Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947, München: DVA 2007, 896 S., ISBN 978-3-421-05392-3, EUR 39,95
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Christopher Clark: Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, München: DVA 2018
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Auf Hintze folgt Clark. So lässt sich der Tenor der Rezensionen von Christopher Clarks preußischer Geschichte in den deutschsprachigen Tageszeitungen zusammenfassen. "Fast hundert Jahre nach Otto Hintzes Klassiker 'Die Hohenzollern und ihr Werk', geschrieben zum Jubiläum der Dynastie 1915, aber anders als der Titel suggeriert, eine umfassende, Wirtschaft und Kultur einbeziehende Synthese" hat Christopher Clark "nun ein Werk von ähnlichem Anspruch und Umfang" vorgelegt, schrieb beispielsweise Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung: [1] Clarks Buch "macht sich aufs unbefangenste alle Vorteile der borussischen Tradition zu eigen, erzählt von Kriegen und diplomatischen Schachzügen, erläutert Exerziertechniken und Zündnadelgewehr, aber es vermeidet die Einseitigkeit der alten Schule, indem es uns das Leben auf dem Land, die Struktur der Städte, die überragende Rolle von Kirche und Frömmigkeit, ja die wechselnde Stellung der Frauen in der Generationsabfolge der Monarchie schildert."
Und tatsächlich ist das Buch auf ganz ähnliche Art das Bekenntnis des britischen Historikers Christopher Clark zur preußischen Geschichte mit ihren Höhen und Tiefen, wie das Werk Otto Hintzes nach Aussage Friedrich Meineckes "das Bekenntnis seines Preußentums" darstellt: "Dieser stolze, friderizianisch gerichtete und vom stärksten Staatsethos erfüllte Preuße", urteilt Meinecke über seinen Freund Hintze im zweiten Band seiner Lebenserinnerungen, "kannte nämlich auch Grenzen und Maß der Machtpolitik." Zwar war Hintzes Buch "von oben her als Jubiläumsschrift für die Hohenzollern angeregt [...], von ihm aber streng und straff nach eigener wissenschaftlicher Überzeugung, unabhängig von weitgehenden Wünschen des Kaisers, er pflegte oft von seinem Gespräche mit diesem zu erzählen, durchgeführt" worden. [2]
Vom "Borussismus", der dem Werden und Sein der preußischen Macht alles unterordnende Geschichtsauffassung eines Johann Gustav Droysen, Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitschke hatte sich eine jüngere Generation von Historikern seit dem Erscheinen von Bernhard Erdmannsdörffers "Deutscher Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zum Regierungsantritt Friedrichs des Großen" nach und nach befreit. "Erdmannsdörffers Werk", berichtet Friedrich Meinecke in seiner Erinnerung an das ausgehende neunzehnte Jahrhundert, "hat ja das Droysensche Idealbild der preußisch-deutschen Geschichte umgeworfen und uns, so recht im Zusammenhange mit den natürlicheren Strebungen der neunziger Jahre, von einer herrschenden Konvention befreit." Meinecke, Hintze, Otto Krauske und andere Historiker dieser Generation folgten nun leichter Max Lehmann, dem Einzelgänger der Zunft, der "schon im zweiten Bande des Scharnhorst die Bahn beschritten [hatte], die ihn von Treitschke und von dem bisherigen Borussismus in der Geschichtsschreibung innerlich entfernte". [3] Sie taten dies auf eine Weise, die allerdings noch immer in erster Linie die Hohenzollernherrscher als Handelnde in den Mittelpunkt der Betrachtungen stellte.
Nicht ganz so Otto Hintze, er löste sich am weitesten von seinen Lehrern. Er wandte sich fast ausschließlich den Strukturen der preußischen Verfassung und Verwaltung zu. An ihnen entwickelte er seine Einsichten in den brandenburg-preußischen Staat, erzählte und deutete seine Historie. Er tat dies auch in "Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländischer Geschichte". In diesem Buch verband er Erzählung mit Analyse. Dabei hielt er sich eng an die Quellen. Entgegen dem Eindruck, der durch den Titel entstehen kann, band Hintze seine Beobachtungen nur selten an Wesen und Handlungsweise der Herrscher und schrieb auch nicht "vaterländisch" im Sinne patriotischer oder parteiischer Historiographie. Er schrieb und argumentierte wissenschaftlich-sachlich, "in einer schlichten, leidenschaftslosen Darstellung", wie er selbst in seinem Vorwort festhielt: Er wollte "keine Apologie [...], auch kein[en] Panegyrikus" schaffen. [4]
Es fiel ihm nur selten schwer, sich von den Ansichten seiner Vorgänger zu lösen. Lediglich die Urteile, die Friedrich II. über die Angehörigen seiner Dynastie und die Geschichte seines Hauses fällte, traute Hintze sich kaum zu relativieren. Doch merkt man, dass ihm des Königs Aussagen nicht immer recht waren. Das fällt vor allem im Kapitel über den Erwerb der Königskrone auf, das ein Kernstück des Buches bildet. In der Geschichtswissenschaft legte es den Grundstein für eine gerechtere Beurteilung Friedrichs III./I., den sein Enkel ohne ersichtlichen Grund schlecht geschrieben hatte. (Die "Verschwendung", die Friedrich II. seinem Großvater vorhielt, ist ja relativ zu bewerten: auch Friedrich Wilhelm I. gab "unnütz" Geld aus, für die "langen Kerls"; Friedrich selbst für seine Tabaksdosen.)
Entstanden war dieses Kapitel bereits 1900 aus Anlass des 200. Krönungsjubiläums für das Hohenzollern-Jahrbuch. Es führte zu einem langsamen Umdenken über die Politik des ersten Königs. Max Maurenbrecher gestand dem König darauf in seiner "Hohenzollern-Legende" [5] erstmals eine wichtige und auch eigenständige Bedeutung für Preußen zu. Dies tat im Anschluss an ihn erst wieder Sebastian Haffner in "Preußen ohne Legende" [6] und danach einige Historiker, die anlässlich des 300. Krönungsjubiläums über Friedrich III./I. schrieben. Auch Christopher Clarks Buch fußt auf den von Hintze erarbeiteten Grundlagen.
Hintzes "Geschichtserzählung" [7] beginnt nach einleitenden Abschnitten über die Dynastie und die Mark Brandenburg vor den Hohenzollern mit der Ankunft des Burggrafen Friedrich von Nürnberg 1415 und endet mit dem Tod Kaiser Wilhelms I. 1888 und einem Schlusswort über die Regierungszeit Wilhelms II. Die in zwölf Kapitel gegliederte Erzählung behandelt also die gesamte brandenburg-preußische Geschichte wie sie sich um 1915 darstellte. Darin unterscheidet sich Hintzes Werk von dem Clarks. Dessen siebzehn Kapitel umfassender "Versuch" (Clark, 13) setzt 1618 mit dem Dreißigjährigen Krieg ein und schließt mit der Auflösung des preußischen Staates durch die Alliierten Siegermächte 1947.
Hintze legt also mehr Gewicht auf die Frühzeit, als Preußen noch das Kurfürstentum Brandenburg war. Der Reformation und dem Dreißigjährigen Krieg widmet er eigene Kapitel, deren Umfang über ein Siebtel des Buches ausmacht. Auch die Zeit der "Großen" Hohenzollern von Kurfürst Friedrich Wilhelm bis zu Friedrich II. behandelte er auf mehr als 200 Seiten umfänglich.
Bei Clark fällt die Reformation unter die Vorgeschichte, der Dreißigjährige Krieg wird unter der Überschrift "Verwüstung" auf 20 Seiten betrachtet, die Zeit der "Großen" aber auf rund 230 Seiten dargestellt. Dabei vermindert Clark den Anteil der Politikgeschichte zugunsten sozialgeschichtlicher Erwägungen: "Der brandenburgischen Bevölkerung brachte der Krieg Gesetzlosigkeit, Elend, Armut, Entbehrung, Unsicherheit, Vertreibung und Tod." (52) Immer wieder beschreibt der Historiker die Auswirkungen der Politik, der Kriege und Verwaltungsfortschritte des brandenburg-preußisch-deutschen Staates auf die Bevölkerung. Etwa, wenn er die soziale Frage um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erläutert (515-524) oder das Verhältnis zwischen Soldaten und Zivilisten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts schildert (680-687).
Die Darstellung der Geschichte von Kurfürst Friedrich Wilhelm bis ans Ende der Regierung Friedrichs II. wird zudem durch das Kapitel über "Protestanten" mit einer kürzeren Passage zum Spannungsfeld reformiertes Herrscherhaus und lutherische Bevölkerungsmehrheit sowie einer längeren zum Pietismus durchbrochen. (144-177) Diesem folgt ein Kapitel über "Die Mächte im Land", d.h. über die Städte, den Landadel, die Gutsbesitzer und Bauern, die "Junker" als Kaste und, überraschend, über den preußischen Fleiß. (178-219).
Oft gehen Clarks Betrachtungen von Personenporträts aus. Die einprägsamste und beste biographische Miniatur hat er, als hervorragender Kenner der Persönlichkeit [8], über Wilhelm II. geschrieben. (670-679) Seine sozialgeschichtlichen Ausführungen beispielsweise zu "Soldaten und Zivilisten" beginnen mit der Geschichte von Friedrich Wilhelm Voigt, dem Hauptmann von Köpenick. Das ist didaktisch geschickt. So gelingt es Clark, in diesem Fall die "Ambivalenz" des preußischen Militarismus aufzuzeigen. Voigts Abenteuer im Jahr 1906 wirft laut Clark zum einen "ein Licht auf ein soziales Umfeld, das von kriecherischem Respekt vor militärischer Autorität geprägt war. [...] Nach dieser Lesart war die Geschichte des Hauptmanns eine dezidierte Entlarvung des preußischen Militarismus." (682) Zum anderen aber zeige das Abenteuer, das mit Gehorsam begann und mit Gelächter endete, dass in großen Teilen der Gesellschaft "der preußische 'Militarismus' [...] schon längere Zeit die Zielscheibe des Spotts" war. (683)
In diesem Zusammenhang erläutert er, was Militarismus eigentlich bedeute. "Das Wort kam während des Ringens um die Verfassung Anfang der 1860er Jahre vonseiten der Liberalen im Kampf gegen den Absolutismus in Umlauf und verlor nie diese Konnotation. In den süddeutschen Staaten wurde der Begriff 'Militarismus' Ende der sechziger Jahre häufig gebraucht, fast immer mit einem Seitenhieb gegen Preußen. 'Militarismus' bezeichnete ebenso das preußische System der allgemeinen Wehrpflicht [...] wie auch die Zahlung von Abgaben für den Erhalt der nationalen Armee oder allgemeiner die Sicherung der preußischen Hegemonie über die süddeutschen Staaten. [...] In welchem Sinn er auch gebraucht wurde, er lenkte die Aufmerksamkeit auf die strukturellen Verbindungen zwischen dem Militär und dem breiteren sozialen und politischen System, in das er eingebettet war" (683f.)
Gab es diese Verbindungen aber allein in Preußen-Deutschland? Nein, schreibt Clark. Auch in Frankreich und Großbritannien lässt sich dieses Phänomen beobachten. Bei der "Militarisierung nationaler Gedenktage" nach 1871 beispielsweise offenbarten sich enge Parallelen zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich. In Großbritannien besaß die National Service League, die "paranoide Sichtweisen in Fragen der nationalen Sicherheit mit rassistischen Vorurteilen von der Überlegenheit der britischen Rasse" vereinigte, fast 100.000 Mitlieder. Die britische Gesellschaft habe sich "womöglich" für ziviler gehalten als sie wirklich war. (685)
Die deutsche Gesellschaft war vielleicht friedfertiger als bislang angenommen. Die Friedensbewegung, hebt Clark hervor, hatte im Deutschen Reich vor dem Ersten Weltkrieg großen Zulauf. 100.000 Menschen versammelten sich während der Marokkokrise im August 1911 zu einer Friedenskundgebung in Berlin, im September desselben Jahres sogar 250.000 Personen. "Die deutsche Öffentlichkeit reagierte keineswegs, wie für gewöhnlich behauptet wird, mit einhelliger Begeisterung auf den Krieg. Im Gegenteil: In den ersten Augusttagen 1914 war die Stimmung gedrückt, ambivalent und an manchen Orten ängstlich." (685) Durch seine Vergleiche, die für die Einordnung der preußisch-deutschen Geschichte in den europäischen Kontext wichtig sind, unterscheidet sich Clark von Hintze, der seine Überlegungen fast ausschließlich am preußischen Beispiel entwickelte.
In ihrem allgemeinen Erkenntnisinteresse aber sind Hintze und Clark gleich. Beiden geht es vor allem darum, herauszufinden, "wie es gelang, aus einer künstlichen Ansammlung kleiner Fürstentümer einen funktionierenden Staat zu schaffen". [9] Beide lassen sich deshalb vorwiegend von der politischen Geschichte und von der Verwaltungsgeschichte leiten. Und beide lassen keinen Zweifel daran, dass die Armee in der Geschichte Preußens und Deutschlands eine besondere Rolle spielte.
Bei Hintze wird Preußen im Grunde bereits in der Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. zu einem einheitlichen Staat, der von einer starken Zentralverwaltung, insbesondere vom Generaldirektorium zusammengehalten wird. "Seine Regierung bezeichnet die Vollendung des Absolutismus. Sie ist noch erfüllt von einem stillen, zähen Kampf mit den Ständen. Es ist der letzte Akt dieses hundertjährigen Kampfes, ein letztes Aufflackern des Widerstandes hie und da, das aber nirgends andere Formen angenommen hat, als die eines passiven Widerstandes gegen die durchgreifenden Reformen des Königs." [10] (280) Clark sieht das, gestützt auf die Forschung zu Ständetum und Staatsbildung mit Recht anders: "Der 'Staat' im eigentlichen Sinn war nach wie vor sehr klein. Die Zentralverwaltung - einschließlich der königlichen Beamten in den Provinzen - hatte insgesamt nur wenige Hundert Mitarbeiter. So etwas wie eine staatliche Infrastruktur gab es praktisch noch nicht." (141)
Unter Friedrich dem Großen aber, so Clark, "entwickelte die Monarchie ein ausgeprägtes Bewusstsein für ihr historisches Verhältnis." Die Preußen seien, vor allem dank der Kriegserfolge des Königs, preußische Patrioten geworden und "das überragende Interesse an der Person Friedrichs erwies sich als das dauerhafteste Vermächtnis der [...] Patriotismuswelle." (271) Tatsächlich verblasste angesichts der strahlenden Person des Königs bis heute beinahe sämtliche Kritik an Friedrich II.
Auch Clark hält sich, darin gleicht er Hintze bis in die Wortwahl, mit einschränkenden Äußerungen zu Friedrichs Regierung zurück. "Das friderizianische System funktionierte gut mit dem unermüdlichen und weitsichtigen Friedrich am Ruder, der die Probleme, die auf seinen Tisch kamen, mit seinem raschen und überragenden Intellekt, ganz zu schweigen von seinem Mut und seiner Entscheidungsfreude, anging. Was aber, wenn der König kein genialer Staatsmann war? Was, wenn er sich schwertat, Zwangslagen zu lösen? Was, wenn er zögerlich war und vor Risiken zurückschreckte? Was, anders gefragt, wenn es sich bei ihm um einen durchschnittlichen Menschen handelte? Wie würde dieses System mit einem solchen Monarchen an der Spitze unter Druck funktionieren?" (292)
Clarks Antwort: "Ohne Disziplin und Konzentriertheit einer starken Persönlichkeit im Zentrum lief das friderizianische System Gefahr, [...] zu zersplittern." (292) Mit anderen Worten: Friedrich Wilhelm II. hat den friderizianischen Staat verspielt - trotz des immensen territorialen Zugewinns, den er Preußen bei der Zweiten und Dritten Teilung Polens sicherte. Friedrich Wilhelm II. war, schreibt Otto Hintze, "recht im Gegensatz zu dem in heroischer Askese rastlos für den Staat arbeitenden Vorgänger ein bequemer Genussmensch, der wohl die besten Absichten hatte, aber nicht die Geistes- und Willensstärke und vor allem nicht die Ausdauer und Willenskraft, deren es bedurft hätte, um die Regierung im Sinn und Geist des großen Friedrich fortzuführen." [11]
Auch für Clark ist Friedrichs Neffe "die vielleicht schwächste Figur auf dem preußischen Thron in den letzten 150 Jahren". (342) Als Persönlichkeit, als Miniatur kommt er deshalb nicht vor. Das 1794 in Kraft getretene Allgemeine Landrecht beispielsweise erscheint bei Clark eindeutig und ausschließlich als "friderizianische" Errungenschaft. (330) Die offensichtliche Frage, warum Friedrich der Große seinen Staat nicht "unermüdlich und weitsichtig" so organisierte, dass er auch ohne "außergewöhnlichen" Herrscher, ohne ihn, funktionierte, da er um die "Schwächen" seines Nachfolger wusste, stellt Clark nicht. Die Antwort fiele für Friedrich wohl wenig schmeichelhaft aus. Sie würde das politische System des Königs, das den Staat ganz auf ihn zugeschnitten hatte, in Frage stellen und zeigen, dass seine Staatsräson nicht Preußen hieß, sondern Friedrich.
Clark wendet sich diesem Thema - ob bewusst oder unbewusst - nur indirekt zu, wenn er schreibt, der Zusammenbruch Preußens bei Jena und Auerstedt 1806 habe das "preußische System im Kern getroffen" und "die gesamte politische Ordnung des alten Preußen [...] in Frage gestellt" (363), und wenn er von da an "Die neue Monarchie" in einer "Welt der Bürokraten" datiert (364-399), in der die Dynastie zwar den Staat repräsentiert, ihre Bedeutung für das Funktionieren des Staates aber nach und nach hinter die der Beamten und Offiziere zurückfällt. Er verfolgt, "wie das alte Preußen, das mit der festgefügten Vorherrschaft des engstirnigen ostelbischen Junkertums geschlagen war, schrittweise von der ebenso modernen wie rücksichtslosen Politik [der Reformer und] vor allem Bismarcks transformiert wurde und wie Bismarck die Grundschwäche Preußens als eine Ansammlung disparater Territorien durch die Reichseinigung zu überwinden trachtete." [12] Folgerichtig steht Bismarcks Außenpolitik bei Clark im Mittelpunkt der Betrachtung (592-634); in der Innenpolitik interessiert ihn in erster Linie der Kulturkampf, die Auseinandersetzung der Konfessionen im neuen Reich. (648-657)
Bei Otto Hintze verkörperten Herrscher und Beamte gemeinsam den Staat, blieben eins bis ans Ende des Buches: "Bei den Wahlen und im öffentlichen Leben überhaupt sollten die eigentlich politischen Beamten sich als eifrige und unbedingt zuverlässige Organe der Regierungspolitik bewähren; ein königlicher Erlass vom 4. Januar 1882 betonte nachdrücklich den monarchischen Charakter der Regierungsweise und verlangte von den politischen Beamten ebenso wie von den Ministern selbst eine rückhaltlose Unterstützung des königlichen Regierungswillens." [13] Seine Geschichte endet vor der Abdankung Wilhelms II. 1918 und vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933. Die Frage nach der Verantwortung des preußischen Beamtentums für den Aufstieg Hitlers musste Hintze sich nicht stellen.
Clark aber muss sie beantworten: Es habe das sozialdemokratische Preußen Otto Brauns und das reaktionäre Preußen Hindenburgs gegeben. Otto Brauns Preußen, so Clark, "wurde in Deutschland zum 'Bollwerk der Demokratie' und zur wichtigsten Bastion der politischen Stabilität in der Weimarer Republik." (716f.) "Das einst von Klassenherrschaft und der politischen Unterdrückung der Arbeiterklasse geprägte Preußen, der Staat der jahrhundertealten Hegemonie der Junkerkaste", schreibt Clark im Anschluss an Braun, sei nach Ende des Ersten Weltkrieges, "innerhalb von nur zwölf Jahren in einen republikanischen Volksstaat umgewandelt worden." Dies gälte zwar nicht für die Justiz, doch 291 der 540 politischen Beamten in Preußen waren 1929 Mitglieder der demokratischen Koalitionsparteien SPD, Zentrum und DDP. Und auch bei der Polizei bestanden die höheren Ränge Ende der 1920er Jahre vollständig aus Republikanern. (718)
Die "Bedrohung der Existenz Preußens" sei nicht aus den Reihen der Staatsverwaltung erwachsen, "sondern von mächtigen Interessengruppen außerhalb des Staates, die den Sturz der Republik anstrebten", darunter die Junker, der Elite des alten, vordemokratischen Preußen, die sich als besonders anfällig für die Ideologie des Nationalsozialismus erwies. (721 und 725-727) "Die Auflösung Preußens" bewirkte Hindenburg am "Tag von Potsdam" am 21. März 1933: Er reichte Hitler die Hand und lieferte Preußen damit den Nationalsozialisten aus. (728-761)
War erst dies das Ende? Otto Hintze sah schon aus Preußen Deutschland werden: "Das Zeitalter Kaiser Wilhelms, dessen Hauptinhalt die Begründung des Deutschen Reiches unter Preußens Führung war, bezeichnet zugleich auch die Epoche, wo deutscher Geist und deutsche Bildung in Wissenschaft und Kunst ihren natürlichen Mittelpunkt in dem Staate und der Hauptstadt der Hohenzollern gefunden haben." [14] Christopher Clark formuliert weniger positiv: "Deutschland war nicht die Erfüllung Preußens, sondern sein Verderben." (13) Der Ausgriff Preußens nach Westen habe nach 1815 nicht zu einer "Assimilierung" etwa der Rheinprovinz geführt, sondern stattdessen den Staat gezwungen, sich neu zu konstituieren. "Die Einführung der preußischen Verwaltung mit ihren Oberpräsidenten und Provinziallandtagen" förderte die regionale Identität, nicht aber die Integration, und dies nicht nur im Rheinland. Nach 1866 wurde dieser Effekt "durch die territoriale Expansion Preußens nach dem Krieg gegen Österreich noch gesteigert." (776)
Wie Clark (trotz seiner Kapitelüberschrift: "In Deutschland aufgegangen") zeigt, fiel die letzte Ausdehnung Preußens in eine Zeit, in der sich in Deutschland regionale Eigenart und regionales Bewusstsein intensivierten. Eine preußische Identität bildete sich nur in Brandenburg und Teilen Pommerns. Im übrigen Reich wollte man lieber deutsch sein. Preußen als Idee konnte sich demnach nicht ausbreiten, ging aber auch nicht verloren, sondern konzentrierte sich in den alten Kernlanden. [15] Das tatsächliche Ende kam erst mit dem Kontrollratsgesetz vom 25. Februar 1947.
"Preußen ist tot, aber nicht erledigt". [16] Das stimmt, wenn man einen Blick in die deutschen Feuilletons wirft, die Clarks Buch enthusiastisch aufgenommen haben. Dazu trägt in erster Linie die Offenheit und Unbefangenheit bei, mit der er sich seines Gegenstandes annimmt, darüber hinaus aber auch die Sympathie, mit der Clark auf Preußen blickt und die ihn davor schützt, dessen Geschichte nur unter negativem Vorzeichen zu betrachten. Damit hat er den Nerv fast des gesamten Feuilletons getroffen. Denn dort scheint man es leid zu sein, das Ziel der preußischen Geschichte allein im 'Dritten Reich' zu erblicken.
Christopher Clark hat recht, denn "die Geschichte des preußischen Staates ist zugleich die Geschichte der Geschichte des preußischen Staates, denn der preußische Staat erfand seine Geschichte sozusagen erst beim Erzählen und entwickelte nach und nach eine immer ausgefeiltere Darstellung seines bisherigen Werdegangs und seiner Ziele in der Gegenwart." [17] (15) Da man sich mit dieser Geschichtsschreibung auseinandersetzen muss, sie gegebenenfalls revidieren muss, um dem Wesen dieses Staates nahe zu kommen, ist Preußen wohl noch lange nicht erledigt. [18]
Otto Hintze hat mit der Revision der borussischen Geschichtsauffassung vorsichtig begonnen. Christopher Clark hat, auf diese Vorarbeit gestützt, an anderer Stelle einen weiteren Schritt gemacht. Er hat das von den alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkriegs stammende und in das deutsche Bewusstsein eingegangene Bild vom "militaristisch-aggressiven Machtstaat Preußen, der Untertanen mit Kadavergehorsam erzog und Deutschland auf einen fürchterlichen Sonderweg in der Geschichte Europas zwang", durchleuchtet und Übermalungen und Patina entfernt.
Anmerkungen:
[1] SZ vom 20.3.2007. Siehe auch Hartwin Spenkuch in: http://http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4174, Stephan Speicher: Viel gesehen. Christopher Clarks großartiges Buch "Preußen. Aufstieg und Niedergang", Berliner Zeitung vom 24./25. Februar 2007 und Volker Ullrich: Das doppelte Preußen. Glänzend erzählt, gerecht im Urteil: Christopher Clarks Meisterwerk über den Hohenzollernstaat, DIE ZEIT vom 15. Februar 2007.
[2] Friedrich Meinecke: Straßburg / Freiburg / Berlin 1901-1919. Erinnerungen, Stuttgart 1949, 158.
[3] Friedrich Meinecke: Erlebtes 1862-1901, Leipzig 1941, 117.
[4] Otto Hintze: Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländischer Geschichte, Berlin 1915, VII.
[5] Max Maurenbrecher: Die Hohenzollern-Legende. Kulturbilder aus der preußischen Geschichte vom 12. bis zum 20. Jahrhundert, 2 Bde., Berlin o.J. [1906], Bd. 1, 348-379.
[6] Sebastian Haffner: Preußen ohne Legende, Hamburg 1979, 40-53.
[7] Hintze: Die Hohenzollern und ihr Werk (wie Anm. 4), VII.
[8] Christopher Clark: Kaiser Wilhelm II, Harlow u.a. 2000.
[9] So Clark bei der Vorstellung seines Buches am 20. Februar 2007 in Berlin, siehe Ulrike Gruska: Königreich aus Flicken. Eine neue Geschichte Preußens, in: Märkische Allgemeine Zeitung v. 23. Februar 2007.
[10] Hintze: Die Hohenzollern und ihr Werk (wie Anm. 4), 280.
[11] Hintze: Die Hohenzollern und ihr Werk (wie Anm. 4), 405.
[12] Bernhard Schulz: Auf Sand gebaut. Vor 60 Jahren wurde Preußens Ende erklärt. Das Urteil über den eigenartigen Staat fällt heute differenzierter aus als 1947, Der Tagesspiegel vom 23. Februar 2007
[13] Hintze: Die Hohenzollern und ihr Werk (wie Anm. 4), 673.
[14] Hintze: Die Hohenzollern und ihr Werk (wie Anm. 4), 673.
[15] Siehe auch Ullrich: Preußen (wie Anm. 1).
[16] So Hartmut Dorgerloh: Was von Preußen bleibt, DIE WELT vom 28. Dezember 2007.
[17] Eberhard Straub: Historische Entmystifizierung. Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600-1947, http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/politischesbuch/595225, (5.10.2007).
[18] Dazu etwa: Preußen. Der kriegerische Reformstaat, SPIEGEL SPEZIAL GESCHICHTE 3/2007.
Jürgen Luh