Rezension über:

Richard English: Irish Freedom. A History of Nationalism in Ireland, London: Macmillan 2006, xii + 625 S., ISBN 978-1-4050-4189-8, GBP 25,00
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Eugenio F. Biagini: British Democracy and Irish Nationalism 1876-1906, Cambridge: Cambridge University Press 2007, xi + 421 S., ISBN 978-0-521-84176-4, GBP 55,00
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Rezension von:
Florian Keisinger
Historisches Seminar, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Florian Keisinger: Neue Perspektiven zum irischen Nationalismus (Rezension), in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 9 [15.09.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/09/13707.html


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Neue Perspektiven zum irischen Nationalismus

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In der irischen Geschichtsschreibung hat im zurückliegenden Jahrzehnt eine sukzessive Verschiebung der Perspektive stattgefunden, die in Deutschland jedoch kaum wahrgenommen wurde. Eine jüngere Generation von Historikern machte sich dafür stark, den Ausbruch der irischen Revolution deutlich früher als 1916 anzusetzen, indem sie stärker als bisher das in ihren Augen revolutionäre Element in der Vorgeschichte des Osteraufstandes hervorhob. [1] Denn bereits die erneute Diskussion um Home Rule, die ab 1910 im englischen Unterhaus einsetzte, hatte auf der Insel zu einer deutlichen Verschärfung des gesellschaftlichen Konfliktes und schließlich zur Formierung paramilitärischer Freiwilligenverbände geführt. Dieses Umfeld aus organisierter Gewaltbereitschaft und sektiererischem Hass, so das Urteil des britisch-kanadischen Historikers Peter Hart, ermöglichte, dass es in Irland zu einem bis dahin nicht gekannten Ausbruch der Gewalt kommen konnte, in dem die Schrecken des 20. Jahrhunderts eine frühe Vorwegnahme fanden. Die Jahre der irischen Revolution, so Hart, glichen eher einem "ethnic power struggle" als einem "national war of liberation". Die von der I.R.A. (sowie deren diversen Vorgängerorganisationen) und den Ulster Volunteer Forces verübte Gewalt reichte von der gezielten Zerstörung öffentlicher Einrichtungen, dem Plündern und Niederbrennen von Ortschaften bis hin zu Hinrichtungen und der systematischen Vertreibung ganzer Bevölkerungsteile, wobei spätestens ab 1921 die meisten Opfer Zivilisten waren. [2] Dass die Anzahl der Protestanten in denjenigen Counties, die ab 1923 den Irish Free State bildeten, zwischen 1911 und 1926 um 34 Prozent zurückging [3], ist nicht ausschließlich auf die hohen Opferzahlen des Ersten Weltkrieges zurückzuführen, auch wenn eine ältere irische Geschichtsschreibung dies gerne glauben machen möchte. [4] Stattdessen trugen die Gewalttaten, die in Irland während der Revolutionsjahre von Unionisten und Nationalisten gleichermaßen verübt wurden, Anzeichen, die einen Vergleich mit den zeitgleichen Gewaltexzessen auf dem Balkan durchaus zulassen. [5]

In den neueren Arbeiten einer international vergleichenden Gewaltforschung wird der Perspektivenwechsel in der irischen Geschichtsschreibung mittlerweile durchaus berücksichtigt. In seinem 2005 erschienenen Buch The Dark Side of Democracy (deutsch: Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung, Hamburg 2007) stellte Michael Mann das revolutionäre Irland in eine Reihe mit Ländern wie den USA, Russland, Indien und Deutschland, in denen systematische ethnische Säuberungen einen elementaren Bestandteil der nationalen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert darstellen. [6] Manus Midlarsky widmet in seiner Studie zu Genoziden im 20. Jahrhundert dem irischen Fall ein eigenes Kapitel. [7]

Richard English nimmt in seiner Überblicksgeschichte des irischen Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert diese neuen Entwicklungen nicht auf. In Kontinuität zu einer traditionellen Linie der irischen Geschichtsschreibung differenziert er klar zwischen einem radikalen und einem konstitutionellen Flügel der irischen Nationalbewegung, wobei er die überragende Mehrheit der Iren (zu Recht) im gemäßigten Lager verortet. Und über weite Strecken des 19. und 20. Jahrhunderts funktioniert dieses binäre Erklärungsmodell der irischen Geschichte auch recht gut. Tatsächlich wünschten sich die meisten irischen Nationalisten einen Ausgleich mit der englischen Politik. Home Rule avancierte ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Projektionsfläche irisch-nationalistischer Hoffnungen und hatte eine beschwichtigende Wirkung auf die nationale Bewegung. Immer wenn die Geschichte jedoch beginnt spannend zu werden, stößt das Modell an seine Grenzen. So auch bei English. Denn die Grauzonen zwischen den Spektren gemäßigter und radikaler Kräfte in der irischen Geschichte vermag er damit nicht zu erfassen. Doch genau das wäre wichtig, wenn man sich beispielsweise die Biografie eines Mannes wie Patrick Pearse ansieht, einem der Rädelsführer des Osteraufstandes von 1916 und somit von English klar im radikalen Spektrum irischer Nationalisten verortet. Dieser Patrick Pearse war jedoch noch 1913 Herausgeber der Wochenzeitung An Claidheamh Soluis, dem Sprachrohr der Gaelic League, einer Organisation, die English zum Lager des gemäßigten irischen Nationalismus rechnet. Und auch die Vorstellungen von Männern wie Daniel O'Connell und James Parnell, die von English zum konstitutionellen Flügel des irischen Nationalismus gezählt werden, unterschieden sich nicht allzu sehr von denjenigen vermeintlich radikalerer Nationalisten wie Wolfe Tone oder James Stephens. Dasselbe gilt für die Berichterstattung großer irischer Zeitungen wie dem Irish Independent oder dem Freeman's Journal, für die eine eindeutige Verortung im nationalen Spektrum ebenfalls nicht möglich ist. Auch hier waren die Grenzen zwischen radikaler und gemäßigter Agitation fließend und orientierten sich an den Möglichkeiten und Zweckmäßigkeiten der jeweiligen Situation - friedlich, wenn möglich; mit Gewalt, wenn nötig!

Methodisch und inhaltlich deutlich anregender ist die Studie von Eugenio F. Biagini, British Democracy and Irish Nationalism 1876-1906, zumal er detailliert auf die angesprochenen Überschneidungen innerhalb des irisch-nationalistischen Milieus eingeht und deutlich macht, dass spätestens mit Einsetzen der Home Rule-Debatte in den 1870er Jahren die vermeintliche Zweiteilung im nationalen Spektrum Irlands in Auflösung begriffen war. Doch nicht nur in Irland, so das Fazit der transnational angelegten Studie, auch in England führten die Jahrzehnte der Auseinandersetzung um Home Rule zu einer innergesellschaftlichen Polarisierung, die nicht auf die Parteien beschränkt blieb, sondern sich über die Marktplätze und Zeitungen tief in die englische Gesellschaft eingrub und noch lange nachwirkte.

Richard English hat mit Irish Freedom. The History of Nationalism in Ireland ein konventionelles Überblickswerk zur irischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert geschrieben. Das Buch ist gut lesbar, hat jedoch einige Längen, zumal sich der Autor an einigen Stellen wohl selbst nicht ganz im Klaren darüber war, an welches Publikum er sich richten möchte. Neben anekdotenhaften Ausführungen finden sich seitenweise theoriegeladene Überlegungen zum Wesen des irischen Nationalismus, was weder einem breiten Publikum noch dem wissenschaftlich interessierten Leser entgegenkommt. Ganz anders die Studie von Biagini. Der Band richtet sich an ein Fachpublikum, ist auf der Höhe der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion und geht an zahlreichen Stellen darüber hinaus. Überzeugend weist Biagini nach, dass die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einsetzende Diskussion um Home Rule sowohl in England als auch in Irland maßgeblich zu einer Radikalisierung der Gesellschaften beigetragen hat.


Anmerkungen:

[1] Zur Diskussion vgl. Charles Townshend: Historiography. Telling the Irish Revolution, in: Joost Augusteijn (ed.): The Irish Revolution 1913-1923, Basingstoke 2002, 1-16.

[2] Peter Hart: The I.R.A. at war 1916-1923, Oxford 2003, 79.

[3] Hart: The I.R.A. at war, 223ff.

[4] Vgl. u.a. William B. Standford: A Recognized Church. The Church of Ireland in Eire, Dublin 1944, 16.

[5] Vgl. Florian Keisinger: Unzivilisierte Kriege im zivilisierten Europa? Die Balkankriege und die öffentliche Meinung in Deutschland, England und Irland 1876-1913, Paderborn 2008, 141-150.

[6] Michael Mann: The Dark Side of Democracy. Explaining Ethnic Cleansing, Cambridge 2005, 1-2.

[7] Manus Midlarsky: The Killing Trap. Genocide in the Twentieth Century, Cambridge 2005, 354-363.

Florian Keisinger