Alain Villes: La cathédrale Saint-Étienne de Châlons-en-Champagne et sa place dans l'architecture médiévale, Langres: Éditions Dominique Guéniot 2006, 460 S., ISBN 978-2-87825-226-2, EUR 59,00
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Alain Villes, Kunsthistoriker und Archäologe am französischen Musée d'Archéologie National, hat eine neue Monografie zur Kathedrale von Châlons-en-Champagne vorgelegt. Sie gehört wie die Kathedralen von Toul und Metz, denen Villes ebenfalls ausführliche Studien gewidmet hat [1], zu den von der Forschung bislang eher stiefmütterlich behandelten Bauten 'zweiten Ranges' im Umfeld des Reimser Kathedralbaus. So gab es bislang keine ernst zu nehmende moderne Monografie der Kathedrale von Châlons, die wichtigsten Erkenntnisse waren Aufsätzen von Robert Branner und Jean-Pierre Ravaux zu entnehmen. Angesichts der sich immer deutlicher abzeichnenden Bedeutung dieser Bautengruppe gerade für die Entwicklung der gotischen Architektur im deutschsprachigen Raum [2] stellt die Publikation von Alain Villes eine willkommene Bereicherung dar und sollte auch hierzulande auf großes Interesse stoßen.
Alain Villes' umfangreiche Studie widmet sich, unterteilt in 6 Kapitel, der Baugeschichte von St-Étienne, vom ersten karolingischen Bau über die romanische Kathedrale bis hin zum gotischen Monument, welches erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit einer frühklassizistischen Fassade vollendet werden konnte. Dabei hat der Autor das erhaltene Quellenmaterial ebenso sorgfältig gesichtet und in die Darstellung mit einbezogen wie die archäologischen und stilanalytischen Befunde. Gerade in den formanalytischen Passagen geht der Text häufig weit über das für stilistische Vergleiche Übliche und Notwendige hinaus. So wird der Leser immer wieder mit grundsätzlichen Überlegungen zur Baukunst Frankreichs konfrontiert, die es eigentlich verdient hätten, in einem eigenen Buch veröffentlicht zu werden. Zweifellos verlangen die zahlreichen Exkurse, beispielsweise zum Verhältnis der Châlonnaiser Hütte zu den Zentren der Rayonnantarchitektur oder auch bezüglich der nachmittelalterlichen Baumaßnahmen, ein gewisses Durchhaltevermögen des Lesers, zumal die textliche Gliederung bisweilen Stringenz und Übersichtlichkeit vermissen lässt. Dafür verleihen diese Ausführungen dem Text eine Tiefe, wie sie Baumonografien selten zu eigen ist. Alain Villes gelingt es, St-Étienne in Châlons nicht nur als bauarchäologische Aufgabe zu behandeln, sondern er leistet auch die Verortung in der Architekturgeschichte.
Was die Chronologie angeht, so weichen die Ergebnisse Alain Villes bisweilen deutlich von der bislang als Stand der Forschung geltenden, von Ravaux erarbeiteten Baugeschichte ab. Generell kommt Villes für die gotischen Bauteile zu geringfügig früheren Datierungen, die durch die Quellenlage, Beobachtungen am Bau und Stilvergleiche gut abgestützt sind. Unterschiede zu Ravaux finden sich darüber hinaus in der Definition der einzelnen Bauphasen und in den Hypothesen hinsichtlich der zum Teil rasch aufeinander folgenden Planwechsel. Hier trägt Alain Villes, indem er nicht nur seine bevorzugten Lösungen präsentiert, sondern die verschiedenen Denkmodelle einander abwägend gegenüberstellt, viel zur wissenschaftlichen Klarheit bei und schafft gleichzeitig Raum für neue Gedankenexperimente.
Dies macht sich besonders wohltuend bei der Darstellung des Verhältnisses zur benachbarten Stiftskirche Notre-Dame-en-Vaux bemerkbar. Für Alain Villes ist der Wettstreit, der sich zwischen den beiden Bauhütten und ihren Auftraggebern, dem Domkapitel respektive dem Kanonikerstift, entsponnen hat, das Movens schlechthin für die künstlerische Entwicklung des Kathedralbaus. Bereits um 1150, als der romanische Neubau der Kathedrale noch in vollem Gange war, machte sich das Konkurrenzverhältnis bemerkbar. An St-Étienne kam es in der Folge zunächst zu einer Erhöhung des im Bau befindlichen Langhauses und dabei schließlich zur Hinwendung zu den Bauformen der Gotik. Der hier bereits feststellbare Zug zur Modernität setzt sich fort bei dem 1205, noch vor der endgültigen Fertigstellung der romanischen Kathedrale, begonnenen zweiten Neubau. Interessanterweise entschied man sich in Châlons nicht für den im französischen Königreich zunehmend üblichen Umgangschor mit Kapellenkranz, sondern wiederholte, genau wie etwa gleichzeitig in Toul, die monumentale Apsis mit Flankentürmen des romanischen Vorgängerbaus, nun allerdings in gotischen, von der Reimser Kathedrale inspirierten Formen.
Ab etwa 1235 traten in Châlons, ähnlich wie wenig später am Dombau in Metz, die Reimser Einflüsse zugunsten der modernen Rayonnantgotik zurück. Dass die Chalonnaiser Bauhütte dabei auch innovative Qualitäten entwickelte, belegen beispielsweise die von Alain Villes um 1230 datierten dreiteiligen Maßwerkfenster im Obergaden des Chores. Sie gehören zu den frühesten ihrer Art und wirken mit ihrer abgesenkten Mittelbahn wie die Vorläufer von später in York und Regensburg anzutreffenden Formen. Anscheinend vermochte der Kathedralbau von Châlons-en-Champagne, wie Alain Villes anhand zahlreicher Parallelen zwischen Châlons, Toul, Metz und Straßburg, aber auch der Architektur Brabants suggeriert, tatsächlich bis in die Provinzen des Heiligen Römischen Reiches hinein auszustrahlen.
Ein wesentlicher Antrieb für die Innovationskraft der Dombauhütte in Châlons dürfte, so Alain Villes, auch im 13. Jahrhundert noch der Wunsch gewesen sein, die konkurrierende Stiftskirche Notre-Dame-en-Vaux in den Schatten zu stellen. Zweifellos hätte sich das Châlonnaiser Domkapitel gerne die Dimensionen einer Kathedrale von Beauvais oder den Bauschmuck der Reimser Bischofskirche gegönnt. Da man diesbezüglich aber schon aus rein finanziellen Gründen Mäßigung zu üben hatte, legte man beim Bau von St-Étienne umso größeren Wert auf die innovativen Qualitäten. Das Beispiel von Châlons zeigt, dass mit dem Aufkommen der Gotik Modernität an sich zu einem repräsentativen Element der Architektur geworden ist, welche damit in der Lage war, einen Ersatz für fehlende Größe zu liefern. In der Region hat die Bauhütte von St-Étienne mit dieser Haltung Maßstäbe gesetzt, die bis in die Spätgotik hinein gültig blieben, wie das Beispiel von Notre-Dame de l'Épine verdeutlicht. Auch im mittleren Europa lassen sich diesbezüglich Parallelen finden, angefangen vom Straßburger Münsterlanghaus über die Katharinenkirche in Oppenheim bis hin zum Wiener Stephansdom. Die Kathedrale von Châlons-en-Champagne entpuppt sich so bei näherem Hinsehen als ein mindestens ebenso interessantes Studienobjekt, wie die Großbauten im Kernland der Gotik. Vielleicht sind die an ihrer Baugeschichte zu gewinnenden Erkenntnisse sogar für das Bauwesen der Zeit typischer und zugleich besser übertragbar auf die Vielzahl der kleineren Bauunternehmungen, welche das Bild der gotischen Architektur im deutschen Sprachraum prägen.
Alain Villes jedenfalls hat mit dem vorliegenden Band nicht nur die Forschungslücke bezüglich der Kathedrale von Châlons-en-Champagne geschlossen. Er hat darüber hinaus ein wichtiges und anregendes Buch zur französischen, aber auch zur mitteleuropäischen Gotik vorgelegt, welches die Aufmerksamkeit der deutschsprachigen Forschergemeinde verdient.
Anmerkungen:
[1] Vgl. zuletzt Alain Villes: La cathédrale de Toul. Histoire et architecture, Metz 1983; Alain Villes: Remarques sur les campagnes de construction de la cathédrale de Metz au XIIIe siècle, in: Bulletin Monumental, 162, 2004, 243-272.
[2] Vgl. Marc Carel Schurr: Gotische Architektur im mittleren Europa. Von Metz bis Wien, München / Berlin 2007.
Marc Carel Schurr