Rezension über:

Gesa Ingendahl: Witwen in der Frühen Neuzeit. Eine kulturhistorische Studie (= Geschichte und Geschlechter; Bd. 54), Frankfurt/M.: Campus 2006, 380 S., ISBN 978-3-593-38171-8, EUR 39,90
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Rezension von:
Olga Weckenbrock
Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Osnabrück
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Olga Weckenbrock: Rezension von: Gesa Ingendahl: Witwen in der Frühen Neuzeit. Eine kulturhistorische Studie, Frankfurt/M.: Campus 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 7/8 [15.07.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/07/12599.html


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Witwen in der Frühen Neuzeit

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Die Stadt Ravensburg startete in den 1990er Jahren ein Projekt mit dem Ziel, die Frauengeschichte als kulturellen Standortfaktor zu erschließen. Diese Initiative brachte einige fundierte Studien hervor, zu denen auch die vorliegende Arbeit - zugleich die Dissertationsschrift - der Volkskundlerin Gesa Ingendahl zählt. Darin nähert sie sich dem Witwenstand als einem Bestandteil des komplexen Ordnungsgefüges der Ständegesellschaft und präsentiert ihn in seinem kulturgeschichtlichen Umfeld in der Stadt Ravensburg im 17. und 18. Jahrhundert.

Die Untersuchung ist in einer interdisziplinären und heterogenen Forschungslandschaft angesiedelt: Die Witwenschaft wurde bereits häufig zum Forschungsobjekt, allerdings zumeist historisch arbeitender Wissenschaftler. Wegen des Ausnahmezustands dieser Frauengruppe blieb die Beschäftigung mit ihnen jedoch "dem Deskriptiven, ja zuweilen dem Anekdotischen verhaftet" (10). Beim Versuch, dieser Erzähltradition zu entkommen, erlebte das Interesse an Witwen auch in der Geschichtswissenschaft einen Perspektivwechsel. So entdeckte die mikrohistorisch arbeitende Frauen- und Geschlechtergeschichte der 1990er Jahre die historische Witwenschaft als die beweglichste und spannungsreichste Lebensform aufgrund rechtlicher Freiräume, die den Witwen vor allem im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit zugesprochen wurden und die den übrigen "männerlosen" Frauen nicht zustanden. Die gute Quellenlage - in Justiz und Verwaltung - ermöglichte Erkenntnisse über das selbstständige Handeln verwitweter Frauen vor dem Hintergrund der jeweiligen Rechts- und Sozialbedingungen. Die heutige Witwenforschung untersucht primär die Witwenschaft im Kontext des Lebenszyklus innerhalb des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Hausstands. Ein Desiderat bilden jedoch die Verortung und Erforschung von kulturell organisierten Bildern und Deutungsmustern von Witwen in der Frühen Neuzeit.

Ingendahl schließt diese Forschungslücke und leuchtet die spezifische Form der frühneuzeitlichen Witwenschaft unter sozial- und kulturgeschichtlichen Aspekten aus. Ihr erkenntnisleitendes Interesse richtet sich auf die Ursachen für die Entwicklung des rechtlich institutionalisierten Witwenstands und auf die Aufgaben dieser "Sinnformation" vor dem Hintergrund der ansetzenden geschlechterbezogenen Ausdifferenzierung der Lebensbereiche in öffentlich und privat. So gliedert sich die Fragestellung der Arbeit ebenfalls in zwei Bereiche, denen jeweils eine eigene Einleitung gewidmet ist. Zum einen stellt sich die Frage nach der Genese des Witwenstands aus einem trauernden und Toten umsorgenden sozialen Typus des Mittelalters zu einem solchen, der absichtsvoll Geschlechtergrenzen durchbrach und Frauen über den Hausstand der Witwe in ansonsten männlich definierten Lebensbereichen verortete. Zum anderen wird der symbolische Charakter des Witweseins in der Frühen Neuzeit sowie seine Rolle bei der Entstehung der sozialen Kategorie der Witwe erforscht. Ingendahl stellt dabei fest, dass "der Bedeutungszuwachs des Witwenstands [...] als ein Referenz- und Kristallisationspunkt für gesellschaftliche Diskurse um Geschlecht, Beruf und Eigentum zu begreifen ist, über die sich die frühneuzeitliche Öffentlichkeit maßgeblich konstituierte" (19). Im Zentrum der Arbeit steht somit die Erforschung von Austauschprozessen zwischen den gesellschaftlichen Schichten, den Auswirkungen von Herrschaftsverhältnissen und den kulturellen Praktiken in den Lebenswelten der Ständegesellschaft.

Im 17. und 18. Jahrhundert erfolgte in Ravensburg eine Reihe von Verrechtlichungs- und Verschriftlichungsprozessen, deren Entwicklung sich auch in der Quellenauswahl der Arbeit widerspiegelt: Ingendahl zieht einerseits administrativ-serielle Quellen und andererseits die normativen Regelwerke für ihre Analyse heran, die sie sowohl quantitativ als auch qualitativ auswertet. In historisch-anthropologischer Arbeitsweise nähert sich die Autorin dem Mikrokosmos der sozialen Gruppe von Witwen und leuchtet in ethnografischer Erzählweise die kulturelle Dimension der behandelten Phänomene aus. Sie rekonstruiert die kulturelle Praxis und die damit verbundene symbolische Aneignung der Welt sowie den Wandel, in dem sie präzise und kritisch die Archivquellen aus Recht, Zunft und Verwaltung kontextualisiert und ihre Bedeutungsinhalte interpretiert.

Die Arbeit gliedert sich in vier Teile: Im ersten Rahmenkapitel wird die historische Sichtbarkeit der Witwen im frühneuzeitlichen Ravensburg auf der Grundlage des Forschungsstands detailliert herauspräpariert. Ingendahl konstatiert dabei, dass die Witwen bereits früh durch die Stadtverwaltung in die schriftliche Reglementierung der Besitzverhältnisse und des Handwerks eingebunden worden seien, wobei sich ihr rechtlicher Status vom Ungefähren zum Verbindlichen entwickelt habe. Im zweiten Kapitel erfolgt die Verortung und Beschreibung der Witwen in ihren sozialen und ökonomischen Bedingtheiten als Stadteinwohnerinnen. Anhand des Ravensburger Seelenbeschriebs - die erste Häuser- und Bevölkerungszählung der Stadt 1789 - und des Steuerbuchs zeichnet Ingendahl eine Außensicht des Witweseins nach. Für die Verwitweten wurden die geburtsständischen Prinzipien suspendiert, lediglich die Witwen von städtischen Eliten profitierten von dem sozialen Ansehen ihrer Ehemänner. Die Frauen aus den Unterschichten gerieten schnell an den Rand der Gesellschaft, weil ihre Erwerbstätigkeit beispielsweise im Kleinhandel und Tagelohn nicht statusbildend war. Lebten sie im Haushalt ihrer Verwandten, traten sie im Steuerbuch gar nicht mehr auf.

Das umfangreichste Kapitel ist das dritte; darin erscheinen die Witwen als Stadtbürgerinnen und Stellvertreterinnen ihrer verstorbenen Ehemänner. Im Gegensatz zu den beiden ersten Kapiteln werden hier Lebensbereiche wie etwa Handwerk, Erbpraxis und Witwenunterstützung behandelt, deren Rechtsräume bereits sehr früh schärfere Konturen erhielten. Die meisten Ravensburger Witwen gehörten dem Stadtbürgertum an, in dem sie in den ausgehandelten Verantwortlichkeiten und Handlungsräumen auch trotz ihres Sonderstatus mehr oder weniger fest verankert waren. Für alle sozialen Witwengruppen lässt sich jedoch um 1800 eine Verschlechterung ihrer Position feststellen, die aus der Unvereinbarkeit ihrer Lebensweise mit den aufkommenden geschlechterspezifischen Arbeits- und Lebensmodellen resultierte. Im vierten Kapitel über Witwen in der Familie wertet Ingendahl die Heiratsverträge aus, die die Verschränkung der familialen Besitzweitergabe mit den Ordnungsvorstellungen der Obrigkeit dokumentieren. "Insgesamt zeichnet sich [...] ein Bild antizipierter familialer Witwenschaft im 18. Jahrhundert ab, in dem weitreichende und mit männlichen fast vergleichbare Besitzanrechte gegen die Herkunftsfamilien durchgesetzt und festgeschrieben wurden." (319).

Im Schlusskapitel werden die Ergebnisse unter der Prämisse der Witwen als Teilhaberinnen am urbanen Gesellschaftsleben zusammengetragen. Dabei verschränkt Ingendahl die beiden Ebenen der kulturellen Deutungsmuster und der normativ-rechtlichen Formierung des Witwenstands. Während sich die Auffassungen von Witwesein über lange Zeit ausdifferenzierten und gegenseitig neutralisierten, trugen die Normen durch ihre spezifischen Vorstellungen von Ehe und Geschlechterbeziehungen dazu bei, dass aus der trauernden und totenumsorgenden Lebensform des Mittelalters eine soziale Kategorie der Witwe entstand und in der frühneuzeitlichen Gesellschaft schnell an Bedeutung gewann. Wegen seiner prägenden Rolle für die gesellschaftliche Meinungsbildung um Geschlecht, Besitz und Beruf war der Witwenstand in der Frühen Neuzeit normativ wie alltagspraktisch von hoher Bedeutung.

Die Studie von Gesa Ingendahl besticht durch die konzentrierte Zielführung und die ausgezeichnet ausgearbeitete Feingliederung. Außerdem überzeugt sie durch ihre ausgefeilte Methodik und klare Argumentation und schließt die anfangs konstatierte Lücke in der kulturgeschichtlichen Witwenforschung der Frühen Neuzeit. Im Anhang finden sich eine Bibliografie von zeitgenössischen Literatur- und Wissensprodukten zu Witwenbildern sowie statistisches Quellenmaterial zum Witwenleben im Ravensburg des 18. Jahrhunderts.

Olga Weckenbrock