Jens Gieseke (Hg.): Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR (= Analysen und Dokumente; Bd. 30), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 391 S., ISBN 978-3-525-35083-6, EUR 27,90
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Wie weiter mit der Stasi-Forschung? Mehr als fünfzehn Jahre nach dem Fall der Mauer haben im März 2006 rund 50 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über diese Frage auf einem Workshop der Abteilung Bildung und Forschung der "Birthler-Behörde" (BStU) diskutiert. In dem von Jens Gieseke herausgegebenen Sammelband werden die Ergebnisse in fünf Abschnitten dokumentiert. Auf die zunächst erörterten theoretisch-methodischen Herausforderungen folgen vier Texte zu den Berichten der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des Ministeriums für Staatssicherheit, welche die Stimmung unter der ostdeutschen Bevölkerung erfassen sollte. Im Anschluss an eine Rubrik "Mikrostudien - Methodologie" werden sektorale Feldstudien, sodann Lokalstudien präsentiert. Diese Gliederung ist nicht immer ganz zwingend und wohl auch der Notwendigkeit geschuldet, dem Band eine übersichtliche Struktur zu geben. Wenigstens der Aufsatz von Roger Engelmann zum Landkreis Halberstadt hätte ebenso den Lokalstudien zugeordnet werden können, während die übrigen drei Ausführungen dieses Abschnitts von Jan Palmowski, Georg Wagner-Kyora und Dorothee Wierling mit vielleicht größerem Recht in den Theorieteil zu integrieren gewesen wären.
Die Beiträge entziehen sich vordergründig der gerade in den letzten beiden Jahren wieder heftig aufgeflammten Diskussion um die Zukunft der Behörde und der von ihr verwahrten Akten des MfS durch die Konzentration auf methodische Probleme und konzeptionelle Ansätze. Obwohl der gemeinsame Fluchtpunkt in einer wirkungsgeschichtlich operationalisierten Geschichtsschreibung gesucht wird und obwohl die engere Debatte um die Funktion des MfS im SED-Staat von etlichen Autoren produktiv zu einer breiteren Gesellschaftsgeschichte der DDR geöffnet wird, bedeutet das nicht, dass harmonische Arbeit an einem neuen, den Mainstream der künftigen Forschung a priori dominierenden "Diskurs" geleistet wird. Trotz des inhaltlich verbindenden Anspruchs, zukünftig verstärkt die soziale Interaktion zwischen Herrschenden und Beherrschten ausleuchten zu wollen, bleiben die hier gewählten Überlegungen doch zu heterogen, um gleich ein neues Paradigma der Stasi-Forschung zu stiften.
Auf Giesekes Einleitung folgen zwei übergreifende Texte von Thomas Lindenberger und Jan C. Behrends. Ersterer erläutert noch einmal das Konzept von "Herrschaft als sozialer Praxis" und sein Interpretament des "Eigen-Sinns", mit dem Lindenberger die Mehrdeutigkeit von Haltungen und Handlungen der ostdeutschen Bevölkerung zu erklären sucht. Diese mittlerweile solide eingeführte Begrifflichkeit des "Eigen-Sinns" findet jedoch Widerspruch von Georg Wagner-Kyora, der darin eine pauschal behauptete, allgegenwärtige "Widerständigkeit" in der Gesellschaft unterstellt sieht, die erst noch am jeweiligen Einzelfall an den Quellen zu beweisen wäre (210). Behrends Monitum, die DDR-Geschichte bedürfe der Öffnung in eine vergleichende europäische Geschichte und in eine transnationale Geschichte des Kalten Krieges, lässt sich im Übrigen auf die ganze Aufsatzsammlung übertragen, die Impulse für die künftige Forschung postulieren will. Greift eine Gesellschaftsgeschichte, welche den Wissensspeicher der Staatssicherheit für neue Fragen zur sozialen Praxis in der DDR zu nutzen beansprucht, nicht zu kurz, weil sie die historiografische Binnenansicht des ostdeutschen Teilstaates kaum zu überwinden vermag?
Es ist allerdings stets einfacher, geschichtswissenschaftlich aktuell diskutierte Ansätze oder "Moden" wie die nach einer transnationalen Geschichte aufzugreifen, sie theoretisch ausgefeilt zu formulieren und mögliche Forschungsfelder abzustecken - wie dies etwa Jan Palmowski für die Sozial-, Herrschafts-, Geschlechter-, Konsum- und Mentalitätsgeschichte unternimmt (267-269) -, um dann die schwierige Umsetzung anderen zu überlassen. Wo etwa Wagner-Kyora in seiner Verknüpfung von theoriegeleiteter Frageweise und fallgestützter Analyse am konkreten Beispiel diesen Spagat erfüllt, indem er zunächst am Konzept der Identitätskonstruktion die Beobachtung von Selbst- und Fremdbildern der Angestellten und Arbeiter in DDR-Kombinaten modellhaft ableitet und sodann auf der Alltagsebene empirisch vermisst, dort erschwert sein sozialwissenschaftlich elaborierter Jargon die Vermittlung des eigenen Ansatzes. Das ist keineswegs eine Marginalie, akzeptabel etwa als Preis einer souveränen Beherrschung des methodologischen Instrumentariums. Denn gerade die Lesbarkeit auch akademischer Forschung zum MfS bleibt unverzichtbar, wenn deren Ergebnisse nicht nur Spezialisten, sondern ebenso Multiplikatoren der historisch-politischen Bildung oder gar die jüngere Generation erreichen wollen. Solche didaktischen Aspekte waren oder sind zwar nicht genuiner Gegenstand von Workshop und Buch, sollten aber Berücksichtigung finden, wenn "die" Gesellschaft nicht nur als historischer Akteur verstanden, sondern als gegenwärtiger Adressat und gewünschter Rezipient solchen Wissens über die Interaktion von Staatssicherheit und DDR-Gesellschaft mitgedacht wird. Nur dann wird es vielleicht möglich sein, durch eine auch breitenwirksame Vermittlung jene im Osten Deutschlands nicht ganz selten anzutreffende nachträgliche Identifizierung mit der DDR (selbst-) kritisch zu reflektieren, in welcher Dorothee Wierling auch Abwehrpositionen gegen die einseitige Wahrnehmung der ostdeutschen Vergangenheit als Stasi-Geschichte erkennt. Abgesehen von diesem zugegebenermaßen "volkspädagogisch" motivierten Einwand kommen in dem Band auch heuristisch ernst zu nehmende Gegenpositionen zu Wagner-Kyora zum Ausdruck: Für Sandrine Kott etwa erzählen die Stasi-Akten mehr über "die Machtkonstellationen innerhalb des Staatsapparates und die Sichtweise der Stasi-Agenten auf die Außenwelt als über diese Außenwelt selbst." (344)
In ihren drei Beiträgen zur Analyse der ZAIG-Berichte, mit denen das MfS die SED-Führung über ausgewählte aktuelle Entwicklungen informierte, nehmen sich die BStU-Forscher selbst der Wirkungsgeschichte in einer doch recht traditionellen Weise an, was den Wert ihrer Befunde nicht schmälern muss. Weil weder Ulbricht noch Honecker sich Kenntnisse über die reale Stimmungslage im Lande zumuten wollten, setzte die Schere im Kopf bereits bei der ZAIG an. Was sie an die Politik lieferte, hatte aufgrund dieser Selbstbeschneidung gerade keinen seismografischen Charakter, wie Jens Gieseke, Siegfried Suckut und Frank Joestel übereinstimmend feststellen.
Mit den ZAIG-Berichten wird freilich ein Zugang gewählt, der seine Perspektive noch in dominierender Weise vom geheimpolizeilichen Apparat her einnimmt. Die "Primärebene des sozialen Lebens" (Gieseke, 16f.), wie sie vermeintlich in den Berichten Inoffizieller Mitarbeiter zum Ausdruck kommt, wird daher erst in den folgenden Fallstudien in den Mittelpunkt gerückt. Ob eine Schweriner Oberschule (Henrik Bispinck), der DDR-Betrieb (Renate Hürtgen), Fremde und Ausländer in der DDR (Patrice G. Poutrus) oder die Kulturszene in Gera (Agnès Arp u.a.), ob die Kreise Halberstadt oder Perleberg und Gransee (Gary Bruce) exemplarisch auf Handlungsfelder von Stasi und Zielmilieu hinterfragt werden - diese einzelnen schon ergebnisorientierten Untersuchungen oder erst skizzierten Projekte umreißen Möglichkeiten einer gesellschaftsgeschichtlich integrierten Darstellung der DDR-Geheimpolizei. Eine beispielhafte Schnittstelle wird gleich in mehreren Beiträgen deutlich: wiederkehrende Kontakte von DDR-Bürgern zur Stasi, die sich ohne Verpflichtung als IM im Lebensalltag vielfältig ergeben konnten (305f., 322, 341, 370-373). Der ambitionierte Sammelband zeigt, dass diese Beobachtung entgegen mancher Befürchtungen keineswegs die repressive Funktion der Geheimpolizei gering redet: Der Versuch, unauffällige Leben zu führen, darauf weist Herausgeber Gieseke hin, war eben kein Ausdruck von "Normalität" im DDR-Alltag, sondern kann als Bestätigung für subkutanen politischen Druck gedeutet werden. Auch so lässt sich jenes "vage Gefühl der Angst" erklären, "das eines der stärksten Nebeneffekte der Stasitätigkeit war." (Kott, 344; auch Wierling, 206f.)
Armin Wagner