Rezension über:

Alexis Hofmeister: Selbstorganisation und Bürgerlichkeit. Jüdisches Vereinswesen in Odessa um 1900 (= Schriften des Dubnow-Instituts; Bd. 8), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 285 S., ISBN 978-3-525-36986-9, EUR 32,90
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Kerstin Armborst
Institut für Europäische Geschichte, Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Kerstin Armborst: Rezension von: Alexis Hofmeister: Selbstorganisation und Bürgerlichkeit. Jüdisches Vereinswesen in Odessa um 1900, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 11 [15.11.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/11/13451.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Alexis Hofmeister: Selbstorganisation und Bürgerlichkeit

Textgröße: A A A

In der Schriftenreihe des Simon-Dubnow-Instituts in Leipzig erscheinen schwerpunktmäßig Studien zur jüdischen Geschichte im östlichen Europa, die einem integrativen Ansatz folgend jüdische Geschichte im Kontext einer allgemeinen und gesamteuropäischen Geschichte erforschen und ihren Blick insbesondere auf kulturell gemischte historische Räume richten. Mit der Dissertation von Alexis Hofmeister liegt nun ein weiterer Band vor, der sich mit seiner Konzentration auf das jüdische Vereinswesen in der Vielvölkerstadt Odessa um 1900 sehr gut in diese Reihe einfügt.

Mit Odessa rückt Hofmeister eine Stadt ins Blickfeld, die innerhalb des Russischen Reiches eine Ausnahmeposition einnahm: Die noch junge Metropole hatte als bedeutende Handels- und Hafenstadt im 19. Jahrhundert eine rasante wirtschaftliche Entwicklung und eine kontinuierliche Arbeitsmigration erlebt, ihre Bevölkerung setzte sich aus einer Vielzahl an ethnischen und konfessionellen Gruppen und Gemeinschaften zusammen, die jeweils eigene Institutionen gegründet hatten. Doch Hofmeister geht es nicht um die Darstellung von Ausnahmeerscheinungen, sondern vielmehr betrachtet er das jüdische Vereinswesen in Odessa als Teil der jüdischen Soziabilität im Russischen Reich und somit als repräsentativen Untersuchungsgegenstand (16), aber aufgrund der Integration der jüdischen Vereine in ein lokales Vereinswesen auch als beispielhaft für eine Tendenz zur Verdichtung der Vergesellschaftung im ausgehenden Zarenreich (24).

Besondere Relevanz für die jüdische Geschichte kommt dem Untersuchungsgegenstand dadurch zu, dass sich Odessa um die Jahrhundertwende nicht nur hinsichtlich der Bevölkerungszahl zu einem bedeutenden Zentrum jüdischen Lebens im Russischen Reich entwickelt hatte. In der Ära der liberalen Reformen der 1860er-Jahre waren von den maskilim, den jüdischen Aufklärern, in Odessa bedeutende Impulse ausgegangen, und bis zum Pogrom von 1871 konnte Odessa als Modell jüdischer Akkulturation gelten. Die vorliegende Studie fasst diese Entwicklungen zusammen, konzentriert sich indes aber auf einen Zeitraum der neuen Herausforderungen, in dem als Reaktion auf die enttäuschten Emanzipationshoffnungen unterschiedliche Strömungen innerhalb des Judentums entstanden und die Odessaer Zirkel insbesondere für die nationale Bewegung eine bedeutende Rolle zu spielen begannen. Dass auch das jüdische Vereinswesen zum jüdischen, partiell sogar zum israelischen nation-building beigetragen habe, ist eine der Ausgangshypothesen der Studie (15).

Obgleich mit der Frage nach der "Soziabilität" der jüdischen Gemeinschaft Odessas, verstanden im Sinne des von Maurice Agulhon eingeführten Konzepts der "sociabilité" (19), ein Aspekt jüdischer Lokalgeschichte im Zentrum steht, wird der Bogen doch weiter geschlagen. Anknüpfend an neuere Untersuchungen zur städtischen Gesellschaft in Odessa und an Forschungen zum "Bürgertum" im Russischen Reich berücksichtigt Hofmeister nicht nur den gesamtstädtischen und gesamtstaatlichen Kontext, sondern punktuell dehnt er den Untersuchungsrahmen immer wieder auch auf die Entwicklungen der jüdischen Gemeinschaften in Westeuropa aus.

Um seine in der Einführung formulierte These, der zufolge Entwicklungs- und Verdichtungstendenzen von Soziabilität Aussagen über den Zustand der sich vergesellschaftenden ethnisch oder sozial konstituierten Gruppen erlauben (25), zu überprüfen, will Hofmeister Genese und Geschichte mehrerer jüdischer Vereine untersuchen, wobei er nicht nur vereinsinterne Konflikte analysieren, sondern auch nach der Rolle des jeweiligen Vereins innerhalb der Palette lokaler Soziabilität fragen will. Daher stellt er in einem ausführlichen Überblick (71-107) zunächst das differenzierte Vereinswesen in Odessa seit 1860 dar und skizziert so den Kontext, in dem die im Folgenden näher untersuchten drei säkularen jüdischen Vereine entstanden und agierten.

Dem 1863 gegründeten "Selbsthilfeverein der jüdischen Handlungsgehilfen Odessas" (OVP), der ab 1867 bestehenden Odessaer Filiale der "Vereinigung zur Verbreitung der Aufklärung unter den Juden in Russland" (OPE) und dem 1890 ins Leben gerufenen "Hilfsverein für die jüdischen Landarbeiter und Handwerker in Syrien und Palästina" (OVZ) widmet die Studie jeweils ein eigenes Kapitel. Anhand der Entwicklungsgeschichte der Vereine sollen drei "Trends" verifiziert werden: die Manifestation von Demokratisierungsprozessen, das Voranschreiten von Säkularisierungsprozessen und die Verkörperung generationstypischer Haltungen (16). Dazu werden nicht nur die satzungsgemäßen Aufgaben und deren Umsetzung, Mitgliedschaft und Träger der Vereine untersucht, sondern auch die jeweiligen Themenkomplexe, in die sich Tätigkeit und Entwicklung der Vereine einordnen - die Lage der Handlungsgehilfen, jüdische Schulbildung im Russischen Reich, Entstehung des Zionismus und seiner verschiedenen Strömungen -, ausführlich beleuchtet. Auf diese Weise wird die Rolle der Vereine im Horizont der Prozesse von Modernisierung, Säkularisierung und Politisierung innerhalb der jüdischen Gesellschaft klar herausgearbeitet. Die Relevanz der zum Teil sehr weit ausholenden Kontextualisierungen für die eigentliche Fragestellung könnte an manchen Stellen allerdings deutlicher hervorgehoben werden. Wesentlich zu kurz kommt das jüdische Vereinswesen in Odessa im letzten Kapitel, das unter dem Titel "Autoemanzipation durch Muskelkraft" der "Vereinigung zum Schutz der Gesundheit der jüdischen Bevölkerung" (OZE) und dem Sportklub "Makkabi" gewidmet ist (203-225). Tätigkeit und Bedeutung der OZE werden stark reduziert dargestellt, im Mittelpunkt des Kapitels stehen die jüdische Turnbewegung in Westeuropa und den USA sowie die Entwicklung der Turn- und Sportvereine im Zarenreich; der Odessaer Sportklub "Makkabi" wird gerade mal auf zwei Seiten abgehandelt.

Hofmeisters Studie, die mit einem konzisen Resümee abschließt, zeigt deutlich, dass die Odessaer jüdischen Vereine seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts neben der jüdischen Presse die Funktion fehlender Diskussionsforen der jüdischen Öffentlichkeit in der Stadt übernommen hatten. Dabei manifestierte sich das Auseinanderfallen liberaler und nationaler Strömungen im säkularen Judentum auch im Vereinswesen. Die hier untersuchten jüdischen Vereine, deren Träger die Ober- und die Mittelschicht waren, gaben jeweils eine andere Antwort auf die jüdischen Erfahrungen im europäischen Modernisierungsprozess. Zwar unterschieden sich die modernen Vergesellschaftungsformen ganz wesentlich von den traditionellen Genossenschaften religiösen Ursprungs, jedoch boten diese Formen der Vergemeinschaftung durchaus Anknüpfungspunkte. Deutlich sichtbar wird eine Allianz moderner bürgerlicher und tradierter religiöser Werte vor allem in der Arbeit der auf Bildung ausgerichteten Vereine. In Bezug auf das nichtjüdische Vereinswesen nahmen die jüdischen Vereine in Odessa nicht nur im Bereich der sozialen Selbstorganisation eine Vorreiterrolle ein, sondern auch hinsichtlich der sozialen Mobilisierung und der Demonstration von sozialem Aufstieg.

Die vorliegende Studie bietet eine kompetente Untersuchung, die eine Bereicherung der Forschungen zum jüdischen Vereinswesen, aber auch zu urbanen Vergesellschaftungsformen im Russischen Reich darstellt. Seine Forschungsergebnisse veranschaulicht Hofmeister mit zahlreichen Tabellen; eine ansprechende Bebilderung rundet den Band ab.

Kerstin Armborst