Klaus Tenfelde u.a. (Hgg.): Stimmt die Chemie? Mitbestimmung und Sozialpolitik in der Geschichte des Bayer-Konzerns, Essen: Klartext 2007, 472 S., ISBN 978-3-89861-888-5, EUR 29,95
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"Die Bayer-Familie gibt es nicht mehr" (19) - auszugehen hat der anzuzeigende Sammelband vom vermutlich größten Einschnitt in der Geschichte eines der traditionsreichsten deutschen Unternehmen: Einem radikalen, den Herausforderungen der globalisierten Wirtschaft geschuldeten Konzernumbau, der mit Ausgliederung der Chemiesparte im Jahre 2005 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte und zwangsläufig auf breiter Front enorme emotionale Verwerfungen hervorrief. Mithin wurde zugleich eine fast hundert Jahre hochgehaltene Unternehmensideologie dekonstruiert, die Überbau gewesen war für eine umfassende betriebliche Sozialpolitik, in Abhängigkeit dazu eine spezifische Art unternehmerischer Mitbestimmung und in deren Zentrum das Narrativ der "Familie Bayer" gestanden hatte.
Der Band möchte einem Forschungsdesiderat abhelfen und Betriebsalltag jenseits gesetzlicher Bestimmungen ins Blickfeld nehmen. Am Beispiel eines deutschen Weltkonzerns soll eine vielschichtige Geschichte unternehmerischer Sozialpolitik im Allgemeinen und konkreter Mitbestimmungsarbeit im Besonderen geschrieben werden. In diesem Sinne stammen die 24 Beiträge teils von Wissenschaftlern, teils von Praktikern aus der Verbands- und Betriebsratsarbeit. Um dem abstrakten Begriff der "Mitbestimmungskultur" inhaltliche Substanz zu verleihen, sollen gleichsam "gelebte Erfahrung und wissenschaftliche Erkenntnis" zu einem gewinnbringenden Ganzen vereint werden (9).
Das zeitliche Spektrum, das der Band umfasst, ist dabei ebenso breit wie das thematische: Seine Beiträge reichen vom Kaiserreich bis zum 21. Jahrhundert, von Carl Duisberg bis zu "New Bayer", von tarifpolitischen Problemen bis zur Interessenvertretung ausländischer Arbeitnehmer, von oppositioneller Betriebsratsarbeit bis zum Sprecherausschuss der leitenden Angestellten. Subtile Einsichten in die komplexe Alltagswirklichkeit unternehmerischer Mitbestimmung liefern insbesondere die Beiträge von Werner Plumpe und Kirsten Petrak.
Die Zeit zwischen dem Ende des Ersten und dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Augenschein nehmend, kann Plumpe einerseits die vielversprechenden Momente in den Anfängen betrieblicher Mitbestimmungsarbeit aufzeigen: die phasenweise spannungsfreie Funktionstüchtigkeit der im Zuge der Revolution geschaffenen Ausschussstruktur sowie das konstruktive Miteinander von Werksleitung und Betriebsrat während der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Andererseits stellt er jedoch auch die Widersprüche zwischen Gesetzestext und betrieblichem Alltag klar heraus: Die neuen Mitbestimmungsregeln wurden von vielen Beschäftigten als restriktiv erachtet, weshalb es Anfang der 1920er Jahre wiederholt zu aktionistischen Streikhandlungen kam. Zwischen 1923 und 1925 setzte die Werksleitung die Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat aus, weil dieser von kommunistisch-syndikalistischen Gruppierungen dominiert wurde. Die Weltwirtschaftskrise brachte einen Abbau betrieblicher Sozialleistungen, beifolgend ein erneutes Erstarken radikaler Kräfte und ließ somit die Mitbestimmungsarbeit zusehends verdorren. Bezeichnend erscheint auch die Willfährigkeit, mit der die Unternehmensführung nach 1933 die Umsetzung der nationalsozialistischen Betriebsverfassung vorantrieb, völkischer Gemeinschaftsideologie entgegenarbeitete und die Ausschaltung betrieblicher Mitbestimmung akzeptierte.
Petrak widmet sich den Jahren von 1945 bis 1960. Sie kann deutlich machen, dass vor allem in der frühen Nachkriegszeit Werksleitung und Betriebsrat nicht nur als Mediatoren der "Familie Bayer" fungierten, sondern bedingt durch die Allgegenwart des Mangels sowie infolge des guten persönlichen Verhältnisses zwischen Generaldirektor und Betriebsratschef durchaus auch in deren Sinne unter dem Rubrum "Kooperation statt Konfrontation" eng zusammenarbeiteten. Petrak weist indes auch nach, dass die Mitbestimmungsmaschinerie sowohl vor als auch nach Einführung des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahre 1952 keineswegs reibungslos lief. Die konkrete Ausschussarbeit barg immer wieder Spannungen. Immer wieder wurden die gesetzlich vorgesehenen Gremien gar nicht einberufen, häufig mussten Probleme im kleinen informellen Kreis erledigt werden.
Derart zielführend gehen nicht alle wissenschaftlichen Beiträge vor. Valentina Maria Stefanski etwa bietet in ihrem Aufsatz über das I.G. Farbenwerk Leverkusen im Zweiten Weltkrieg eher eine differenzierte Sozial- und Alltagsgeschichte ausländischer Zwangsarbeiter, als dass sie der Themenstellung des Bandes Rechnung trägt. Es hätte pointierter Stellung genommen werden können zu der Frage, inwieweit die ausländischen Beschäftigten in die unternehmerische Sozialpolitik eingebunden waren: Welche Sozialleistungen erhielten sie, welche wurden ihnen vorenthalten? Was ist mit dem Zusammenhang von NS-Gefälligkeitsdiktatur und Ausbeutung der Zwangsarbeiter? Und welche Rolle spielte in diesem Kontext der Vertrauensrat?
Die Beiträge der Praktiker besitzen vor dem Hintergrund des jüngsten Konzernumbaus und des Niedergangs der Bayer-Familienideologie mitunter nostalgische Züge, aber auch deswegen sind sie erhellend und spannend zu lesen. Sie überzeugen vor allen Dingen dann, wenn sie den Charakter von Erinnerungsberichten besitzen. Besonders eindrücklich sind die Ausführungen von Hans-Joachim Möller und Thomas de Win zu Genese sowie Möglichkeiten und Grenzen des Bayer Europa-Forums. Nicht minder gilt dies für Roswitha Süßelbecks Darstellung verschiedener Gleichstellungsprojekte, die seit den 1980er Jahren mit gewerkschaftlicher Hilfe bei Bayer initiiert wurden. Weniger gewinnbringend nehmen sich die Praktikeraufsätze beim Versuch der historischen Kontextualisierung aus. Manchmal wird allzu schematisch und wenig differenziert Überblickswissen präsentiert; gelegentlich mangelt es an der notwendigen Präzision: Was bedeutete es etwa genau, wenn alle Maßnahmen der Aus- und Fortbildung während des Ersten Weltkrieges "im Zeichen einer vaterländischen Mobilisierung" standen oder nach 1933 "an den Maximen nationalsozialistischer Politik ausgerichtet" waren (307)?
In der Gesamtschau wirkt der Sammelband an manchen Stellen redundant, es kommt zu einigen Wiederholungen. In inhaltlicher Hinsicht bleiben zwei Aspekte unterbelichtet: zum einen die außerbetriebliche Dimension. Das Wechselverhältnis zwischen Werk und Stadt wird nur am Rande thematisiert. Dabei wäre es höchst interessant zu erfahren, welche Rückwirkungen die Bayer-Sozialideologie auf die Anliegerkommune hatte, inwieweit eine Transformation in politische Macht stattfand und welchen Einfluss wiederum die Umgebung - zumal nach Aufkommen der Umweltdiskussion - auf die Sozialpolitik und Mitbestimmungsarbeit im Unternehmen ausübte. Zum anderen richtet sich der Blick fast ausschließlich auf Leverkusen. Wie positionierte man sich aber an anderen Bayer-Standorten gegenüber der Erzählung der "Familie Bayer"? Sah die Mitbestimmungspraxis in Werken wie Dormagen, Uerdingen oder Brunsbüttel genauso aus wie am Firmensitz?
Nichtsdestotrotz vermag der Band seinem Anspruch gerecht zu werden. Er vereint in fruchtbarer Weise die Perspektiven von Wissenschaft und Praxis und liefert mit seinen aufschlussreichen, aufwendig illustrierten und gut lesbaren Beiträgen in der Tat "eine facettenreiche Gesamtdarstellung der Mitbestimmungsarbeit im Bayer-Konzern" (8). Nebst seinem ausführlichen Anhang, der eine Auswahlbibliografie sowie interessante Firmendaten beinhaltet, schafft er eine solide Grundlage für weitere Arbeiten zur Bayer-Geschichte (eventuell sogar eine dringend notwendige kritische Gesamtdarstellung der Konzernhistorie) und zur "Mitbestimmungskultur" in Deutschland. Eindrucksvolle Quelle für den Umgang mit der wahrscheinlich drastischsten Veränderung in der Bayer-Geschichte ist der Band ohnehin.
Markus Raasch