Arno Herzig (Bearb.): Jüdische Quellen zur Reform und Akkulturation der Juden in Westfalen (= Quellen und Forschungen zur Jüdischen Geschichte in Westphalen; Bd. 1), Münster: Aschendorff 2005, 232 S., ISBN 978-3-402-05762-9, EUR 22,00
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Jüdische Geschichte hat Konjunktur, wobei sich seit Jahren das Interesse von der Katastrophe des 20. Jahrhunderts stärker auf die Epochen der höfischen Gesellschaft und der Emanzipationszeit verlagert. Der erste Band einer Reihe über die westfälischen jüdischen Gemeinden weckt hohe Erwartungen, war diese Region doch im Untersuchungszeitraum für die sozioökonomische Entwicklung Preußens und somit für die Entwicklung vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zum kleindeutschen, protestantisch geprägten zweiten deutschen Kaiserreich von besonderer Bedeutung. Dieser Aspekt spielt in dem Band allerdings nur eine hintergründige Rolle, denn im Vordergrund steht die Frage nach dem Kampf zwischen Reformjudentum und Orthodoxie um den Grad der Akkulturation in der preußischen Provinz Westfalen in den Jahren 1814 bis 1856. Die Begrenzung des Darstellungszeitraums ist begründet durch den Beginn der zunächst provisorischen preußischen Zivilherrschaft nach dem Zusammenbruch der Herrschaft Napoleons und der Auflösung des Rheinbundes einerseits, durch den Proteststurm gegen den Versuch, den Gleichstellungsartikel der preußischen Verfassung aufzuheben, andererseits.
Eingeleitet wird der Band durch eine umfängliche Einführung von 36 Seiten, die für das Verständnis der Quellen schlechthin unverzichtbar ist, da diese nur sparsam durch Anmerkungen punktuell erläutert werden. Auf die 78 chronologisch angeordneten Quellen wird teilweise mehrfach verwiesen, während sieben Quellen ausgespart bleiben.
Arno Herzig geht zunächst auf die Situation der Juden in den westfälischen Territorien im ausgehenden 18. Jahrhundert ein, in dem die jüdische Aufklärung (Haskala), wie sie sich besonders in Berlin und in Dessau ausprägte, mit traditionellen Rabbinern in Konflikt geriet. Im Kontrast zu diesen allgemeinen Tendenzen blieben die westfälischen Territorien nahezu unberührt von der Haskala. Beispielhaft für deren Orthodoxie ist die Einrichtung einer Talmudhochschule (Jeschiwa) durch den Landrabbiner Samuel Gerson Steg in Warburg/Westfalen, während es damals schon in der kleinen wohlhabenden jüdischen Oberschicht Anzeichen für akkulturative Bestrebungen gab.
Ein wesentlicher Einschnitt in die regionale jüdische Existenz war die Gründung des Königreichs Westfalen mit dem Napoleon-Bruder Jerôme an der Spitze. Er setzte in Kassel ein Konsistorium der Israeliten ein, das erste Impulse für die Reform gab, indem es zum Beispiel den Rabbinern verstärkt pastorale Aufgaben zuwies. Diese Impulse wirkten fort, als Westfalen sich unter der preußischen Herrschaft zu einem Zentrum der ländlichen Reformbewegung zu entwickeln begann. Die Konflikte, die es in Berlin und Hamburg um die radikale Reform gab, zeigten ihren abgeschwächten Widerschein auch in Westfalen.
Auf die jüdische Reform von oben setzten entschiedene Reformer große Hoffnungen, zumal wenn sie den orthodoxen Rabbinern und den vielfach eher traditionell eingestellten Gemeindemitgliedern misstrauten. Dabei standen sie allerdings einem preußischen Staat gegenüber, der sich als christlich definierte, seinen Reformeifer nach den Siegen über Napoleon erlahmen ließ und die jüdische Bevölkerung in dem Rechtsstatus hielt, der in den jeweiligen Territorien bestanden hatte. In Folge dessen lebten die Juden Westfalens in bis zu zehn verschiedenen Rechtssystemen - bis hin zur in Teilen Westfalens weiterhin gültigen Judenordnung des Kurfürstentums Köln aus dem Jahr 1700, die den Vergeleitungszwang festschrieb.
Die Überzeugungsarbeit in den Gemeinden zu leisten, war ein schwieriger, langwieriger, mit Rückschlägen verbundene Weg, wie an der Auseinandersetzung zwischen dem traditionellen Rabbiner Abraham Sutro und dem jungen Reformrabbiner Salomon Friedländer in Münster gezeigt wird. Durch umsichtige Quellenauswahl mit direkter Gegenüberstellung von Kontroversen sachlicher, aber teilweise auch persönlicher Art werden zentrale Konflikte hervorgehoben (etwa zwischen dem aufgeklärten Rabbiner Joseph Abraham Friedländer und dem orthodoxen Sutro, Quellen 38 f., und zwischen Salomon Friedländer und Sutro, Quellen 53 f., 56 f., 60, 68, 74-77). In diesem Kontext ist nicht nachvollziehbar, wieso die Einstellung Sutros (Quelle 38) im Gegensatz zur Gegenposition nur auszugsweise wiedergegeben wird. Die herkömmliche Form des jüdischen Ritus wurde von aufgeklärten Juden als Peinlichkeit empfunden, wie in den Quellen wiederholt zum Ausdruck kommt, während die als "Amalgamierung" (Haindorf 1827, Quelle 26) verstandene Akkulturation der Juden als positives Gegenbild entworfen wurde. Der junge Rabbiner Salomon Friedländer befürwortete die historisch-kritische Methode zur Auseinandersetzung mit den Inhalten der Bibel (Quelle 62) analog zur christlichen Bibelkritik. Verschiedene Quellen machen die rege Anteilnahme der christlichen Bevölkerung an der jüdischen Reformbewegung deutlich (Quellen 28-30, 56), aber auch Vertreter der Orthodoxie riefen die Christen zur Verteidigung ihrer Lehren auf (Quelle 69).
Dabei wird nachgewiesen, dass die Reformbewegung in den jungen, erst durch Aufhebung der Zuwanderungssperre um die Wende zum 19. Jahrhundert entstandenen jüdischen Gemeinden wie Münster, Iserlohn und Soest sich relativ stark entfalten konnte, während die Gemeinden mit langer Tradition eher an den herkömmlichen Formen festhielten. Beflügelt wurden die Reformbestrebungen durch philanthropische Vereinsgründungen, denen breiterer Raum gewährt wird, wobei neben der Stiftung des Münsteraner Arztes Alexander Haindorf die seines Mindener Kollegen David Julius Heilbronn mit mehreren Quellen vertreten sind. Herzig weist den beiden Ärzten eine "Schrittmacherrolle" (35) in Preußen zu.
Das Gesetz vom 23. Juli 1847 legte die Zusammenfassung der preußischen Juden in Synagogengemeinden und somit eine Vereinheitlichung ihrer Rechtsstellung fest. Besondere Hoffnungen der Juden als religiöser Minderheit richteten sich auf die Revolution von 1848, die nach den Jahrzehnten einer schwerfälligen Reformpolitik den Durchbruch zur Einheitlichkeit ihrer Rechtsstellung und zur Gleichheit neben den christlichen Bürgern durchzusetzen schien. Zu den Errungenschaften zählte der Artikel 12 der oktroyierten Verfassung von 1849, der die Gleichberechtigung der preußischen Bürger unabhängig von ihrem religiösen Bekenntnis festlegte. Als er 1856 von konservativen Abgeordneten in Frage gestellt wurde, löste dies einen Proteststurm (auch) der westfälischen jüdischen Gemeinden aus, die ihr Selbstverständnis als preußische Bürger wie als jüdische Gemeindemitglieder unterstrichen.
Stärker berücksichtigt werden (mit abnehmender Tendenz) die westfälischen jüdischen Gemeinden Münster, Paderborn, Minden, Soest, Brilon, Warburg, Bielefeld, Beverungen, Geseke, Neuenkirchen, Höxter und Iserlohn. Die Quellensammlung erhebt nicht den Anspruch, eine flächendeckende Übersicht über die Entwicklung der jüdischen Gemeinden im Reformprozess zu leisten; viele kleinere Gemeinden werden nicht oder kaum berücksichtigt (eine gewisse Entschädigung scheint hier Quelle 76 leisten zu sollen, die auf den Fortgang der Reform in sieben westfälischen Gemeinden eingeht, darunter Büren, Lübbeke und Lippstadt). Vielmehr geht es dem Herausgeber darum, anhand ausgewählter Quellen die Hauptkonfliktlinien zwischen Reformbestrebungen und Orthodoxie herauszustellen.
Dies geschieht durch Gegenüberstellung der Positionen der Hauptgegner: Joseph Abraham Friedländer (Padberg, Brilon), Lazar Levi Hellwitz (Soest), Alexander Haindorf (Münster), Salomon Friedländer (Münster) als Reformer und Samuel Gerson Steg (Warburg), Abraham Sutro (Münster) als Orthodoxe. Reformbestrebungen betrafen die Fragen der Unterrichtsinhalte, der Schulformen, der Mikwe, der Beschneidungsmethoden, der nicht-mosaischen Feiertage, des Ritus im Gottesdienst und der Funktionen des Rabbiners. In Münster, wo die Auseinandersetzungen um die Reformbestrebungen besonders heftig verliefen, kam es 1847 zur Trennung der Reformgemeinde von der Orthodoxie, die allerdings nur wenige Jahre Bestand hatte, da unter dem Parochialzwang des Gesetzes von 1847 im Jahr 1853 die Rückkehr zur Einheitsgemeinde durchgesetzt wurde.
Der Band wird durch ein fast nur jüdische Begriffe erläuterndes Glossar, ein Literaturverzeichnis sowie einen Personen- und einen Ortsindex abgeschlossen.
Der Quellenband erfüllt in besonderer Weise die Dokumentation der Auseinandersetzungen um Reform und Akkulturation der Juden in Westfalen, wobei er sich aufgrund der exemplarischen Quellenpräsentation auch für Hochschulzwecke empfiehlt.
Horst Sassin