Caroline Gritschke: "Via Media". Spiritualistische Lebenswelten und Konfessionalisierung. Das süddeutsche Schwenckfeldertum im 16. und 17. Jahrhundert (= Colloquia Augustana; Bd. 22), Berlin: Akademie Verlag 2006, 480 S., ISBN 978-3-05-004196-4, EUR 59,80
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Der Titel "Via Media" mag den Reformationshistoriker auf den ersten Blick etwas irritieren, erinnert er doch an die 1970 publizierte Dissertation von Kurt Maeder "Die Via media in der Schweizerischen Reformation: Studien zum Problem der Kontinuität im Zeitalter der Glaubensspaltung". Gritschkes Untertitel klärt dann aber sogleich auf, dass der Begriff der "via media" nicht im herkömmlichen Sinn, sondern neu auf die Schwenckfelder übertragen gebraucht wird, die einen glaubensverträglichen Weg bzw. Mittelweg zwischen unterschiedlich gestalteten Fronten der Reformation und des Konfessionellen Zeitalters suchten.
Die ausführliche, über 450 Druckseiten umfassende Kasseler Dissertation bereitet den Stoff nach einer längeren Einleitung in fünf Kapiteln auf: 1. Dramatis personae - zur Prosopographie des süddeutschen Schwenckfeldertums; 2. "Schüler Christi" - Wege zum Schwenckfeldertum; 3. Schwenckfeldische Lebenswelten; 4. 'Via Media' - Schwenckfeldertum und nicht dissidentische Umwelt; 5. Das süddeutsche Schwenckfeldertum im Feld dissidentischer Gruppen des 17. Jahrhunderts. Die aufgelisteten Archive (431-435) zeugen von profunden Quellenstudien, ebenso weist das 29 Seiten umfassende Verzeichnis an Sekundärliteratur die Verfasserin als gute Kennerin der Forschungsliteratur aus.
Die Autorin spürt zunächst den Personen nach und stellt nicht nur die in Süddeutschland größte Gruppe an Schwenckfeldern vor, die in Augsburg sesshaft war, sondern lokalisiert auch Glaubensgenossen im Dorf Leeder bei Landsberg, der Reichsstadt Ulm und den ihr zugehörigen Dörfern Leipheim und Geislingen sowie im Herrschaftsgebiet der Reichsritter von Freyberg. Sie kommt dabei zum Schluss, dass die süddeutschen Schwenckfelder-Gemeinden aus persönlichen Kontakten resultierten, die Schwenckfeld auf seinen ausgedehnten Reisen von 1533 bis 1536 knüpfte. Entsprechende Gemeinschaften bildeten sich vor allem in den protestantischen Reichsstädten und in ritterschaftlichen Besitzungen, wobei Schwenckfelds Ansprechpartner Standesgenossen sowie Vertreter städtischer Eliten waren.
Im darauf folgenden Kapitel arbeitet die Autorin heraus, dass die süddeutschen Schwenckfelder verschiedenen sozialen Schichten angehörten, einzig die ländliche Bevölkerung war schlecht vertreten. Ihre Gottesdienste hielten sie in Privathäusern ab und nicht etwa unter freiem Himmel, wie das bei den Täufern häufig vorkam, von denen sie sich aus verschiedenen Gründen distanzierten. Ein wichtiger Punkt stellte der Vorwurf dar, dass die Täufer letztlich nichts anderes als eine weitere Kirche aufgerichtet hätten, wo doch der biblische Weg in der Bildung von spiritualistischen Laiengemeinschaften gelegen hätte. Zur Erbauung diente nicht nur die Lektüre verschiedener Bücher, was übrigens den Alphabetisierungsgrad innerhalb der Gemeinschaften im Vergleich zur sonstigen Bevölkerung merklich steigen ließ, sondern auch die Briefkultur wurde intensiv gepflegt.
Unter dem Titel "schwenckfeldische Lebenswelten" schildert Gritschke den Glauben im Alltag der Schwenckfelder. Obschon vom Wesen der Welt abgewandt, distanzierten sie sich nicht von Nachbarn und Dorfgemeinschaft. Im Unterschied zu den Täufern, die handwerkliche Berufe bevorzugten und zum Teil ihr soziales Umfeld wechselten, traf dies für die Schwenckfelder nicht zu. Folgerichtig gewichteten sie bei der Eheschliessung die Standeszugehörigkeit des Partners stärker als den Glauben. Das soziale Gefälle wie auch überregionale Kontakte wurden mittels schwenckfeldischer Vermittler überbrückt.
Im vierten und längsten Kapitel, welches das Schwenckfeldertum auf dem Hintergrund einer nicht dissidentischen Umwelt behandelt, wird die eigentliche "Via Media" "als Weg zwischen den und jenseits der sich ausbildenden Konfessionen" geschildert. Während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts waren die Schwenckfelder kaum ausgrenzenden Maßnahmen und Verfolgungen ausgesetzt und gehörten lokal teilweise sogar zu den treibenden Kräften, die die Reformation durchsetzten. Mit der Anerkennung der Confessio Augustana auf dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 änderte sich die Situation, da nachher alles Nichtkonforme nicht nur von den katholischen, sondern auch von den protestantischen Machthabern abgelehnt wurde. Wie bei den Täufern kam auch in Sachen Ausgrenzung der Schwenckfelder im Rahmen der lutherischen Konfessionalisierung der oberdeutschen Reichsstädte der Geistlichkeit eine stärker tragende Rolle zu als der Obrigkeit. Passten sich die Schwenckfelder aber dahingehend an, dass sie zumindest teilweise die Predigt in der Pfarrkirche besuchten - ohne Zwang der sakramentalen Partizipation -, ließ man sie in Ruhe. Gelang es ihnen, ihre schwenckfeldische Lebenspraxis zu verheimlichen (dissimulatio), war ihr gesellschaftliches Überleben sichergestellt.
Das letzte und kürzeste Kapitel betrachtet die Schwenckfelder im Kontext anderer zeitgenössischer und neuer dissidenter Gruppierungen. Während im 16. Jahrhundert Augsburg und Straßburg die beiden schwenckfeldischen Zentren waren, nahm im 17. Jahrhundert Nürnberg die Stelle Augsburgs ein. Ab der zweiten Jahrhunderthälfte verschwinden die süddeutschen Schwenckfelder und sind nur noch vereinzelt erkennbar. Neue Richtungen brachen sich Bahn, von denen sie sich aber immer distanziert hatten, wie pietistischer Spiritualismus, Chiliasmus, Sozinianismus und andere.
Gritschke schliesst mit dem vorliegenden Band eine Lücke, waren doch viele Aspekte des von ihr geschilderten und reich verzweigten süddeutschen Schwenckfeldertums bis anhin unbekannt. Besonders hervorgehoben sei ihr profundes Quellenstudium in verschiedenen Archiven. Der flüssig geschriebene, gut verständliche und thematisch reichhaltige Text gestaltet sich stellenweise etwas langatmig. Eine kürzere und prägnantere Fassung hätte dem sonst interessanten Band möglicherweise eine breitere Leserschaft eingebracht. Damit sollen aber die wissenschaftlichen Meriten der Verfasserin keinesfalls geschmälert werden, der für dieses wichtige Buch Dank gebührt.
Urs Leu