Nathanja Hüttenmeister / Christine E. Müller: Umstrittene Räume: Jüdische Friedhöfe in Berlin. Große Hamburger Straße und Schönhauser Allee (= minima judaica; Bd. 5), Berlin: Metropol 2005, 442 S., ISBN 978-3-936411-55-3, EUR 21,00
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Jüdische Friedhöfe sind per Definition auf Dauer angelegt. Die älteste urkundliche Erwähnung Cöllns an der Spree, später mit Berlin vereinigt, stammt aus dem Jahr 1237, die älteste urkundliche Erwähnung Berlins ist sieben Jahre jünger. Aus eben diesem Jahr 1244 stammt auch der älteste Grabstein eines jüdischen Verstorbenen, der in Spandau bei Berlin (seit 1920 Bezirk von Berlin) beigesetzt worden war. Dieser jüdische Friedhof des 13. Jahrhunderts war bereits lange der Zerstörung anheim gefallen, als im Herbst 1671 bis zu 50 aus Wien vertriebene Juden vom Großen Kurfürsten, Friedrich Wilhelm, aufgenommen wurden. In ihrem Aufnahmeedikt konnten sie den Bau einer Synagoge nicht durchsetzten, wohl wurde ihnen aber der Erwerb und Betrieb eines Beerdigungsplatzes zugesichert. Mit der Einrichtung dieses Friedhofs beginnt - so paradox dies klingen mag - die Geschichte der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Bereits im Februar 1672 kauften die Gemeindegründer erste Grundstücke vor dem Spandauer Tor, d.h. außerhalb Berlins in der Spandauer Vorstadt. Der heutige Befund ist deprimierend. Außer der vierten Neuauflage eines Gedenksteins für Moses Mendelssohn, dessen Geschichte detailliiert dokumentiert wird, gibt es nur wenige friedhofstypische Hinweise auf die ehemalige Nutzung des Geländes als Bestattungsplatz.
Es ist das Verdienst von Nathanja Hüttenmeister, durch Heranziehung von bisher nicht ausgewerteten Quellen aus den Central Archives for the History of the Jewish People (CAHJP) in Jerusalem, eine Rekonstruktion des Friedhofs Große Hamburger Straße besorgt zu haben. Die Rekonstruktion durch diese Dokumentation (15-159) war notwendig geworden, weil der 1672 bis 1827 genutzte Friedhof in der NS-Zeit vollständig verwüstet wurde. 1942 richtete die Gestapo im an den Friedhof anliegenden Jüdischen Altersheim eine Sammelstelle für die zur Deportation bestimmten Berliner Juden ein. In diesem Kontext wurden die Grabsteine zunächst zur Seite gelegt. Ein Splittergraben wurde quer über den Friedhof gezogen sowie Flächen als Sportplatz für das Wachpersonal und zum Ausführen der Häftlinge der Sammelstelle anlegt.
Obwohl die Dokumentation eine von dem in Auschwitz ermordeten Berliner Rabbiner und Privatgelehrten Martin Koppenheim aufgenommene Photosammlung, die ebenfalls im CAHJP aufbewahrt wird, nicht beinhaltet, sind hier nahezu alle verfügbaren Informationen über das Gelände des Friedhofs zusammengetragen worden. Dokumentiert sind seine ursprünglichen Grenzen, die Aufteilung der Reihen, der Lageplan, die Grabsteine, ihre Gestaltung und Inschriften, Statistiken zu Anzahl der für Männer oder Frauen in einzelnen Jahren gesetzten Steine sowie zahlreiche Photographien. Die sorgfältig gearbeitete Dokumentation ist ein unverzichtbarer Schlüssel zur Entzifferung eines nahezu vollständig zerstörten Ortes jüdischer Geschichte Berlins.
Der zweite Teil des Buches enthält eine Studie von Christiane E. Müller den Friedhof Schönhauser Allee betreffend. Er war ab 1827 jüdischer Gemeindefriedhof. Die Studie umreißt, wie schon bei seinem Entstehen im 19. Jahrhundert, die Gegensätze zwischen jüdischer Reformbewegung und "Alt-Frommen"-Positionen einhergingen mit dem Verlust der Macht des Rabbinats zugunsten des Gemeindevorstands. In einem zweiten Teil wird dann die eigentliche Anlage des Friedhofs in seiner stadträumlichen Umgebung und in seiner inneren Gliederung sowie verschiedene Grabsteintypen und andere Gestaltungselemente zusammengetragen. Grabinschriften, ihre Entwicklung und Bedeutung werden in den zeitgenössischen Diskurs eingeordnet. In einem etwa 70 Seiten umfassenden Anhang werden Grabinschriften in Auswahl dokumentiert und kommentiert. Ein zweiter Anhang erschließt die 200 ältesten Grabinschriften, ein dritter Anhang die Erbbegräbnisse und ein vierter die Ehrenreihe.
Die in einem Buch zusammengefassten Studien Hüttenmeisters und Müllers sind als 5. Band der Schriftenreihe MINIMA JUDAICA erschienen. Der Herausgeber, Michael Brocke, langjähriger Hochschullehrer am Institut für Judaistik in Berlin, merkt in seinem Vorwort richtig an, dass sich Berlin erst seit den 1990er Jahren der "jüdischen Grabinschriften als kulturhistorischer Quellen zu erinnern begann" und beklagt zu Recht, dass älteste Zeugnisse der seit 1671 in Berlin lebenden Juden seit 1988 nicht in situ in der Großen Hamburger Straße sind, sondern auf einem anderen jüdischen Friedhof gelagert werden. Ohne Brockes nachhaltiges Engagement wären diese gewichtigen Studien zur jüdischen Geschichte Berlins nicht entstanden. Sie sind ein dauerhafter Beleg seiner Berliner Tätigkeit.
Zur Zeit wird dem Friedhof in der Großen Hamburger Straße ein neues landschaftsgestalterisches Gesicht gegeben. Der Friedhof Schönhauser Allee erhielt vor wenigen Jahren ein Lapidarium, in dem Grabsteine aufbewahrt werden, die sich nach den Luftkriegsschäden Grabstellen nicht mehr zuweisen ließen. Zu hoffen ist, dass dieses wichtige, vom Verlag großzügig mit in Umschlagklappen wiedergegebenen Friedhofsplänen ausgestattete Buch zur Erschließung der beiden jüdischen Friedhöfe beiträgt, damit diese nahezu verschütteten Dokumente jüdischer Geschichte für weitere wissenschaftliche Vertiefungen und gleichzeitig auch als "Lesehilfe" für Besucher dieser Orte erschlossen werden.
Andreas Nachama