Rezension über:

Timothy P. Bridgman: Hyperboreans. Myth and History in Celtic-Hellenic Contacts (= Studies in Classics), London / New York: Routledge 2005, xx + 249 S., ISBN 978-0-415-96978-9, GBP 45,00
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Rezension von:
Erich Kistler
Archäologisches Institut, Universität Zürich
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Erich Kistler: Rezension von: Timothy P. Bridgman: Hyperboreans. Myth and History in Celtic-Hellenic Contacts, London / New York: Routledge 2005, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 11 [15.11.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/11/6700.html


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Timothy P. Bridgman: Hyperboreans

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In der mytho- und ethnographischen Fiktion der Griechen führten die Hyperboreer, "das Volk hinter dem Nordwind", ein glückliches und zufriedenes Dasein - ohne Krankheit, Krieg und Tod. Diesem Mythos - genauer: seinen Formen und Funktionen in der griechischen Antike - geht Timothy Bridgman in seinem hier zu rezensierenden Buch nach. Dabei bildet den Dreh- und Angelpunkt die Frage, weshalb ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. griechische Autoren diese märchenhaften Bewohner eines imaginär fernen Nordlandes plötzlich mit den Kelten identifizierten.

Das Buch von Bridgman ist das überarbeitete Ergebnis einer am Trinity College in Dublin eingereichten Dissertationsarbeit. An die Einleitung mit einem kurzen historischen Abriss zu den griechisch-keltischen Kontakten schließen sich drei Teile mit insgesamt neun Kapiteln an: "The Hyperboreans and the Golden Age" (3-23), "The Hyperboreans and Hyperborean Identity" (25-98) und "The Hyperboreans and the Celts: A Case of Mistaken Identity?" (99-156). Eine Conclusio, ein Appendix mit griechischer Edition und Übersetzung der relevanten Textstellen (von: Antimachos, Protarchos, Herakleides Pontikos, Hekataios, Apollonios und Poseidonios) sowie eine ausgewählte Bibliographie und ein 13seitiger Namens- und Ortsindex beschliessen das Buch (157-249).

Im ersten Teil behandelt Bridgman die Vorläufer und Anfänge des Hyperboreer-Mythos in der Dichtung Homers und Hesiods. Dabei gelangt er von den iliadischen Äthiopiern zu den odysseeischen Phäaken als Prototypen der Frommen und Glückseligen in mythischer Ferne. Nicht in einer räumlichen, sondern in einer zeitlichen Ferne, im Zeitalter des "Goldenen Geschlechts", sieht der Autor hingegen das Dasein der Glückseligen bei Hesiod angesiedelt.

Solche Fiktionen wie die glückselige Hyperboreerwelt dienten als utopische Gegenwelten, die erlaubten, der Hoffnung auf eine bessere Welt Ausdruck zu verleihen (23). Mit Pindar und Bakchylides (Bakchyl. 3.58; Pind. 2. O. und 10. P.) kommt laut Bridgman im frühen 5. Jahrhundert v. Chr. jedoch noch eine religiöse Bedeutungskomponente hinzu: Sterbliche, die wie überragende Tyrannen Großes geleistet oder als Pythagoräer (bzw. Orphiker) wiederholt das Leben eines Gerechten durchlaufen haben, werden in der Hoffnung bestärkt, nach dem Tode zu dem seligen Gefilde am Rande des Okeanos entrückt zu werden. Die zunächst rein ideell konzipierte Gegenwelt der glückseligen Hyperboreer wird so zu einem religiösen Mythos überhöht, dem eine eschatologische Heilserwartung zugrunde liegt (14-20).

Im zweiten Teil richtet Bridgman den Fokus auf die Hyperboreer-Legende als einem geopolitischen Raummythos. Im Zentrum steht die Frage nach der Funktion des Hyperboreer-Mythos im Prozess der Territorialisierung oder besser: der territorialen Neudefinition der griechischen Oikumene, die sich im Zuge der "Großen Kolonisation" etappenweise nach Osten wie nach Westen ausgedehnt hatte. Zu diesem Zweck wird das mythisch imaginäre "Volk hinter dem Nordwind" territorialisiert, indem es hinter einer natürlichen Barriere, hinter den montes Haemus in Thrakien auf der damaligen Weltkarte eingetragen wurde. Dadurch wurde das Märchenvolk der Hyperboreer zu einem 'realen' Barbarenvolk mit nordöstlicher Randlage.

An der Wende vom 5. zum 4. Jahrhundert kam es dann laut Bridgman in der geographischen Vorstellungswelt der Griechen zu einer Translokation der Hyperboreer von der nordöstlichen an die nordwestliche Peripherie. Diese 'Ortsveränderung' werde insbesondere anhand der relevanten Textfragmente des Protarchos und des Antimachos von Kolophon ersichtlich. Darin seien nämlich anstelle der montes Haemus die montes Rhipae als geographischer Fixpunkt genannt, die neu mit den Alpen gleichgesetzt werden. Die nördlich der Alpen lebenden Kelten seien so zu einer ethnographischen 'Variante' der mythischen Hyperboreer transformiert und dadurch in die geopolitische Imagination einer griechischen Oikumene integriert worden.

Diese neue, zusätzliche Funktion der Hyperboreer-Legende als integrativer Raummythos beschäftigt Bridgman auch noch im dritten Teil. Darin untersucht er den Hyperboreer-Mythos als eine mythische Lesart der Kontaktnahmen der Griechen mit den Kelten, die seit der Gründung Massilias in Südfrankreich um 600 v. Chr. kontinuierlich zugenommen hatten. Dies habe dann im 5. Jahrhundert v. Chr. die Wahrnehmung der Kelten so präfiguriert, dass man glaubte, den mythischen Hyperboreern am alpinen Rand der Oikumene wieder zu begegnen; d. h. die Utopie der Glückseligen wurde aus dem mythischen Raum in eine ethnographische Projektion transponiert und so zunehmend als ein randkulturelles Thaumasion reflektiert. Gerade deshalb, so folgert Bridgman, hätten griechische Händler angesichts der prunkvollen Gelagekultur westhallstättischer Fürsten geglaubt, dass sie beim Besuch derer Banketthallen zu Augenzeugen irdischer Manifestationen des Hyperboreer-Mythos geworden seien (113).

Infolge der ersten Kelteneinfälle nach Italien im frühen 4. Jahrhundert v. Chr. trat dann unvermittelt die Schattenseite der keltisch-hyperboreeischen Glückswelt ins Bewusstsein der Griechen: das Keltenland als Schreckensland, woher die rohen Nordbarbaren stammen, die gleich einer Naturkatastrophe über die friedliche Gemeinschaft der zivilisierten Welt hereinbrechen. Gerade diese dunkle Kehrseite der hyperboreeischen Glückswelt hebe Herakleides hervor, wenn dieser, so Bridgman, die Kelten des Brennos zu Streitern eines hyperboreeischen Heeres und das von ihnen 387 v. Chr. geplünderte Rom zu einer Griechenstadt verforme.

In dieser Schreckensvision über das Hyperboreer-Land avancieren die Alpen plötzlich zu einem natürlichen Bollwerk, das die zivilisierte Welt südlich der Alpen vor den räuberischen Übergriffen der Barbaren nördlich der Alpen schütze. Kam es dennoch zum Durchbruch und Einfall keltischer Räuberhorden, dann sei dies - zumindest dem Herakleides-Fragment nach - als eine 'irdische' Emanation einer göttlichen Strafaktion begriffen worden (122-125).

Insgesamt gewährleistet Timothy Bridgman mit seinem Buch einen äußerst interessanten Einblick in die Formen und Funktionen des Hyperboreer-Mythos im mentalen und kulturellen Haushalt der Griechen. Hervorzuheben ist dabei auch sein Bemühen, philologische, historische und archäologische Befunde gleichermaßen zu berücksichtigen. Allerdings fehlt diesem Bemühen eine all diese Disziplinen einende methodische Grundlage. Hier wäre eine vertiefte Auseinandersetzung mit der historischen Mythenforschung [1] sowie mit der antiken Randvölkerkunde als einem ethnozentrischen Welterklärungsschema [2] gewinnbringend gewesen. So bleiben bei Bridgman wertvolle Einzelbeobachtungen und Einsichten rein deskriptiv. Nach ihrem weiterführenden Erklärungspotential hinsichtlich eines kausalen Zusammenhanges von fremdkultureller Kontaktnahme und mytho- (bzw. ethno)graphischer Welterklärung wird in aller Regel nicht gefragt.

Alles in allem und trotz der geäußerten Vorbehalte hat Bridgman mit seiner Dissertation ein nützliches Buch vorgelegt. Es sollte von all jenen konsultiert werden, die sich mit Mythenforschung, der Logik der Fremdenwahrnehmung und den Mechanismen interkultureller Kontakte auseinandersetzen.


Anmerkungen:

[1] Hierzu etwa C. Flood: Political Myth. A theoretical introduction, New York u. a. 1996; speziell in Hinblick auf die Antike siehe H.-J. Gehrke: Mythos, Geschichte, Politik - antik und modern, in: Saeculum 45 (1994), 239-264.

[2] Um nur ein Beispiel zu nennen: J. E. Coleman: Ancient Greek Ethnocentrism, in: J. E. Coleman/C. A. Walz: Greeks and Barbarians. Essays on the Interactions between Greeks and Non-Greeks in Antiquity and the Consequences for Eurocentrism, Bethesda 1997, 175-220.

Erich Kistler