Erich Franz (Hg.): Freiheit der Linie. Von Obrist und dem Jugendstil zu Marc, Klee und Kirchner, Bönen: Kettler 2007, 288 S., 300 Abb., ISBN 978-3-939825-67-8, EUR 29,80
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Der Modernisierungsprozess in den Künsten um 1900 wird üblicherweise vor allem mit der Befreiung der Farbe in Zusammenhang gebracht, wie sie sich etwa bei den französischen Fauves oder dem deutschen / russischen "Blauen Reiter" manifestiert. Dass die Befreiung der Linie hier eine ebenso große Rolle spielt, soll im vorliegenden Katalogbuch belegt werden, das 2007 anlässlich einer Ausstellung im Münsteraner "Landesmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte" entstand. Nach einigen Aufsätzen, die in die Gesamtproblematik einführen, wechseln knappe Künstlerdarstellungen mit dazugehörigen, klug ausgewählten und hervorragend reproduzierten Werken ab. Ein großer Teil der Texte - in einer anthroposophisch angehauchten Schrifttype gedruckt - stammt von Erich Franz, der den Band auch herausgegeben hat.
Der geistesgeschichtliche Rahmen für das im Buch Präsentierte ist mit der im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert einflussreichen, heute zu Unrecht weitgehend vergessenen Einfühlungspsychologie gegeben. Das letzte Kapitel (264ff.) widmet sich monografisch "Theodor Lipps und der Theorie der Einfühlung", der Begründer der wissenschaftlichen Psychologie und Lehrstuhlinhaber an der Münchener Universität wird aber auch sonst immer wieder angesprochen. Rein biografisch ist das schon alleine dadurch gerechtfertigt, dass Lipps in Kontakt mit Künstlern stand, die zum Teil sogar bei ihm studierten. Praktisch alle im Katalog vertretenen Künstler, seien es Hermann Obrist, Wassiliy Kandinsky, Paul Klee, Franz Marc, Ernst Ludwig Kirchner, Adolf Hölzel oder August Macke, sind im Übrigen in entscheidenden (Ausbildungs-)Phasen in München nachzuweisen oder stammten aus der bayerischen Metropole.
Bedeutsamer ist natürlich der konzeptionelle Zusammenhang von Einfühlungspsychologie und "Befreiung der Linie", der zwar bislang nicht unbekannt war und insbesondere in den Studien zu verschiedenen Jugendstilkünstlern herausgearbeitet wurde, in dessen breiterer Darstellung aber wohl das eigentliche Verdienst von Ausstellung und Katalog liegt. Im Anschluss an ihre Begründer - hier wären vor allem Friedrich Theodor und Robert Vischer zu nennen - hatte die Einfühlungspsychologie postuliert, dass die Projektion von Innerlichkeit in eine Beobachtungsgegebenheit hinein ein grundlegendes Faktum der menschlichen Psyche ist, die dann in der Einfühlungsästhetik auf künstlerische Phänomene übertragen wird. Ein Wolkenhimmel, aus dem es regnet, wird vom "primitiven", ästhetisch sublimiert aber auch vom "kultivierten" Menschen als weinendes Gesicht gelesen, ein steil aufragender Berg als bedrohlicher Gegner. "Beseelung der ganzen Natur und Naturwerdung allen Geistes" hatte das schon bei dem älteren Vischer geheißen. [1]
Dass der innere Nachvollzug eines natürlich Gegebenen - beim Künstler - oder des im Kunstwerk Veranschaulichten - beim Kunstbetrachter - vor allem über die Form läuft, hat dann Lipps ausführlich auseinandergesetzt. Und hier konnten die Abstraktionswilligen unter den Avantgardekünstlern um 1900 mit großem Gewinn ansetzen. Es dürfte kein Zufall sein, dass die entscheidenden Vertreter, unter denen im Buch vor allem Obrist hervorgehoben wird, insbesondere im inhaltlich nicht gebundenen "Kunsthandwerk" tätig waren. Die abstrakte Linie wird bei ihnen zum Bedeutungsträger, ihr je spezifisch geformter Verlauf kann in der Projektion des Betrachters zum Ausdrucksträger werden, der körperliche Empfindungen wie Tragen und Lasten und Gestimmtheiten wie Fröhlichkeit auf direktem, also nicht semantisch vermitteltem Weg beinhaltet. Theoretiker der freien Linie wie Charles Blanc und Charles Henry, letzterer mit seiner Idee von den dynamogenen und inhibitorischen Figurationen, hatten hier parallel zu den Einfühlungsästhetikern mitgedacht, und sie werden in der vorliegenden Studie entsprechend gewürdigt. Das Kunstwerk kann damit zu einem Objekt werden, das nicht registrierend gelesen, sondern im seelisch-körperlichen Nachvollzug er-lebt wird. Mit Obrists "Serviertisch" von 1898 sei hier nur ein einziges Beispiel genannt, das eigentlich den gesamten Inhalt des Kataloges wie im Brennglas zusammenfasst. Das abstrakte Motiv des Tragens und Lastens, wie es im griechischen Tempel klassisch vorgeformt ist, wird hier zu einer "gelebten" Figuration. Die geschwungenen Beine scheinen sich unter der Last zu biegen, der Betrachter wird richtiggehend dazu angehalten, den körperlich belastenden Eindruck in der Imagination der eigenen Mühe nachzuvollziehen.
Dass der "Blaue Reiter" sehr viel mit dem Jugendstil zu tun hat, wissen wir spätestens seit Peg Weiss. [2] Dass auch der frühe Kirchner hier entscheidende Anregungen erhalten hat, ist schon weniger bekannt. Das umfassendere Beziehungsgeflecht aber, welches im München der Jahrhundertwende zwischen Kunst und Wissenschaft gesponnen wurde, wird in dem vorliegenden Katalogbuch über die "Freiheit der Linie" eindrucksvoll rekonstruiert. Zusammen mit Jutta Müller-Tamms Studie über "Abstraktion als Einfühlung" [3], welche die überragende Bedeutung des Projektionstheorems für die moderne Kunst belegt hat, kann es als Nukleus einer Modernisierungstheorie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gelesen werden.
Anmerkungen:
[1] Friedrich Theodor Vischer: Das Schöne und die Kunst. Zur Einführung in die Ästhetik, Stuttgart 21898, 90.
[2] Peg Weiss: Kandinsky in Munich. The formative Jugendstil years, Princeton 1979.
[3] Jutta Müller-Tamm: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne, Freiburg im Breisgau 2005. Vgl. hierzu meine Rezension in: KUNSTFORM 8 (2007), Nr. 6; URL: http://www.arthistoricum.net/index.php?id=276&ausgabe=2007_06&review_id=9857.
Hubertus Kohle