Rezension über:

Josef Rattner / Gerhard Danzer: Philosophie im 17. Jahrhundert. Die Entdeckung von Vernunft und Natur im Geistesleben Europas, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, 207 S., ISBN 978-3-8260-3281-3, EUR 25,00
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Rezension von:
Hanns-Peter Neumann
Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA), Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
Redaktionelle Betreuung:
Holger Zaunstöck
Empfohlene Zitierweise:
Hanns-Peter Neumann: Rezension von: Josef Rattner / Gerhard Danzer: Philosophie im 17. Jahrhundert. Die Entdeckung von Vernunft und Natur im Geistesleben Europas, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 7/8 [15.07.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/07/10953.html


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Josef Rattner / Gerhard Danzer: Philosophie im 17. Jahrhundert

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Der vorliegende Band zur Philosophie des 17. Jahrhunderts führt zunächst einleitend in die verhandelte Thematik ein, um dann in einzelnen Kapiteln jene Persönlichkeiten der Zeit biografisch und doxografisch vorzustellen, die "in der Epoche des Absolutismus die Autonomie und Traditions-Unabhängigkeit des Geistes eroberten." (7) Die Philosophen, die laut Rattner und Danzer diese Kriterien erfüllten, werden schließlich in folgender Reihenfolge beschrieben: Montaigne, Bacon, Hobbes, Locke, Descartes, Malebranche, Gassendi, Bayle, Spinoza, Galilei, Newton, Leibniz und abschließend Thomasius. Ein Literaturverzeichnis rundet den Band ab.

Schon die Angaben in der Bibliografie verdeutlichen, dass sich Rattners und Danzers Buch keinesfalls als Beitrag zur philosophiehistorischen Forschung verstehen lässt. Die angegebene Forschungsliteratur hört, mit einer Ausnahme, Ende des letzten Jahrtausends auf. Der größte Teil besteht aus Neuauflagen älterer, meist biografischer Literatur sowie aus Quelleneditionen und -übersetzungen. Weder werden neuere Forschungsresultate für eine einführende Überblicksdarstellung fruchtbar gemacht, noch stellen die Autoren den Anspruch, eigene Forschungsergebnisse präsentieren zu wollen.

Ihr Anliegen ist vielmehr ein anderes: Es geht den Autoren um die essayistische Darlegung von aufklärerischen Tendenzen im 17. Jahrhundert, die, folgt man Rattner und Danzer, wegbereitend für die humanistisch-sozialistische Tiefenpsychologie war, wie sie von Josef Rattner seit Jahrzehnten gelehrt und in einem Berliner großgruppentherapeutischen Projekt seit 1968 umgesetzt wird - ein Projekt, das im Übrigen sowohl emphatisch umjubelt, als auch heftig kritisiert wurde. [1]

Daher muss der vorliegende Band als eine tendenziöse, da weltanschaulich geprägte und von einer psycho- und kulturtherapeutischen Position aus wertende Geistesgeschichte gelesen werden. Er gehört vor dem Hintergrund der Rattnerschen Tiefenpsychologie, die auf eine aufgeklärte und aufklärende Entwicklung der Persönlichkeit des (lesenden) Individuums abzielt und sich zu diesem Zweck philosophisch-humanistischer Bildung und kulturanalytischer Kritik als therapeutischer und pädagogischer Ingredienzien bedient, zur Gattung kultur- und tiefenpsychologischer Erbauungsliteratur.

Das alles wäre kein Problem, wenn Rattner und Danzer den tiefenpsychologischen Ausgangspunkt ihrer philosophiegeschichtlichen Betrachtungen transparent gemacht hätten. Der Leser wüsste, woran er ist, und müsste nicht schon deren Arbeiten kennen, um das vorliegende Werk einordnen zu können.

Genauso wenig wie Rattner und Danzer ihren perspektivischen Ausgangspunkt offen darlegen, machen sie auch das Kriterium für die Einteilung des Buches deutlich. Das einfachste Kriterium, das der chronologischen Abfolge, kann es jedenfalls nicht gewesen sein. Denn die oben zitierte Reihenfolge der verhandelten Philosophen entspricht nicht der zeitlichen Abfolge ihres Auftretens. So verorten Rattner und Danzer Locke (1632-1704) vor Descartes (1596-1650) sowie Spinoza (1632-1677) vor Galilei (1564-1642). Auch systematische Gesichtspunkte scheinen für die Aufteilung keine Rolle gespielt zu haben. Jedenfalls lassen sich solche nicht erkennen. So entsteht der Verdacht, dass es sich hier bloß um die lose Abfolge von Essays handelt, die Kondensate von Lektüreerlebnissen und ideologischen Voreinstellungen sind.

Der Mangel an Methodik macht sich auch an folgendem Beispiel bemerkbar: Allein mit der Überschrift des Kapitels über Montaigne - "Vorspiel zum neuzeitlichen Philosophieren - Montaignes Skepsis und Epikureismus" - glauben Rattner und Danzer bereits legitimiert zu haben, warum mit Montaigne ein ausgewiesener Schriftsteller des 16. Jahrhunderts am Beginn eines Buches über die "Philosophie im 17. Jahrhundert" steht. Eine einleuchtendere Begründung dafür findet sich jedenfalls nicht. Besser passt das Montaignekapitel da schon in ein neueres Buch von Rattner und Danzer, "Europäische Moralistik in Frankreich von 1600 bis 1950: Philosophie der nächsten Dinge und der alltäglichen Lebenswelt des Menschen" (Würzburg 2006), in dem es mit einem anderen Titel, aber mit identischem Text wieder auftaucht. Aber selbst hier kommt es zu einem chronologischen Fauxpas: Montaigne starb 1592, Rattner und Danzer aber lassen die europäische Moralistik erst 1600 beginnen.

Ein möglicher Grund für solche recht häufig anzutreffenden chronologischen Unpässlichkeiten mag die klare Vorstellung Rattners und Danzers sein, wann ein bestimmter Wegabschnitt im "Gang des Geistes in der Neuzeit" (35) beginnt und wann er aufhört. Im 17. Jahrhundert fängt für die Autoren die Aufklärung als Weg in die neuzeitliche Moderne an, während die Renaissance als "Brücke zur Antike" (9) der Vergangenheit verhaftet bleibt und deswegen auch nicht zur Neuzeit zu rechnen ist. Die Protagonisten des 17. Jahrhunderts würden sich von der Tradition lossagen und unabhängig von dieser autonom denken. Die Denker des 15. und 16. Jahrhunderts hingegen hätten zwar durch die "Wiedereroberung der griechischen Kultur" vieles gelernt, "was durch das Christentum in den Hintergrund gedrängt worden war", seien jedoch so sehr im "Kampf gegen die Scholastik" befangen gewesen, dass sie nicht "zu ganz neuen Horizonten" vorzustoßen vermochten. (9)

Abgesehen davon, dass der sogenannte Kampf gegen die Scholastik, den die Renaissance geführt habe, ein in seiner Plakativität und Pauschalisierung unsinniges Klischee ist, wird hier bereits die Aversion deutlich, die Rattner und Danzer gegen das Christentum hegen und die sie in völlig undifferenzierter Weise in ihre Ausführungen integrieren. So sprechen die beiden Autoren im Kapitel über Montaigne allen Ernstes vom "folgenschweren kulturellen Irrtum des Christentums" (32), den Montaigne überwunden habe. Mit einer solchen indifferenten und nicht weiter begründeten Wertung verstellen sie sich und dem Leser, der solche Aussagen ernst nimmt, den Zugang zu einer Zeit, in der Menschenbild, Gesellschaft, Politik, Wissen und Wissenschaft wesentlich vom christlichen Glauben und von den jeweiligen zeitgenössischen Theologien geprägt war. Ob wir nun für kirchliche Institutionen oder die Religiosität des christlichen Glaubens persönliche Sympathien haben oder nicht, ist für eine distanzierte und differenzierte Betrachtung der historischen Verhältnisse völlig irrelevant.

Auch ist es müßig, auf die häufigen Widersprüche hinzuweisen, in die sich Rattner und Danzer verstricken: So proklamieren sie für die Denker des 17. Jahrhunderts zwar geistige Autonomie und Traditionsunabhängigkeit, erklären dann aber Lockes "radikal empiristische Erkenntnislehre" nicht aus dessen Genie, sondern führen diese "auf die uralte Tradition eines an der Praxis orientierten Denkens" der griechischen Antike zurück (71).

Fazit: Rattners und Danzers "Philosophie im 17. Jahrhundert" eignet sich nicht einmal als Einführung für Studierende der Geisteswissenschaften und ist auch für den am Thema interessierten Laien nicht zu empfehlen. Dafür lässt der Band nur allzu häufig die nötige wissenschaftliche Distanz vermissen, was zu an sich vermeidbaren Missverständnissen und Vorurteilen führen kann. Denn Rattner und Danzer warten immer wieder, vor allem bei ihren Werkanalysen, mit äußerst zweifelhaften Urteilen und Klischees auf, die zudem noch mit faktischen Fehlern und instringenten Argumentationen einhergehen. Interessant wird die Lektüre allenfalls dann, wenn man Einsicht in die schriftstellerischen Auswirkungen der Ideologie und des Geschichtsbildes der humanistisch-sozialistischen Tiefen- und Kulturpsychologie und Psychohygiene Rattners gewinnen möchte.


Anmerkung:

[1] Man vergleiche zu Rattner zwei unterschiedliche Stellungsnahmen, die im Internet verfügbar sind: Helmut Albrecht: Leiden und Tragik eines Meisters (http://www.bbpp.de/diverse-texte/rattner2004.htm); Gerald Mackenthun: Humanismus, Pazifismus, Psychologie - Die Weltanschauung Josef Rattners (http://home.arcor.de/g.mackenthun/lect/JosefRattner1998.htm)

Hanns-Peter Neumann