erobernde sowjetische Gebiete zu deportieren (204, auch 201, 336). Von 1941 bis 1943 war er dann als Schriftleiter der Instituts-Zeitschrift "Weltkampf. Die Judenfrage in Geschichte und Gegenwart" tätig und nahm auch auf diesem Weg an der entscheidenden Radikalisierung der NS-Judenpolitik teil. [4]
Den Niedergang und Fall des 'Dritten Reiches' überstand Seraphim relativ unbeschadet. Den Übergang in das re-demokratisierte (West-)Deutschland ermöglichte ihm - wie manch Anderem - die antikommunistische Expertise. Der US-Geheimdienst internierte ihn 1945/46 bei Washington, um aus seinem Wissen über die Sowjetunion Nutzen zu ziehen. Ein Landsberger Spruchkammer-Entscheid erklärte Seraphim, der sich mit 'Persilscheinen' ehemaliger Mitstreiter versehen hatte, zum politisch Unbelasteten. Der Blick ging, nun von Oberbayern aus, weiterhin Richtung Osten. Nur war es nicht mehr das - inzwischen vernichtete - Ostjudentum, dem er nachspürte, sondern "der Bolschewismus", den Seraphim im Übrigen mit den gleichen Etikettierungen versah, aufgrund derer er zuvor die Bekämpfung der Juden Osteuropas gefordert hatte (235, 249).
Trotz der von ihm mit verantworteten Katastrophe, welche die NS-Politik und insbesondere der nationalsozialistische Mord an den Juden Europas bedeutet hatte, vertrat Seraphim nach 1945 die gleichen antijüdischen Stereotypen. Sein Versuch, erneut im akademischen Bereich Fuß zu fassen, scheiterte ungeachtet kurzzeitiger Lehraufträge in München und Bamberg zu Beginn der 1950er-Jahre an seinem üblen Ruf als NS-Judenforscher. Dessen ungeachtet machte ihn die Stadt Bochum 1954 zum Leiter ihrer Verwaltungsakademie (und, damit verbunden, zum Beamten auf Lebenszeit). Auf Veranlassung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) angestrengte staatsanwaltliche Ermittlungen gegen Seraphim wurden nach einem Jahr 1960 eingestellt. Der vormalige "Weltkampf"-Chefredakteur konnte dem Bochumer Oberstaatsanwalt glaubhaft machen, er habe nicht befürwortet, "die Juden in Ghettos zu verbringen und sie gar physisch auszurotten", sondern vielmehr ihre "geschlossene Auswanderung in ein außereuropäisches Land" beabsichtigt. Er machte geltend, eine solche Vertreibung "wäre nach Lage der Dinge sogar die Rettung für die osteuropäischen Juden gewesen" (336).
Treffend hat dagegen einige Jahre später der West-Berliner Osteuropa-Historiker Werner Philipp Seraphims Verbundenheit mit der nationalsozialistisch ausgerichteten Wissenschaft charakterisiert. Philipp zufolge hatte er sich ohne Zwang eines jener Themen angenommen, die "damals niemand, der auf sich hielt, anfaßte, da ihre Bearbeitung auf jeden Fall vom Regime gebraucht bzw. mißbraucht worden wäre" (339, in einem Vortrag in einer Ringvorlesung an der FU 1966). Der Ostforschung blieb Seraphim durch seine Mitgliedschaft im Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat verbunden, dem er von seiner Gründung bis zum Jahr 1976 angehörte.
Dem behutsam abwägenden, jedoch klar und größtenteils nachvollziehbar wertenden Verfasser ist es gelungen, durch Heranziehen einer Vielzahl von (wenngleich lückenhaften) Quellen ein plastisches Lebensbild des neben Reinhard Maurach und Josef Sommerfeldt einflussreichsten NS-Judenforschers unter den Ostforschern zu schreiben, wobei deutlich wird, dass dessen fragwürdige Karriere nicht allein eine Sache der Forschung zum Nationalsozialismus sein darf. Seraphims Werdegang wirft vielmehr auch heikle Fragen zur Frühzeit der bundesdeutschen Geschichte auf.
Anmerkungen:
[1] Siehe zuletzt die umfangreichen Studien von Eduard Mühle über Hermann Aubin: Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005, s. hierzu die Rezension von Thomas Etzemüller, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 1, URL: http://www.sehepunkte.de/2006/01/10133.html ; Philipp-Christian Wachs über Theodor Oberländer: Der Fall Theodor Oberländer (1905-1998). Ein Lehrstück deutscher Geschichte, Frankfurt/M. u.a. 2000, und Thomas Etzemüller über Werner Conze: Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001, s. hierzu die Rezension von Eduard Mühle, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 4, URL: http://www.sehepunkte.de/2002/04/3210.html
[2] Zum Stand der Aufarbeitung der NS-Judenforschung siehe die Beiträge im Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 5 (2006), 303-598.
[3] Gerhard F. Volkmer: Die deutsche Forschung zu Osteuropa und zum osteuropäischen Judentum in den Jahren 1933 bis 1945, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 42 (1989), 109-214, hier 212.
[4] Vgl. die Analyse der Nazifizierung Seraphimscher Schriften ebenda, 151-167 und 186-192.
Klaus-Peter Friedrich