Jane Ashton Sharp: Russian Modernism between East and West. Natal'ia Goncharova and the Moscow Avant-Garde, Cambridge: Cambridge University Press 2006, 360 S., ISBN 978-0-521-83162-8, USD 105,00
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Im Fall von Jane Ashton Sharps Buch bestätigt sich die Volksweisheit, dass der Schein trügt. Denn was zunächst als ein etwas bieder anmutender Bildband für das breitere Publikum daherkommt, entpuppt sich beim Lesen als ein harter intellektueller Brocken. "Russian Modernism between East and West: Natal'ia Goncharova and the Moscow Avant-Garde" bietet sein Thema aus einer gezielt feministischen und postkolonialen Perspektive an, bindet es in die aktuelle Theoriebildung in Kunst- wie in der Kulturgeschichte ein, ohne dabei die historische Faktenebene zu vernachlässigen. Leider machen Sharps trockener Schreibstil und ihre etwas umständliche Argumentationsweise die Lektüre zuweilen zu einer Herausforderung. [1] Wer sich dieser aber stellt, wird dafür reichlich belohnt mit einer beeindruckenden Fülle an kulturhistorischen Informationen und anregenden Folgerungen.
Der Einleitung, die die Ziele und den methodischen Zugang darlegt und die das Gewicht des Buches erahnen lässt, folgen sieben ebenso dichte Kapitel und ein Appendix von ins Englische übersetzten Quellentexten. Im ersten Kapitel, "Orientalism", widmet sich Sharp dem kulturellen und politischen Kontext der neoprimitivistischen Wende Goncharovas und ihrer Moskauer Künstlerkollegen zur russischen Volkskunst. Dieser Klärung des Hintergrunds folgt eine Mischung aus chronologisch und systematisch ausgerichteten Kapiteln. In "A Westernizing Avant-Garde" wird die erste Entwicklungsphase der Protagonisten an der Moskauer Kunstschule dargestellt. "Art into Life" thematisiert die ersten selbständigen Auftritte der Avantgardisten in der Öffentlichkeit, insbesondere deren meist kritische Rezeption, die bei einer Ausstellung Goncharovas bis zu einer Anklage wegen Pornografie geführt hat. Sehr aufschlussreich zeigt Sharp gerade am Beispiel dieses Vorfalls, welche Rolle das Geschlecht der Künstlerin in der öffentlichen Aufnahme ihrer Arbeit spielte. "Nationality on Display: Official Exhibitions, Avant-Garde Interventions" widmet sich dem Verhältnis der Avantgarde-Künstler zur offiziellen Kulturpolitik und deren Interpretation des nationalen visuellen Kulturerbes in entsprechenden Ausstellungen und offiziell geförderten Projekten. In "Orientalism in Reverse" wird die spezifische Umdeutung des Orientalismus im russischen Kontext betrachtet: Die Künstler würden "[...] reinvest Russian culture with the authority traditionally claimed by the West - orientalizing the Occident by reworking its various master styles" (218). Das Kapitel "Antiartist: The Year 1913-1914" konzentriert sich auf Goncharovas große Retrospektive in Moskau und St. Petersburg und den Vorwurf der Blasphemie sowie die darauf folgende Zensur ihrer religiösen Werke. In "Two Paradigms for Russian Modernism" wird zum Schluss Goncharovas Position mit der ihres zeitweiligen Mitstreiters Kasimir Malevich konfrontiert.
Es ist ein großes Verdienst des Buches, einen zu seiner Zeit prominenten, bald aber vergessenen Bereich der vorrevolutionären russischen Avantgarde unter die Lupe zu nehmen. Die Untersuchung stellt die nahe liegende Frage nach den Gründen für diese Vernachlässigung und bietet einige einleuchtende Erklärungen; sie zeigt aber auch, was die erfolgreicheren Kollegen Goncharovas, wie z.B. Kasimir Malevich, aus deren Scheitern gelernt haben. Die Betrachtung von Goncharovas Karriere wirft aber nicht nur ein neues Licht auf manche Unternehmungen ihrer direkten Nachfolger, sondern auch auf das Epochenbild des Modernismus insgesamt: "Goncharova's early career suggests that the coherence of the modernist project can no longer be assumed" (16). Denn ihr Werk unterminiere, so Sharp, das Hauptcharakteristikum der westlichen Konstruktion des Modernismus, das die Autorin in der Meistererzählung einer progressiven Entwicklung eines einzigen Stils sieht (14). Diese Meistererzählung, deren Wurzeln ins 19. Jahrhundert hineinreichen, werde im 20. Jahrhundert oftmals von Künstlern selbst dankbar aufgenommen und in Schriften von Theoretikern wie Alfred Barr oder Clement Greenberg exemplarisch dargestellt. Goncharova hingegen hätte bewusst als Gegensatz zu diesem Entwurf eine Haltung der Stilpluralität und des Stilzitats entwickelt. Sharp macht diese Eigenschaft der Malerei Goncharovas und die damit verbundene Theorie des Vsechestvo zum Hauptaugenmerk ihrer Darstellung und gewinnt damit die Künstlerin als Kronzeugin für die begrenzte Geltung der reduktionistischen westlichen Geschichtsschreibung.
So löblich diese Kritik am (westlichen) Modernismus auch sein mag, lässt sie jedoch außer Betracht, dass der vorherrschende Begriff des Modernismus nicht nur durch die Erinnerung an die im wahrsten Sinne des Wortes "marginalen", weil geografisch am Rand Europas angesiedelten Figuren wie Goncharova in Frage gestellt werden sollte (und auch seit geraumer Zeit wird). Kritik am Modernismus à la Greenberg kann ebenfalls sozusagen von innen heraus geübt werden, durch eine differenziertere Betrachtung der Kunstentwicklung im politischen und kulturellen Zentrum des Westens, Paris. Sogar eine eingehende Analyse einzelner Heroen des Modernismus, wie am Fall Jackson Pollock ersichtlich, kann durchaus zu antimodernistischen Lesarten führen. Zu sehr lässt Sharps Darstellung den Eindruck einer monolitisch formalistischen Westkunst entstehen, gegen die sich die Moskauer Avantgarde mit Goncharova an der Spitze nach anfänglicher Nachahmungsphase richtet.
Der 'hagiografische' Ton des Buches zeigt sich zudem in dem allzu bemühten Versuch, das politisch-gesellschaftliche Engagement Goncharovas und ihrer Begleiter zu beweisen. Dieses Anliegen scheint der Autorin sehr wichtig zu sein, wird aber meistens nicht wirklich überzeugend begründet. So unterstellt Sharp Michail Larionov das Ziel, seine Rolle als "socially engaged artist" weiter entwickeln zu wollen. Die Aussage Larionovs, die sie als Beleg zitiert, zeigt aber nicht in die Richtung des sozialen Engagements. Der Künstler spricht sich einfach gegen das Verknöchern der Avantgarde zu einem neuen Akademismus aus und plädiert für einen ständigen Wandel der Kunst; er bestätigt, wenn man so will, lediglich die avantgardistische Kategorie der Neuheit als ein maßgebliches Schaffensprinzip eines modernen Künstlers (131). Insbesondere Goncharova als Frau wächst in Sharps feministischer Interpretation zu einer moralisch unanfechtbaren Größe, wobei alles, was diese erschüttern könnte, tendenziell ausgeschlossen wird. Beispielsweise wird die nahe liegende Frage nach einer eventuell bewussten Instrumentalisierung des Skandals zur Mehrung der Aufmerksamkeit der Medien und des Publikums, gar nicht erst gestellt. Doch angesichts der Verdienste von Sharps Unternehmen, der monumentalen Materialfülle, aus der sie ein detailliertes Panorama des Moskauer Kunstbetriebs um 1913 entwirft, sind solche Kritikpunkte zweitrangig.
Anmerkung:
[1] Sätze wie der folgende sind nicht selten: "The reception of Maskov's work, like Goncharova's, disrupted public discourse on the individual and social identity of the artist through an inversion of traditional gender roles, for which the woman artist provided the a priori model." (118)
Magdalena Nieslony