Achim Landwehr: Die Erschaffung Venedigs. Raum, Bevölkerung, Mythos 1570-1750, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2007, 563 S., ISBN 978-3-506-75657-2, EUR 59,00
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Als der deutsche Reisende Hieronymus Welsch im Jahre 1631 an die Ufer der venezianischen Lagune gelangte, hinderte eine Pestepidemie ihn daran, "nach der weitberühmten Stadt Venedig überzuschiffen". Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, im 1658 erschienenen Bericht von seiner Italienreise eine ausführliche, zehn Seiten umfassende Beschreibung Venedigs zu liefern, die sich kaum von anderen Reiseberichten dieser Zeit unterscheidet. Keine Frage: Venedig existiert nicht nur einfach als physischer Ort, sondern ebenso als Ort der Vorstellung, oder, im heutigen historiographischen Fachjargon ausgedrückt, als Diskurs.
In seiner zeitlich und thematisch weit ausholenden Habilitationsschrift untersucht Achim Landwehr am Beispiel Venedigs den modernen Staatsbildungsprozess anhand des zeitgenössischen Diskurses in drei zentralen Bereichen: dem Raum, also der Ausbildung präzis definierter, räumlicher Grenzen, die das Staatsgebiet geographisch festlegen; der Bevölkerung, mithin der Art und Weise, wie sich die Vorstellung von einer Staatsbevölkerung entwickelte; und schließlich dem Mythos, also der stilisierten Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung.
Der Autor ordnet seine jeweiligen Untersuchungen zur venezianischen Geschichte in größere Kontexte ein, etwa, wenn er im Kapitel über die Grenzen auf die Wandlungsprozesse verweist, denen der französische Begriff frontière im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts unterworfen war (45), auf die Entwicklung von Kommissionen zur Behandlung von Sachproblemen und die besondere Bedeutung dieser Institutionen in Venedig (75) oder, noch weiter ausgreifend, auf Spezifika der Landkartengestaltung in der ehemaligen DDR (185). Anhand einer Reihe von Fallbeispielen zeigt er dabei auf, wie "im 16. und 17. Jahrhundert die diskursiven Regeln beschaffen waren, die die Etablierung von Wissen über den politischen Raum und Grenzen organisierten." (128). Deutlich wird auch der Wandel dieser Vorstellungen im Laufe des 18. Jahrhunderts herausgearbeitet. An die Stelle der Auffassung, dass Grenzen etwas traditionell Gegebenes seien, dessen konkrete Gestalt sich vor allem aus der Erinnerung der lokalen Bevölkerung bestimmen ließ, trat mit dem "Aufstieg der Landvermesser" ein neues Konzept, nämlich die Grenze als mathematisch-geographisches Konstrukt, das man nach Belieben verändern konnte. Damit wandelte sich nicht nur die Vorstellung vom Staatsgebiet, sondern auch das Verhältnis zwischen Regierung und Bevölkerung in grundsätzlicher Art. Die nun entstehenden Flächenkarten wirkten mit an der Ausbildung eines neuen Staatsverständnisses: "Nicht die Reproduktion von Wirklichkeit auf Karten, sondern die Produktion von Wirklichkeit durch Karten" (186) sei das Entscheidende.
Wie im Bereich der Grenzen wandelte sich auch das Konzept von Bevölkerung im Laufe der Frühen Neuzeit grundlegend. Und auch bei der Untersuchung dieses Wandlungsprozesses verbindet Landwehr gekonnt die Beschäftigung mit dem venezianischen Fallbeispiel mit dessen Einbettung in allgemeine Entwicklungen und theoretische Reflexionen: so über den Normierungsprozess durch Bürokratisierung (225), den Zusammenhang zwischen Demographie und Seuchenbekämpfung (244), oder einen knappen, aber konzisen Ausblick auf die venezianische Verfassung (251). Das auffällige Faktum, dass ab der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert nicht länger die Gesamtbevölkerung, sondern nurmehr gesellschaftliche Randgruppen gezählt wurden, erklärt Landwehr mit der aufkommenden Vorstellung, "dass der Faktor 'Bevölkerung' nun durch aktives politisches Handeln beeinflusst werden konnte" (292), während zuvor die Zu- oder Abnahme der Bevölkerung schlechterdings als gottgegeben angesehen wurde.
Das dritte Hauptkapitel bettet die Auseinandersetzung mit dem "Mythos Venedig" in allgemeine Reflexionen über die Bedeutung und Funktionsweise von Mythen ein, wobei Landwehr die landläufige Gleichsetzung von Mythos mit Märchen, Legende oder gar Lüge problematisiert und stattdessen auf die Omnipräsenz und vor allem: Unverzichtbarkeit von Mythen für die Gesellschaft und auch die Politik hinweist, "die niemals ohne Mythos auskommen kann" (357). Gerade in diesem Zusammenhang, der Bedeutung und Entwicklung von Mythen, dürfte Venedig ein unvergleichlich ergiebiges Studienobjekt darstellen, gibt es doch vermutlich keine andere Stadt, die in vergleichbarem Maße zum Objekt der Mythenbildung geworden ist, zugleich aber auch als handelndes Subjekt lange Zeit an der Entstehung und Pflege mythologischer Selbstinszenierung aktiv mitgewirkt hat. So erwies sich die Selbstdarstellung Venedigs und seiner Führungsschicht nicht zuletzt deshalb lange Zeit als so suggestiv, weil sie mit großer Konsequenz nach außen vertreten wurde: durch Schriften, vor allem aber durch Bilder, und sogar durch die alltägliche Kleidung, welche für die erwachsenen Patrizier nach dem Erreichen des 25. Lebensjahres in einer schlichten schwarzen Robe bestand. Sie brachte nicht nur vornehme Zurückhaltung und Bescheidenheit zum Ausdruck, sondern auch die geschlossene Gleichrangigkeit der politischen Führungsschicht. Mochte dieses Bild auch noch so eklatant im Widerspruch zur gesellschaftlichen Realität einer wachsenden Zahl von geradezu verelendeten Patriziern stehen: Seiner Wirksamkeit tat das ebensowenig Abbruch, wie dem Ruf Venedigs als einer unerhört reichen und mächtigen Stadt.
Ein grundlegender Wandel dieser stereotypen Beschreibungen der Lagunenrepublik setzte erst im späten 17. Jahrhundert ein, als Venedig schon lange nicht mehr die wirtschaftliche und politische Bedeutung seiner Glanzzeit besaß. Nun ersetzten neue Diskurse die überkommenen Klischees, war auf einmal von Dekadenz und Verfall, Armut und Schmutz die Rede. Und die Vorstellung vom kontinuierlichen Niedergang einer in ihrer Endphase todgeweihten Republik sollte ihre prägende Wirkung auf das allgemeine Venedigbild bis in die Gegenwart bewahren, ungeachtet aller Ergebnisse der historischen Forschung (die in den letzten Jahrzehnten das Bild des Jahrhunderte langen wirtschaftlichen Verfalls längst relativiert und differenziert hat). Scheint doch der Niedergang aus der Retrospektive nach dem Untergang der Republik 1797 als dessen Vorbereitung geradezu selbstverständlich - "doch der Anspruch eines diskursanalytischen und kulturhistorischen Ansatzes ist es gerade, Selbstverständlichkeiten zu misstrauen und dem Altbekannten auf die Schliche zu kommen" (483).
Es gelingt dem Autor, diesem selbst gestellten Anspruch über weite Strecken gerecht zu werden. Auch wenn die Ausführungen mitunter ein wenig impressionistisch wirken, enthält seine Studie eine Fülle von anregenden Beobachtungen und Interpretationen. Diese betreffen nicht nur das konkrete Studienobjekt Venedig, sondern in vielen Fällen die Entwicklung des modernen Staates und unsere Vorstellungen davon allgemein. Man wird dem Verlag, der das Buch als "bedeutenden Beitrag zur Geschichte Venedigs und zur Kulturgeschichte des Staates in der Frühen Neuzeit" ankündigt, uneingeschränkt zustimmen können.
Arne Karsten