Rezension über:

Wolf-Dietrich Schäufele: "Defecit Ecclesia". Studien zur Verfallsidee in der Kirchengeschichtsanschauung des Mittelalters (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Abendländische Religionsgeschichte; Bd. 213), Mainz: Philipp von Zabern 2006, IX + 408 S., ISBN 978-3-8053-3647-5, EUR 51,00
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Rezension von:
Athina Lexutt
Institut für Evangelische Theologie, Justus-Liebig-Universität Gießen
Redaktionelle Betreuung:
Christine Reinle
Empfohlene Zitierweise:
Athina Lexutt: Rezension von: Wolf-Dietrich Schäufele: "Defecit Ecclesia". Studien zur Verfallsidee in der Kirchengeschichtsanschauung des Mittelalters, Mainz: Philipp von Zabern 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 9 [15.09.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/09/11580.html


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Wolf-Dietrich Schäufele: "Defecit Ecclesia"

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Die von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz angenommene Habilitationsschrift stößt in eine auffällige und bei der Relevanz des Themas überraschende Forschungslücke. Es ist signifikant, dass der letzte Versuch einer umfassenderen Darstellung von Erich Seeberg aus dem Jahr 1923 stammt und seitdem eher verstreut und randständig dazu gearbeitet wurde. Von daher kann nicht deutlich genug gesagt werden, wie wichtig Schäufeles Werk für die Forschung ist und wie es sich seinen Platz in der Forschungsliteratur erobern wird. Nach seiner Einschätzung hat die Missachtung des Themas unter anderem seinen Grund in einer mangelnden Klärung der Begriffe, die das Phänomen "Verfall" in den Quellen bezeichnen. Etliche Wendungen finden sich dort, die von Schäufele im Folgenden aufgenommene Formulierung, "defecit ecclesia", begegnet am häufigsten in waldensischen Texten. Leider unterbleibt auch hier eine solche Klärung, die möglicherweise Aufschluss gegeben hätte über unterschiedliche Perspektiven und Aspekte.

Was dagegen Schäufele unternimmt, ist, einen gewagten Bogen von der heidnischen Antike bis zu Dante Alighieri zu spannen. Es gelingt ihm, ein recht umfassendes Bild von der Vorstellung zu zeichnen, die Kirche befinde sich in einer Dekadenzbewegung. Von dort aus ist es weitgehend plausibel, vor allem solchen Gruppierungen verstärkt Aufmerksamkeit zu widmen, die - von Schäufele vorsichtig unter dem Terminus "Oppositionelle" subsumiert - gleichsam eher von außen auf die hierarchisch verfasste Großkirche schauen und sich selbst als Korrektiv zu ihr begreifen. Die Betrachtung der vormittelalterlichen Quellen sowie diejenigen der Armutsbewegung erscheint eher als Vor- und die zum franziskanischen Joachitismus als Nachspiel zum Hauptteil, der sich mit den Katharern und Waldensern beschäftigt und die Hälfte des Gesamtwerkes ausmacht. Diese Gewichtung lässt vermuten, dass der Fokus der Habilitationsschrift ursprünglich einmal ein anderer gewesen ist und nachträglich in eine größere Fragestellung eingebettet worden ist. Das würde auch erklären, warum bei aller einsichtigen Beschränkung verschiedene Fragen und Probleme ausgeblendet wurden. Es wird etwa nicht recht ersichtlich, warum namentlich innerkirchliche Reformbestrebungen in einen kurzen "Ausblick" (358-369) verbannt werden. Die vielen Reformbewegungen - von den monastischen über die Reformkonzilien des 15. Jahrhunderts bis hin zu den frühhumanistischen, kirchenkritischen Autoren - sind unzweifelhaft ein Ausdruck dafür, dass eine Dekadenz erblickt wurde, der es organisiert zu begegnen galt. In diesem Zusammenhang zwar verständlich, indes sehr bedauerlich ist, dass der Autor die Reformation in eben jenem Ausblick auch nur mit knapp zwei Seiten bedenkt. Da er zu Anfang seine Betrachtung in den Horizont derjenigen Forschungen stellt, welche die Reformation in den Strom der spätmittelalterlichen Entwicklungen stellen (2), wäre ein etwas ausführlicherer Ausblick an dieser Stelle hilfreich gewesen. Indes: Diese angemerkten Desiderate seien eher als Elemente auf einer "Wunschliste" vermerkt denn als Kritikpunkte. Denn im Blick auf den von ihm gewählten Ausschnitt leistet Schäufele durchaus Wichtiges.

In einem ersten Teil klärt er auf, welche Geschichtskonzeptionen den Verfallsideen der heidnischen Antike, dem Alten Testament und dem Frühjudentum sowie der christlichen Frühzeit bis einschließlich Augustin zugrunde liegen. Das geschieht überblicksartig auf 34 Seiten, und es ist offensichtlich, dass hier eher auf zukünftige Forschungsfelder aufmerksam gemacht werden kann; umfassende Ergebnisse sind nicht zu erwarten. Doch ist interessant zu lesen, der Unterschied etwa zwischen der alttestamentlichen und der heidnisch-antiken Verfallsidee sei darin zu sehen, dass sie in erstem Fall ethisch, im zweiten Fall naturgesetzlich qualifiziert sei; die christliche Verfallsidee hingegen verbinde beide Ansätze. In gewisser Weise aufgebrochen werde dieses Bild mit Augustin, der durch die Unterscheidung der beiden civitates für die Heilsgeschichte der civitas Dei einen stetigen Fortschritt annehmen kann, während die Geschichte der civitas terrena von Fortschritt und Dekadenz zu unterschiedlichen Zeiten je verschieden bestimmt ist. Tradition und Kontinuität des Glaubens der Kirche sicherten ihren Fortbestand gegenüber gnostischen und allen späteren Anfragen und Kritiken; in den Veränderungen der Welt galt so dieser Glaube als verlässliches Unverrückbares, die Kirche als Garant dieser Tradition und damit als Garant des Heils, ein Abweichen von ihr hingegen als potenzieller Heilsverlust. Daraus ergibt sich eine wesentliche Konsequenz, die Schäufele so beschreibt: "Dem Gegensatz zwischen 'Großkirche' und kirchlicher Opposition korrespondiert daher in der Regel ein Gegensatz von Kontinuitäts- und Verfallsidee" (40).

Dies vorausgesetzt und beobachtend, wie wenig virulent eine Verfallsidee im Frühmittelalter gewesen war, widmet sich Schäufele im folgenden Kapitel der "Ausgestaltung der Verfallsidee im Geist der Armutsbewegung". Die apostolische Armut als Ideal setzend wurde insbesondere, aber durchaus nicht ausschließlich in monastischen Kreisen Kritik am Machtstreben und Reichtum der Großkirche geübt, wofür maßgeblich die Konstantinische Schenkung verantwortlich gemacht wurde. Mit ihr habe der Verfall, also eine Bewegung weg von dem guten Urstand der Kirche, seinen unheilvollen Anfang genommen. Dieser u.a. bei Bernhard von Clairvaux und Arnold von Brescia vorweggenommene Gedanke sei dann bei den Katharern ausformuliert worden, wie Schäufele im 4. Kapitel seines Werkes ausführt. Das Armutsideal habe sich dabei als die eine Wurzel erwiesen, ein ontologischer Dualismus als die andere. In seiner Darstellung räumt der Autor so manches Vorurteil fundiert aus und kommt zu dem Ergebnis, die Katharer hätten den letzten, konsequenten Schritt getan, indem sie den Verfall der Großkirche nicht der Konstantinischen Schenkung als solcher anlasteten, sondern Papst Silvester I., der sie annahm. Bei den Waldensern hingegen, auf die Schäufele im 5. Kapitel den Fokus richtet, hätte von Beginn an die Verfalls- vor einer Kontinuitätsidee die Priorität gehabt, da letztere sich erst in apologetischer Notwendigkeit herausgebildet habe. Mit Joachim von Fiore und den seine Gedanken fortführenden Franziskanerspiritualen verlagerte sich der Beginn des Verfalls von der Zeit Konstantins ins 8. Jahrhundert; dem korrespondierte die Erwartung eines die Jetztzeit ablösenden neuen Zeitalters des Geistes (Joachim) bzw. der Wiederherstellung des Lebens Christi und der Apostel. Wie eine zweite Linie in der Spiritualenbewegung so deutete schließlich auch Dante Alighieri wiederum die Konstantinische Schenkung als Beginn des Verfalls und verband so die "Verfallsidee der Armutsbewegung mit der Verfallsidee Joachims" (357).

Insgesamt lässt sich konstatieren, dass Schäufele einen ersten großen und bedeutenden Stich in den alles in allem noch recht unbebauten Acker "Verfallsidee im Mittelalter" getan hat. Ein ausführliches Literaturverzeichnis sowie ein Personenverzeichnis runden das Werk ab, dem zur systematischen Klärung sicher auch ein Sachregister noch gut getan hätte. Dass am Ende viele Fragen bleiben und sich zahlreiche weitere Forschungsfelder auftun, ist dem Werk und seinem Autor nicht anzulasten, sondern ihm zu verdanken.

Athina Lexutt