Rezension über:

Claudia Öhlschläger: Abstraktionsdrang. Wilhelm Worringer und der Geist der Moderne, München: Wilhelm Fink 2005, 262 S., ISBN 978-3-7705-4078-5, EUR 36,90
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Rezension von:
Claus Volkenandt
Kunsthistorisches Seminar, Universität Basel
Redaktionelle Betreuung:
Olaf Peters
Empfohlene Zitierweise:
Claus Volkenandt: Rezension von: Claudia Öhlschläger: Abstraktionsdrang. Wilhelm Worringer und der Geist der Moderne, München: Wilhelm Fink 2005, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 7/8 [15.07.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/07/9526.html


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Claudia Öhlschläger: Abstraktionsdrang

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Die Moderne bleibt ein unvollendetes Projekt - wenn inzwischen wohl auch anders als von Habermas 1980 in seiner Adorno-Preisrede gemeint. Aus der gesellschaftlichen Utopie ist das Projekt einer wissenschaftlichen Historiographie geworden: Die Moderne bestimmt sich fort, indem sie fortgeschrieben, pointierter gesprochen: indem sie fortbeschrieben wird. Nach und mit Postmoderne, zweiter Moderne, der postkolonialen Kritik und vielleicht auch schon dem Ende der Postmoderne aktualisiert sich die Aufgabe, das Projekt der Moderne nach eben seinem (vermeintlichen) Ende, grundlegender Kritiker an ihm und/oder seiner Revitalisierung zu bestimmen. Zugleich ist auch deutlich, dass mit der Öffnung der geisteswissenschaftlichen Fachdiskurse vor allem in eine kulturwissenschaftliche Richtung, das Projekt der Moderne kaum mehr disziplinär beschrieben werden kann, wenn auch, zum Beispiel, eine kunsthistorische Beschreibung des Projektes der Moderne ein dringendes Desiderat ist. Die Moderne ist also als ein vernetztes Projekt zu bestimmen, in dem soziale und alltagskulturelle, text- und bildkünstlerische, genauso wie philosophische, naturwissenschaftliche und ingenieurhafte Momente zusammenwirken. Die Differenzierung in einzelne Wertesphären und wiederum die Binnendifferenzierung dieser Sphären in autonome Subsysteme (Naturwissenschaften / Geisteswissenschaften, Literatur / Kunst, Bildende / Angewandte Kunst usw.) lassen zu Recht die Frage nach Parallelitäten und Vergleichbarkeiten zwischen ihnen aufkommen, nach Antrieben und Übersprüngen, nach Wechselwirkungen und Leitmotiven.

In dieses Netzwerk der Moderne und der Frage nach ihren strukturellen Zusammenhängen hat sich jüngst Claudia Öhlschläger mit ihrer Studie "Abstraktionsdrang. Wilhelm Worringer und der Geist der Moderne" begeben. Titel und Untertitel nennen die zentrale Referenzfigur ihrer Studie: Es ist der Kunsthistoriker Wilhelm Worringer (1881-1965) mit seiner zeitgenössisch hoch wirksamen Dissertation "Abstraktion und Einfühlung" von 1908. Sie ist der Autorin zusammen mit Worringers Habilitationsschrift "Formprobleme der Gotik" von 1911 Kristallisationspunkt einer künstlerisch-intellektuellen Beschäftigung mit Fragen des Zufalls, wie sie sich "in Kunst und Literatur um 1900 parallel zum Schwinden verlässlicher und überschaubarer Wahrnehmungs- und Erkenntnismodi" (12) etabliert. Worringers Abstraktionstheorie, wie er sie vor allem in "Abstraktion und Einfühlung" entwickelt, zeigt sich für Öhlschläger als "eine zivilisationskritische Theorie der Moderne, die im Gewand einer völkerpsychologischen und phylogenetischen Entwicklungsgeschichte der Kunst neuralgische Probleme der Zeit verhandelt: Das Schwinden der Dinge, die Ohnmacht des Menschen gegenüber einer ihm entfremdeten, sinnlich (hier vor allem optisch und haptisch) nicht mehr verfügbaren Objektwelt, und nicht zuletzt die Frage nach dem Stellenwert und der Funktion von Kunst in einem Zeitalter, dem durch einen neuen wissenschaftlichen Geist der Abstraktion das 'Wesen' bzw. die 'Natur der Dinge' und damit auch das Paradigma der Naturnachahmung abhanden gekommen ist." (33)

Damit ist ein Rahmen aufgespannt, der sich auf die Moderne als "Problemgeschichte der künstlerischen Verfügbarkeit einer sich verflüchtigenden und verflachenden Welt" (51) bezieht, sich also an der epochalen Krise eines mimetischen Weltbezugs von textlichen und bildlichen Darstellungen im Modus eines perspektivisch (d.h. auch sprachlich) stabilen Raumes abarbeitet. Für Öhlschläger spiegelt Worringer dieses in seine Abstraktionstheorie, indem er in ihr der Nachahmung das Ornament, dem Raum die Fläche gegenüberstellt. Abstraktion bestimmt sie somit als ein historisches Diskurselement, "das auf verschiedene epistemische Umbrüche und Krisen der Repräsentation seit 1900 verweist. In dieser Perspektive ist die Diskursgeschichte der Abstraktion eng mit der Geschichte moderner Wahrnehmung und ihren Technologien verwoben." (50) In diesem Sinne versteht die Autorin unter Abstraktion vor allem einen "Entzug von Sichtbarkeit und sinnlicher Erfahrbarkeit" (45), wie sie von den Naturwissenschaften seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, beispielsweise in Atomphysik und Elektrizitätslehre, in Gang gebracht worden war. Abstraktion wird hier (außerkünstlerisch) als wahrnehmungstechnologisch forcierte, neue Sichtbarmachung von Welt konturiert, die im Flugzeugblick und dem Blick durch das Mikroskop ihre Leitmedien hat. Die Abstraktion verschiebt die Grenzen der Sichtbarkeit, indem sie einerseits mehr und genauer zu erkennen gibt, indem sie andererseits das Wesen der Dinge in die Unsichtbarkeit verschiebt.

Im konzeptuellen Rückgriff auf Worringer versteht die Autorin die Abstraktionstendenzen in der Kunst um und seit 1900 (in Reaktion auf die neue Sichtbarmachung) als ein geistiges Geschehen und darin vor allem als einen Akt der Kompensation. Worringer hatte den Anfang der Kunst in der Frühzeit der Zivilisation im abstrakten Ornament gesehen, mit dem der frühe Mensch die ihn ängstigenden Kontingenzen der Außenwelt geometrisch und flächenhaft gebannt hatte. Kunst ist hier ein Vorgang der "Entängstigung" - dieses eben auch um und seit 1900. Den Weg zu einer amimetischen Referenz sieht Ölschläger mit Worringer als ein geistiges Geschehen mit einer kompensatorischen Funktion. Der Abbau der mimetischen Referenzen in der zeitgenössischen Kunst führt zu einem geistigen Weltbezug, mit dem Anspruch und der Möglichkeit gebannter Kontingenz.

Damit ist hier in einigen (groben) Strichen der Rahmen skizziert, im dem die Autorin hoch differenziert ästhetische und poetische Konzepte vorstellt, "die implizit oder explizit auf Theoreme dieser Abstraktionstheorie zurückgreifen und auf deren Folie epistemologische und repräsentationale Krisen der Moderne reflektieren". (49) Sie unternimmt dieses in drei Akzentsetzungen:

Die Kapitel 2 und 3 zeigen künstlerische Strategien auf, die auf den Entzug von Sichtbarkeit, dem Unsichtbarwerden der Dinge im Sinne Worringers vor allem geistig reagieren, also in einer Art transzendenten Wendung ihrer künstlerischen Konzepte. Hier kommen August Strindberg und Franz Marc in den Blick (Kap. 2) sowie Rainer Maria Rilke und Wilhelm Hausenstein mit seinem Buch zu Paul Klee von 1921 (Kap. 3). Das 4. Kapitel beschäftigt sich mit der Krise der Repräsentation im Zeichen des Ornaments. Hier greift Öhlschläger die Ornament-Debatte um 1900 auf und zeigt, wie in und mit ihr grundlegende repräsentationale Fragen verhandelt werden: Gustav Klimt, Adolf Loos, Karl Kraus und Hugo von Hofmannsthal diskutieren im Ornament die Grenze zum Unsicht- und Unsagbaren.

Die Kapitel 5 und 6 schließlich stellen dezidierte Strategien der künstlerischen (d.h. bildlichen wie textlichen) Kontingenzkompensation vor. Mit Lászlò Moholy-Nagy und Ernst Jünger führt Öhlschläger künstlerische Konzepte vor (Kap. 5), die die Kontingenz durch eine flächenbezogene (Moholy-Nagy) bzw. augenblickszerlegende (Jünger) Blickregie zu bannen versuchen. Sie setzt ihnen Robert Musil gegenüber, der, indem er den Kontingenzen einen poetischen Raum gibt, zu einer Kritik dieser Konzepte ansetzt. Mit und von Ernst Jünger aus führt die Autorin ihre Argumentation noch weiter (Kap. 6): Unter dem Begriff der "Mimikry" zeigt sie, wie der Surrealist Roger Caillois 1935 ein Konzept der Tarnung vorgelegt hat, das nicht nur geeignet ist, Fragen der Repräsentation zwischen abstrakter Kunst und Tarntechniken des 1. Weltkrieges (an denen beispielsweise Franz Marc beteiligt war) zu erörtern. Sondern Caillois gibt in der Mimikry ein Konzept, auf die visuelle Verfügbarkeit der Welt, wie sie mit der Fotografie forciert wurde, durch ihr Verbergen, also in einem Willen zum Entzug der Welt, zu reagieren. Ein kurzes 7. Kapitel zeigt abschließend das Fortwirken Worringers in der jüngeren französischen Philosophie.

Insgesamt hat die Autorin mit ihrer Studie ein dichtes, anspruchsvolles Buch vorgelegt. Zu seiner Lektüre braucht es Konzentration und Kondition, die mit einer Fülle von Einsichten und - für das Thema besonders wichtig - von Zusammenhängen belohnt wird. Stärken und Schwächen liegen dabei in ihren methodischen Optionen beschlossen. Ihr diskursanalytisches Verfahren erlaubt nicht nur unterschiedliche, sondern heterogene Bereiche zusammenzubringen und in einen strukturellen Zusammenhang zu stellen - dieses ist zentral und hervorzuheben. Das Bild der Moderne, das dabei entsteht, und dieses sei hier kritisch eingewandt, ist das einer gelesenen wie zeitgenössisch reagierenden künstlerischen Moderne. Die Alternative zu dieser latent ikonographisch und ikonologisch entworfenen Moderne ist eine gesehene Moderne, die ihre zentralen Impulse nicht nur aus dem Abbau von Sichtbarkeit, sondern ebenso aus ihrem eminenten Umbau der Sichtbarkeit bezieht - eine Moderne, die sich nicht nur reaktiv beschreibt lässt, sondern die sich aktiv selbst (natürlich nicht nur) bildlich begründet.

Claus Volkenandt