Rezension über:

Klaus Herbers / Nikolaus Jaspert (Hgg.): Grenzräume und Grenzüberschreitungen im Vergleich. Der Osten und der Westen des mittelalterlichen Lateineuropa (= Europa im Mittelalter; Bd. 7), Berlin: Akademie Verlag 2007, 459 S., ISBN 978-3-05-004155-1, EUR 69,80
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Rezension von:
Volker Scior
Historisches Seminar, Universität Osnabrück
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Volker Scior: Rezension von: Klaus Herbers / Nikolaus Jaspert (Hgg.): Grenzräume und Grenzüberschreitungen im Vergleich. Der Osten und der Westen des mittelalterlichen Lateineuropa, Berlin: Akademie Verlag 2007, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 12 [15.12.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/12/12692.html


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Klaus Herbers / Nikolaus Jaspert (Hgg.): Grenzräume und Grenzüberschreitungen im Vergleich

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Der Band vereint 18 Aufsätze von Teilnehmerinnen und Teilnehmern an einer internationalen Tagung über "Grenzen und Grenzüberschreitungen an den Peripherien Europas im Mittelalter: Ost und West im Vergleich", die 2004 in Erlangen stattfand. Den Beiträgen haben die Herausgeber eine gemeinsame Einführung und zwei weitere, als "Grundlagen" bezeichnete Studien vorangestellt, in denen knappe Überblicke über mittelalterliche und vor allem heutige (mediävistische) Europa-Konzeptionen (Herbers) und über die jeweiligen Definitionen von Grenzen und Grenzräumen (Jaspert) gegeben werden.

Das Besondere an dem Band liegt nicht in der Thematisierung mittelalterlicher Grenzgesellschaften, die bereits seit längerem und verstärkt in jüngerer Zeit in den Blick genommen worden sind, auch nicht in der verfolgten komparatistischen Methode an sich, die aktuell nachgerade in Studien zu 'Europa im Mittelalter' als besonders sinnvoll und gewinnbringend erkannt worden ist, sondern vor allem in der Kombination dieser Merkmale mit weiteren Aspekten: mit der Auswahl der Iberischen Halbinsel und Ostmitteleuropas als Untersuchungsgegenstand, mit der integrativen Behandlung von Aspekten eines Kulturtransfers in immerhin einigen Beiträgen und schließlich mit dem Aufbau des Bandes selbst, in dem jeweils ein Aufsatz zu Spanien/Portugal zusammen mit einem zu Ostmitteleuropa paarweise zu einem gemeinsamen Oberthema angeordnet wurde, um Vergleichsmomente transparenter zu machen.

Mit der Iberischen Halbinsel und Ostmitteleuropa werden zwei Zonen verglichen, die gemeinhin unter dem Stichwort 'Peripherie' firmieren. Beide Regionen verfügen im Mittelalter - bei allen Unterschieden wie dem wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungsstand und der Tatsache, dass es sich bei dem Südwesten um ein ehemals bereits christliches Territorium handelt - über eine Reihe struktureller Ähnlichkeiten, die sie vergleichbar erscheinen lassen: in beiden waren gemischtreligiöse Grenzgesellschaften ansässig, breitete sich das Christentum aus, existierten verschiedene christliche Glaubensformen nebeneinander und waren im Hochmittelalter starke Zuwanderungen zu verzeichnen, weshalb letztlich ein Nebeneinander von Vielsprachigkeit, Multireligiosität und -ethnizität beide Gebiete kennzeichnete.

In einigen Fällen zeigt sich, was möglich ist, wenn ähnliche Phänomene im Südwesten wie im Osten beobachtet und für Leserinnen und Leser konkrete Vergleichsmöglichkeiten hervorgebracht werden. So betrachten sowohl Nora Berend als auch Eduardo Manzano Moreno das Verhältnis zwischen Einheimischen und Zuwanderern, den Umgang von Herrschern mit ihnen und die Herausbildung von Identitäten in den durch Migrationsbewegungen gekennzeichneten Gesellschaften. Berend zeigt, dass Einwanderer in Ungarn zwischen dem frühen 11. und dem späten 13. Jahrhundert für die Gesellschaft verschiedene Funktionen, darunter militärische, wirtschaftliche und soziale, erfüllten, dass die Interaktionen mit Zuwanderern abhängig von ihrem sozialen Status, aber auch von der Religion und anderen Faktoren wie dem Nomadentum war und von Toleranz bis Feindseligkeit und Verfolgung reichte. Gut mit diesen Aspekten vergleichbar, thematisiert Manzano Moreno, am Beispiel des al-Andalus des 8. und 9. Jahrhunderts, den Umgang mit drei gesellschaftlichen Gruppen, deren Herkunft und Ethnizität im politischen Diskurs der Omayyadenherrscher eine Rolle spielte: die Nachkommen gotischer Christen, die arabischen sowie die berberischen Muslime.

Über einen längeren Zeitraum, vom 8. bis zum 16. Jahrhundert hinweg, betrachten Christian Lübke ('Germania Slavica' und 'Polonia Ruthenica') und Jean-Pierre Molénat ('Mozárabes' und 'Mudéjares' in al-Andalus) in erster Linie religiös-konfessionelle Differenzen und religiöse Minoritäten innerhalb ethnischer Grenzgesellschaften sowie die Assimilation und Integration Andersgläubiger. Lübke stellt die Assimilierung und Integration sowohl "gentilreligiöser" Elb- und Ostseeslawen im Westen als auch griechisch-orthodoxer Christen in der Ruthenia als eine allmähliche Folge der Ausbreitung des römisch-katholischen Christentums heraus. Vergleichbares zeigt Molénat für das südwestliche Europa, wo sowohl die Christen unter muslimischer als auch die Muslime unter christlicher Herrschaft allmählich und in sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten integriert und assimiliert oder, am Ende des Untersuchungszeitraums, schlichtweg vertrieben wurden. Religiöse Zugehörigkeiten blieben hier lange Zeit bestimmend vor anderen. Ein weiteres, hier nur noch kurz angesprochenes Beispiel für einen gelungenen Vergleich bietet das Aufsatzpaar zur "Kirchlichen Raumgliederung", in dem Jerzy Strzelczyk für Polen und José Luís Martín Martín für Spanien unter anderem Aussagen über die Kirchenorganisation treffen. Diese Beiträge lassen sich gerade deshalb in Bezug zueinander setzen, weil die strukturellen Unterschiede der Untersuchungsregionen teilweise doch erheblich waren.

Anders als in diesen Fällen klappt der Vergleich zwischen dem Südwesten und Osten Europas im Konkreten nicht immer so, wie sich das die Herausgeber wünschen. Das kann man jedoch nicht ihnen anlasten, denn es liegt nicht an ihrem Konzept, sondern ist schlichtweg eine Eigenschaft vieler Sammelbände: Die Autoren kommen aus unterschiedlichen Ländern und Wissenschaftstraditionen, mancher verfolgt trotz des vorgegebenen Fokus' eher einen eigenen Blickwinkel, ein anderer gibt einen ereignisgeschichtlichen Abriss seinen Themas, der kaum in eine moderne Perspektive auf Geschichte integrierbar ist. Zwar behandeln auch Autoren solcher Beiträge für sich genommen durchaus noch das gemeinsame Oberthema, doch beziehen sich dadurch manche der paarweise angeordneten Beiträge nahezu kaum mehr aufeinander. Immerhin werden dennoch interessante Ergebnisse hervorgebracht. Drei kurze Beispiele seien hier angeführt: Matthias Maser, der wie einige andere auch auf den Aspekt des Kulturtransfers eingeht, zeigt, dass die zahlreichen Übersetzungen, die auf der Iberischen Halbinsel angefertigt wurden, nicht, wie oft dargestellt, nur als Beispiele für eine interkulturelle Kommunikation anzusehen sind, sondern vielmehr auch der Abgrenzung eigener kollektiver Identitäten nach außen dienten. Andreas Rüther verdeutlicht die Schaffung von Rechtsräumen infolge der Übertragung fremder Rechtsformen im Verlauf der mittelalterlichen 'Ostsiedlung' sowie die Herausbildung von Stadtrechtsfamilien, die Vereinheitlichungstendenzen entsprangen und der Herrschaftssicherung dienten. Die Zugehörigkeit zu einer Rechtskultur überlagerte andere Zugehörigkeiten wie ethnische oder politisch-herrschaftliche Abhängigkeiten. Christiane Schiller schließlich arbeitet heraus, dass sich die Sprachgrenzen im Großherzogtum Litauen nicht territorial, sondern sozial, an der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht, festmachen lassen.

Die genannten Beispiele zeigen, dass grundsätzlich stets mit mehreren Grenzen und Grenzräumen, auch innerhalb einzelner Gesellschaften, zu rechnen ist. Sie belegen damit zugleich, dass von einer Statik der Identitäten sowie von starren Grenzen zwischen Ethnien, Religionen, Konfessionen und politischen Regionen, auch in den so genannten Peripherien des mittelalterlichen Europa, nicht immer gesprochen werden kann. Ob und inwiefern die behandelten Grenzräume überhaupt als Peripherien angesehen werden sollten, ist nach der Lektüre zumindest zu überdenken. Alles in allem lässt sich insgesamt insofern von einem gelungenen Experiment sprechen, als hier ein gutes Konzept der historischen Komparatistik in immerhin einigen Fallbeispielen umgesetzt wurde und methodisch wie inhaltlich Anregungen zu weiteren Vergleichen gegeben werden.

Volker Scior