Rezension über:

Ezequiel Adamovsky: Euro-Orientalism. Liberal ideology and the image of Russia in France (c.1740 - 1880) (= French Studies of the Eighteenth and Nineteenth Centuries; Vol. 19), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006, 358 S., ISBN 978-3-03910-516-8, EUR 59,60
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Rezension von:
Kristina Küntzel-Witt
Historisches Seminar, Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Susanne Lachenicht
Empfohlene Zitierweise:
Kristina Küntzel-Witt: Rezension von: Ezequiel Adamovsky: Euro-Orientalism. Liberal ideology and the image of Russia in France (c.1740 - 1880), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 9 [15.09.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/09/11717.html


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Ezequiel Adamovsky: Euro-Orientalism

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Mit der hier vorzustellenden ideengeschichtlichen Studie wurde Ezequiel Adamovsky am University College London (SSEES) promoviert. Zurzeit lehrt er Russische Geschichte an der Universität von Buenos Aires und hat kürzlich ein viel beachtetes Buch über Antikapitalismus in Südamerika veröffentlicht. Der zeitliche Rahmen von Adamovskys Abhandlung ist sehr weit gesteckt; er reicht vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, wo er die Auswirkungen des französischen Liberalismus auf die heutigen Debatten zur russischen Geschichte analysiert (15). Auch die methodischen Bezüge sind nicht eng gefasst, sondern umfassen so breit und intensiv diskutierte Themen wie die 'Orientalismus'-Debatte und die Diskussionen um das Vorhandensein einer 'civil society' im vorrevolutionären Russland.

Es geht in der Studie vordringlich um die Identitätsbildung der französischen Liberalen und inwieweit sich diese anhand des Beispiels Russland ideologisch veränderte. Nach einer präzise formulierten Einleitung, in der die zentralen Anliegen des Buches dargelegt werden, folgen zunächst zwei Kapitel zu den französischen Denkern des 18. Jahrhunderts und ihrer Sicht Russlands. Adamovsky analysiert dabei sehr komprimiert, aber überzeugend die Aussagen und Werke von Montesquieu, Voltaire und Rousseau bis zu Diderot, deren Einschätzungen von Russland und dessen Verhältnis zu Westeuropa stark divergierten. Während Voltaire dem Russischen Reich und dem Lebenswerk Peters I. äußerst positiv gegenüberstand, äußerte Rousseau größte Bedenken. Er warf dem Zaren vor, einen unerhörten Bruch in der Geschichte seines Landes provoziert zu haben. Dieser könne langfristig eher zur Zerstörung Russlands als zu dessen Einbindung in die westeuropäische Entwicklung führen, ein Vorwurf, der später von russischer Seite bei der Westler-Slavophilen-Debatte aufgegriffen wurde, worauf der Autor allerdings nicht eingeht.

Sehr anschaulich charakterisiert Adamovsky, wie im 18. Jahrhundert der Begriff 'Zivilisierung' entstand und die Diskussionen um das Wesen des russischen Staates prägen sollte: War Russland nun barbarisch oder nicht, oder war es nur sein asiatischer Teil? Gleichzeitig änderte sich die geographische Wahrnehmung: Bis zum 18. Jahrhundert wurde Europa in Nord- und Südeuropa aufgeteilt, erst im 19. Jahrhundert begann sich der Begriff Osteuropa durchzusetzen, wobei es im Französischen oft als 'l'Europe orientale' bezeichnet wurde (250).

In den folgenden drei Kapiteln werden die Stellungnahmen der wichtigsten liberalen französischen Philosophen und Historiker des 19. Jahrhunderts zum Zarenreich analysiert, wie z.B. Tocqueville. Für liberale Denker ging es im 19. Jahrhundert immer stärker darum, sich einerseits gegen ultrakonservative Ideen und andererseits gegen kommunistische Gedankenspiele durchzusetzen. Russland wurde als autokratisch regierter Staat sowohl von den Traditionalisten als auch von den Kommunisten auf Grund der als Kommune organisierten Dorfgemeinde (dem 'mir') idealisiert. Konsequenterweise nahmen die französischen Liberalen im Laufe des 19. Jahrhunderts Russlands Entwicklung nur mehr als negativ wahr. Der russische Staat erschien ihnen despotisch und unzivilisiert, weil angeblich eine Mittelklasse und eine nach politischer Mitbestimmung strebende Bourgeoisie fehlte, und außerdem die Europäisierung des Landes nur in den privilegierten Gesellschaftsschichten erfolgreich gewesen sei - alles Argumente, die man in aktuellen Debatten wieder finden kann, worauf der Autor auch hinweist.

Im anschließenden Kapitel wird der Aufbau akademischer Institutionen zur Erforschung Osteuropas aufgezeigt, wobei Frankreich eine Vorreiterrolle innehatte. In Paris wurde 1848 der erste europäische Lehrstuhl für 'Slawische Studien' erstmals besetzt, und zwar vom polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz. Adamovsky zeigt den inhärenten Eurozentrismus und seine Nähe zum 'Orientalismus' in Hinblick auf Osteuropa auf und führt hierfür den Begriff 'Euro-Orientalism' ein, den er stark auf Edward Saids Konzept bezieht. [1] Was an dieser Stelle fehlt, ist ein Hinweis, dass es auch einen russischen Orientalismus gibt, in Bezug auf das Verhältnis des europäischen Russlands zum Kaukasus und zu seinen sibirischen und zentralasiatischen Völkern. Die Perspektive des Autors bleibt damit einseitig, der Blick geht ausschließlich von West nach Ost und lässt außer Acht, dass die westlichen intellektuellen Strömungen starke russische Reaktionen hervorriefen, wie z.B. Westlertum und Panslawismus.

In den letzten beiden Kapiteln vor dem Fazit geht es um die Analyse des Konzepts der 'Zivilisierung' und des 'Euro-Orientalismus', wobei die Begriffe nochmals sorgfältig definiert und die Hauptdiskussionslinien zu diesen Themenbereichen dargestellt werden. Hier verlässt Adamovsky zusehends die historische Perspektive und wendet sich zeitgenössischen Fragestellungen zu, in denen er hinterfragt, wie dominierend der historische Liberalismus für heutige akademische Diskussionen ist. Am Ende zieht er ein sehr kritisches Fazit: "The violence implicit in the normative discourse of the European/ Western self and its others has always accompanied, justified and organised the explicit violence by means of which the Westernisation (read inclusion in the capitalist order') of the world was, and still is, accomplished. And Euro-Orientalism is no exception."(Hv. v. Adam., 275)

Zusammenfassend kann man festhalten, dass das Buch einen überzeugenden Überblick bietet über die Wahrnehmung Russlands durch französische liberale Denker des 18. und 19. Jahrhunderts und die Entwicklung des französischen Liberalismus kompakt und sehr gut verständlich charakterisiert. Leider fehlt die russische Reaktion auf diese Dispute. Im Schlussteil wird Adamovsky sehr polemisch, was den guten Eindruck der komplexen historischen Teile des Buches trübt. Sein Terminus 'Euro-Orientalismus' klingt sperrig, doch es gelingt ihm auf jeden Fall, die Vergleichbarkeit westeuropäischer Denkmuster darzulegen, die sowohl das westliche Verständnis von der arabisch-islamischen Welt geprägt haben als auch deren Verhältnis zu Russland. Allerdings vernachlässigt er die religiöse Dimension dieses Diskurses vollständig. Der Autor bringt die Ambivalenz des westeuropäischen Verständnisses von Russland als europäisch-asiatischem Reich anschaulich zum Ausdruck, und er belegt, wie im Zeitalter der Aufklärung diese eurozentristischen Denkstrukturen geprägt wurden. Doch er widerspricht vehement Thesen, die behaupten, dass es einen 'Orientalismus' bereits im 18. Jahrhundert gegeben habe, eine These, die er Larry Wolff unterstellt. [2] Für Adamovsky kann man von 'Orientalismus' nur in Zusammenhang mit dem Imperialismus des 19. Jahrhunderts sprechen, womit er sich vollends auf der Argumentationslinie Edward Saids befindet.


Anmerkungen:

[1] Edward Said: Orientalism, New York 1978

[2] Larry Wolff: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994.

Kristina Küntzel-Witt