Rezension über:

Helmut Altrichter (Hg.): GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozeß Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas (= Schriften des Historischen Kollegs; 61), München: Oldenbourg 2006, XXIV + 326 S., 7 Abb., ISBN 978-3-486-57873-7, EUR 49,80
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Rezension von:
Leonid Luks
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Empfohlene Zitierweise:
Leonid Luks: Rezension von: Helmut Altrichter (Hg.): GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozeß Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas, München: Oldenbourg 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 11 [15.11.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/11/10965.html


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Helmut Altrichter (Hg.): GegenErinnerung

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Im Jahre 1988 reflektierte der Moskauer Historiker Jurij Afanas'ev über den Zustand der sowjetischen Historiografie und kam dabei zu dem Schluss, "daß es wohl in der Welt kein Land gibt, dessen Geschichte dermaßen verfälscht ist wie unsere". [1] Ähnlich verhielten sich bekanntlich die Dinge auch in den anderen Ländern des "real existierenden Sozialismus". So gehörte der Kampf gegen die von der Propaganda verbreiteten Fiktionen, der Kampf "um unsere und euere Wahrheit" (Adam Michnik) zu den zentralen Anliegen der Reformer im gesamten Ostblock. Wie diese Auseinandersetzung zu einer allmählichen Delegitimierung der kommunistischen Regime und dann zu deren Auflösung führte, wird in dem vorliegenden Sammelband, der auf einer Tagung des Münchner Historischen Kollegs vom Juni 2002 basiert, ausführlich dargestellt. Den zweiten Schwerpunkt der Schrift bildet die Analyse der historischen Diskurse in Osteuropa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus.

Was die Periode der Perestrojka anbetrifft, so stellen viele Autoren des Bandes fest, dass die Fachhistoriker zu den letzten gehörten, die die bis dahin bestehenden Tabus anzutasten wagten. Das war in erster Linie in der ehemaligen Sowjetunion der Fall. Schriftsteller, Filmregisseure und andere Künstler waren auf diesem Gebiet wesentlich kühner. Joachim Hösler bezeichnet die sowjetische Historikerzunft als "die Nachhut der Perestrojka" (9).

Dies war auch nicht verwunderlich. Da die kommunistischen Regimes sich in erster Linie durch ihre historische Mission und nicht demokratisch legitimierten, war der Kampf der Partei gegen abweichende Tendenzen in der Geschichtswissenschaft besonders rigoros. Schriftsteller oder Filmschaffende hingegen, die sich fiktiver Sujets bedienten, konnten mit Hilfe von Anspielungen wesentlich freier mit den verordneten historischen Interpretationsmustern umgehen als "offizielle" Historiker.

Die Tatsache, dass die Fachhistoriker zu den Nachzüglern der Perestrojka zählten, hatte auch mit der Vorgeschichte der Historikerzunft in den kommunistischen Ländern zu tun, vor allem mit der fortwährenden Verdrängung der reformerisch gesonnenen Autoren durch Dogmatiker, die mächtige Gönner im herrschenden Apparat besaßen. Solchen Säuberungsaktionen fielen in der Sowjetunion Historiker wie Aleksandr Nekrič, Michail Gefter oder Viktor Danilov und in der Tschechoslowakei unzählige Vertreter der 68er-Generation zum Opfer. Diese Entwicklungen werden vor allem in den Beiträgen von Joachim Hösler und Hans Lemberg thematisiert. Über die Ausmaße der Säuberungsaktion in der Tschechoslowakei schreibt Lemberg: "In den Institutionen und Universitäten gaben angepaßte und mediokre Historiker den Ton an. Entsprechend sank schlagartig das Niveau der zentralen Zeitschriften und Publikationen. Fast alle diejenigen, die sich zuvor kreativ am Rande oder außerhalb der Partei-Orthodoxie profiliert hatten und international bekannt geworden waren, wurden mit Berufsverbot belegt." (155)

Nur das kommunistische Polen stellte, wie so oft, eine Ausnahme im gesamten Ostblock dar: "Die polnische Geschichte - oder besser ihre Repräsentation im gesellschaftlichen Bewußtsein - erwies sich als sehr widerständig gegen die Implementierung einer marxistischen Meistererzählung", stellt Claudia Kraft in ihrem Beitrag fest (131). Vor allem während der Solidarność-Periode, die das Streben nach Transparenz und den Kampf gegen die historische Lüge geradezu verkörperte, fand eine "Explosion des Gedächtnisses" statt, die die ideologischen Grundlagen des Regimes weitgehend aushöhlte. Claudia Kraft hebt hervor: "Spätestens seit dieser Zeit hatte die Oppositionsbewegung einen 'counter-hegemonic discourse' gegenüber der Staatsmacht durchgesetzt." (138)

Bei der Analyse der historischen Diskurse in der kommunistischen Periode kommt in diesem Band ein Faktor zu kurz - die Exilhistoriografie. Die in den kommunistischen Staaten tabuisierten Themen wurden intensiv von den russischen, ukrainischen oder polnischen Exilhistorikern erforscht, die am westlichen Diskurs, von dem ihre Kollegen in den jeweiligen Heimatländern abgeschnitten waren, partizipierten und die diesem Diskurs zahlreiche Impulse gaben. Die Werke der Emigranten gelangten zwar selten in ihre Heimatländer und sie zu besitzen wurde oft drakonisch bestraft. Sie wurden allerdings durch Auslandssender wie Radio Liberty, Free Europe, Deutsche Welle oder BBC den Zuhörern hinter dem "Eisernen Vorhang" zugänglich gemacht. Dies höhlte das Informationsmonopol der kommunistischen Machthaber zumindest teilweise aus und bereitete künftige Reformen mit vor.

Wie entwickeln sich die geschichtlichen Diskurse in Osteuropa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus? Dieses Thema stellt, wie bereits gesagt, den zweiten Schwerpunkt des Bandes dar. Den roten Faden dieser Debatten bildet die Wiederentdeckung des Nationalen. Der proletarische Internationalismus, der das Herzstück der kommunistischen Ideologie darstellt, erlebte bereits in den 60er-Jahren, nach dem Zusammenbruch des osteuropäischen "Revisionismus" (insbesondere nach der Zerschlagung des Prager Reformversuchs), eine weitgehende Erosion. Schon damals ließ sich in den einzelnen Ländern der Region unter dem kommunistischen Deckmantel eine nationale Renaissance beobachten. Nach der Wende von 1989 bzw. 1991 beschleunigten sich diese Prozesse noch. Überall verspürt man heute die Sehnsucht nach Wiederherstellung der historischen Kontinuität, die infolge der kommunistischen Machtergreifung unterbrochen worden war. Aber woran will man wieder Anschluss finden? An liberale, weltoffene oder an isolationistisch-ethnozentrische, an sozialdemokratische oder an rechtsextreme Traditionen? Darüber hinaus stellen in einer Reihe südosteuropäischer Länder die Monarchisten einen wichtigen Faktor dar, was sich besonders deutlich im spektakulären Sieg des bulgarischen Ex-Zaren bei den Parlamentswahlen im Jahre 2001 äußerte.

Dass die Osteuropäer nach der Befreiung von der kommunistischen Diktatur zwischen links und rechts, zwischen den europafreundlichen Liberalen und den europaskeptischen Populisten pendeln, stellt für den alten Kontinent nichts Ungewöhnliches dar. Auch im Westen lassen sich vergleichbare Tendenzen beobachten. Dieses Pendeln ist in gewisser Hinsicht eine europäische Normalität. Was allerdings die östliche Hälfte des Kontinents von der westlichen unterscheidet, ist die Tatsache, dass der Osten im Gegensatz zum Westen nicht nur eine, sondern zwei Varianten des Totalitarismus erleiden musste. So ist der Vergleich zwischen der nationalsozialistischen und der stalinistischen Terrorherrschaft hier nicht nur Gegenstand historischer Diskurse, sondern auch Bestandteil des Kollektivgedächtnisses.

Mit dieser "doppelten" Vergangenheitsbewältigung befassen sich viele Beiträge des Bandes, insbesondere aber der Aufsatz von Karsten Brüggemann, der die historischen Debatten in Estland analysiert. Mit Recht weist der Autor darauf hin, dass im vergrößerten Europa die Besonderheiten des östlichen Kollektivgedächtnisses stärker berücksichtigt werden müssen, als dies bisher der Fall war. Aber diese Würdigung der Sicht des Anderen darf nicht eingleisig sein. Auch der Osten muss sich gegenüber den Ergebnissen der westlichen Totalitarismus- wie auch Holocaustforschung öffnen, die im sowjetischen Machtbereich jahrzehntelang tabuisiert war. Mit Empathie zitiert Brüggemann die Aussagen seiner baltischen Gesprächspartner: "Akzeptiert endlich, daß für uns die roten Verbrechen schlimmer waren als die braunen", und fügt dann selbst hinzu: "Es muß [...] im Westen akzeptiert werden, daß der stalinistische Terror für die Esten, Letten und Litauer wie der Holocaust für die Juden zu einem wesentlichen Teil der eigenen Identität geworden ist." (41) Die Einfühlung des Autors in die Argumentation der Opfer der roten Diktatur und ihrer Nachkommen ist durchaus verständlich. Dies befreit ihn allerdings nicht von der Pflicht zu differenzieren. Der Beschluss der NS-Führung, das gesamte jüdische Volk vom Säugling bis zum Greis, unabhängig von der sozialen Herkunft und der Religionszugehörigkeit der Betroffenen, auszulöschen, stellt einen einzigartigen Vorgang in der neuesten Geschichte dar. Die vom stalinistischen Regime unterworfenen Völker wurden zwar furchtbar dezimiert, partiell oder gänzlich deportiert, zum Sklavendasein verurteilt. Mit dem Holocaust lassen sich diese Terrormaßnahmen aber nicht gleichsetzen. [2]

Dass historische Debatten in Osteuropa derart emotional geführt werden, dass eine "Historisierung" der Vergangenheitsbewältigung hier nur in Ansätzen stattfindet, ist nicht verwunderlich. Man muss sich nur in Erinnerung rufen, wie emotional ähnliche Debatten noch vor kurzen in der Bundesrepublik geführt wurden, so der 1986 begonnene Historikerstreit oder die einige Jahre später von Daniel Goldhagen ausgelöste Kontroverse. Dabei darf man nicht vergessen, dass diese Diskussionen vierzig bzw. fünfzig Jahre nach der "Stunde Null" stattfanden. In Osteuropa sind indessen nur etwa anderthalb Jahrzehnte seit der Wende vergangen. Deshalb ist es recht weltfremd, wenn Claudia Kraft den polnischen Historikern vorwirft, deren Debatten über die kommunistische Vergangenheit befassten sich in erster Linie mit eher historiosophischen Fragen, etwa ob "die Volksrepublik Polen ein besetztes Land war", und vernachlässigten die Alltagsgeschichte und die Institutionsgeschichte dieser Epoche (147). Auch in der Bundesrepublik mussten erst mehrere Jahrzehnte vergehen, bis man von den historiosophischen Debatten über die Ursachen der "deutschen Katastrophe" und über den "deutschen Sonderweg" zur Erforschung des Alltags im Nationalsozialismus überging. Man sollte auch den Osteuropäern etwas mehr Zeit für die Historisierung ihrer Debatten lassen.

Der vorliegende Band beeindruckt durch seine Breite - beinahe alle postkommunistischen Länder werden hier berücksichtigt - und die Gründlichkeit der meisten Beiträge. Was man hier allerdings vermisst, ist die vergleichende Analyse. Bis auf die Einleitung von Helmut Altrichter und den Aufsatz von Carl Bethke und Holm Sundhausen über die "Geschichte in den jugoslawischen Nachfolgekriegen" widmen sich andere Autoren nur am Rande dem Vergleich zwischen den einzelnen Ländern der Region. Trotz dieses Defizits stellt das Buch für jeden, der sich über die Rolle der Geschichte und der Geschichtswissenschaft in den osteuropäischen Transformationsländern informieren will, ein unentbehrliches Referenzwerk dar.


Anmerkungen:

[1] Jurij Afanas'ev (Hg.): Es gibt keine Alternative zu Perestroika. Glasnost, Demokratie, Sozialismus, Nördlingen 1988, 572.

[2] 1986, während des deutschen "Historikerstreits", schrieb Eberhard Jäckel in diesem Zusammenhang: "Ich behaupte [...], daß der nationalsozialistische Mord an den Juden deswegen einzigartig war, weil noch nie zuvor ein Staat mit der Autorität seines verantwortlichen Führers beschlossen und angekündigt hatte, eine bestimmte Menschengruppe einschließlich der Alten, der Frauen, der Kinder und der Säuglinge möglichst restlos zu töten, und diesen Beschluß mit allen nur möglichen staatlichen Machtmitteln in die Wirklichkeit umsetzte." (Eberhard Jäckel: Die elende Praxis der Untersteller, in: "Historikerstreit". Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München-Zürich 1987, 115-122, hier 118).

Leonid Luks