Rezension über:

Michael Epkenhans / Stig Förster / Karen Hagemann (Hgg.): Militärische Erinnerungskultur. Soldaten im Spiegel von Biographien, Memoiren und Selbstzeugnissen (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 29), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006, xvi + 328 S., ISBN 978-3-506-75680-0, EUR 65,30
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Rezension von:
Christian Streit
Heidelberg
Empfohlene Zitierweise:
Christian Streit: Rezension von: Michael Epkenhans / Stig Förster / Karen Hagemann (Hgg.): Militärische Erinnerungskultur. Soldaten im Spiegel von Biographien, Memoiren und Selbstzeugnissen, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 5 [15.05.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/05/11844.html


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Michael Epkenhans / Stig Förster / Karen Hagemann (Hgg.): Militärische Erinnerungskultur

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Kriegserinnerungen und Biografien haben auch in der Militärgeschichtsschreibung eine lange Tradition. Vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg stehen Historiker dieser Art der Geschichtsschreibung aber skeptisch gegenüber, da sie sich überwiegend mit den militärischen Eliten beschäftigt und deren Handeln zumeist apologetisch betrachtet. Doch mit der Erschließung neuer Zugriffsmöglichkeiten, besonders durch die Beschäftigung mit alltags-, erfahrungs- und erinnerungsgeschichtlichen Themen hat sich hier ein Wandel vollzogen. Selbstzeugnisse aller Art sind, da sie methodisch intensiv reflektiert wurden, zu einer wichtigen Quellenart geworden.

Die 16 Beiträge in dem von Michael Epkenhans, Stig Förster und Karen Hagemann herausgegebenen Band - Ergebnis einer Tagung zum Thema "Militärische Erinnerungskultur" - zeigen, wie fruchtbar auch im Bereich der Militärgeschichte ein methodisch reflektierter biografischer Zugriff sein kann. In ihrer Einführung skizzieren die Herausgeber sehr informativ die Möglichkeiten, die Selbstzeugnisse aller Art für die Erforschung von Militär und Krieg bieten. Drei Fragen stehen dabei im Mittelpunkt: Welche theoretischen und methodischen Probleme und welche Möglichkeiten ergeben sich aus der Verwendung von Selbstzeugnissen für die militärgeschichtliche Forschung? Welche Folgerungen sind aus diesen Erkenntnissen für das Schreiben von Biografien zu ziehen? Wie müssen Einzel- und Gruppenbiografien beschaffen sein, um den heutigen theoretischen und methodischen Ansprüchen zu genügen und dennoch lesbar zu bleiben?

Da Kriege im Leben von gesellschaftlichen Gruppen wie von Individuen einen Kontinuitätsbruch bedeuten, müssen "die Erfahrung selbst wie die Erinnerung daran [...] kollektiv und individuell bearbeitet werden" (XII). Dazu müssen u.a. Selbstzeugnisse - z.B. Briefe, Tagebücher, veröffentlichte und unveröffentlichte Erinnerungen - ausgewertet werden. Wichtige Kriterien sind dabei die Berücksichtigung der "spezifische[n] Qualität der verschiedenen Formen von Selbstzeugnissen" und ausreichende Informationen über Verfasser, Adressaten, Entstehungsbedingungen und den historischen Kontext (XIIf.).

Die Beiträge spannen einen Bogen vom Dreißigjährigen Krieg bis in die Anfangsjahre der Bundesrepublik. Einige Beispiele mögen einen Eindruck von der Spannbreite der Themen und Ansätze geben.

Lutz Voigtländer wertet Lebenszeugnisse von Kriegsgefangenen aus der Zeit zwischen dem Siebenjährigen Krieg und dem Ende der napoleonischen Kriege zum Thema "Leben und Überleben in Gefangenschaft" aus. In einem Beitrag über das deutsch-französische Verhältnis im frühen 19. Jahrhundert kommt Ute Planert zu dem Ergebnis, dass die von Ernst Moritz Arndt und anderen geschürte nationale Begeisterung "letztlich [...] ein - wiewohl einflussreiches - Minderheitenphänomen" gewesen sei, das vor allem von jüngeren Gebildeten aus Adel und Bürgertum getragen wurde (89). Aus den von ihr ausgewerteten Selbstzeugnissen schließt sie, dass die damals wachsende Franzosenfeindschaft weniger durch die "national oder gar ontologisch begründete Franzosenfeindschaft der Kriegslyriker" (92), sondern vielmehr durch die Belastungen der französischen Besatzung verursacht worden sei. Sie plädiert dafür, "statt von einer 'Wasserscheide' zwischen Früher Neuzeit und Moderne in den Jahren um 1800 [...] von einer nationalen Sattelzeit [zu] sprechen, von einer allmählichen Durchsetzung des nationalen Deutungsparadigmas, [...die] noch bis weit in den Vormärz dauerte." (105)

Anhand zweier Familienkorrespondenzen untersucht Manuel Richter in "mikro-historische[r] Perspektive" (131), wie Soldaten im Zeichen nationaler Gesinnung während des Krieges 1870/71 "normative[n] Männlichkeitsvorstellungen" (111) gerecht zu werden suchten. Annika Mombauer nutzt in ihrem Artikel Selbstzeugnisse, um in überzeugender Weise das bestehende Bild des jüngeren Moltke, des Chefs des Generalstabs zu Beginn des Ersten Weltkriegs, zu revidieren. Das "herkömmliche Bild des inkompetenten Moltke", so ihr Fazit, tue Moltke "nicht nur Unrecht, sondern enthebt ihn gleichzeitig der großen Verantwortung, die er für den Ausbruch des ersten Weltkrieges hatte." (150f.)

Den Blick für die Grenzen der Aussagekraft autobiografischer Quellen schärft Patrick Krassnitzer. Er geht von der Erkenntnis gedächtnispsychologischer und neurowissenschaftlicher Forschung aus, "dass das autobiografische Gedächtnis der genuine Ort der permanenten Modulation der Erinnerung ist." (212) Ein wichtiges Phänomen ist dabei die "importierte Erinnerung", bei der z.B. "Spielfilmsequenzen oder literarische Narrative [...] in den jeweiligen biografischen Kontext integriert werden". Voraussetzung dafür ist eine "'Quellenamnesie', die eine Unterscheidung von Erinnerung und Fiktion unmöglich macht." (213) Ob allerdings das von ihm gewählte Fallbeispiel für die Rekonstruktion eines solchen "Importprozesses", die autobiografische Adaption des Langemarck-Mythos durch Adolf Hitler zwischen Dezember 1914 und der Abfassung von "Mein Kampf" 1924, gut gewählt ist, sei dahingestellt, erscheint doch fraglich, ob man dabei von einer unbewussten Modulation der Erinnerung ausgehen kann.

Einen sehr interessanten neuen Weg zur Sozialgeschichte der Wehrmacht zeigt Christoph Rass. Sein Ziel ist es, mithilfe des kollektivbiografischen Ansatzes "nicht mehr nur die Eliten, sondern vor allem die breiten funktionalen bzw. sozialen Gruppen am unteren Ende der Hierarchie [...] in den Blick zu nehmen." (192) Durch die Auswertung digitalisierter personenbezogener Quellen - z.B. Wehrstammbücher, Erkennungsmarkenverzeichnisse, Vermisstenbildlisten des Suchdienstes des DRK - kann er Verlauf und Mechanismen des sozialen Wandels einer Wehrmachtdivision analysieren. Die Digitalisierung ermöglicht es, auf Einzelbiografien zurückzugreifen und daraus wiederum "kollektivbiografische Elemente exemplarisch [zu] verdeutlichen." (198) Ein wichtiges Ergebnis ist, dass die Personalfluktuation in den Verbänden anscheinend weit weniger gravierend war, als bisher vermutet, weil genesene Verwundete den alten Verbänden wieder zugeführt wurden. Da in der Forschung bisher angenommen wurde, dass die Zerstörung der Primärgruppen durch die ungeheuren Verluste an der Ostfront einer der Faktoren war, der die weitgehende Integration der Wehrmacht in die Vernichtungspolitik ermöglichte, ist die Frage von Rass, ob nicht gerade die Fortexistenz dieser Primärgruppen "eine Voraussetzung für das hohe Maß an Konformität der Soldaten gegenüber allen Aspekten der deutschen Kriegführung" gewesen sei (208), durchaus brisant.

Dem Fazit der Herausgeber, Alltags-, Erfahrungs- und Erinnerungsgeschichte und die biografische Methode seien "zwei außerordentlich vielversprechende Ansätze für die Geschichte von Militär und Krieg" (XVI), kann man nach der Lektüre dieses Bandes ohne Einschränkung zustimmen. Hinzugefügt sei, dass die Einführung und die anspruchsvollen theoretisch-methodischen Überlegungen, die die Mehrheit der Autoren ihren Beiträgen voranstellen, eine Fülle von wertvollen Anregungen bieten.

Christian Streit