Theodore Ziolkowski: Mythologisierte Gegenwart. Deutsches Erleben seit 1933 in antikem Gewand, München: Wilhelm Fink 2008, 254 S., ISBN 978-3-7705-4670-1, EUR 29,90
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Das kulturelle Gedächtnis hat sich in den neunziger Jahren als ein - vielleicht sogar das - Paradigma der Kulturwissenschaften etabliert; und der "memory boom" hält weiter an. Die historische Gedächtnis-Forschung hat sich insbesondere den Epochen des Kaiserreiches und der Weimarer Republik sowie den Nachbeben der beiden Weltkriege zugewandt. Das kulturelle Gedächtnis bzw. die Erinnerungskultur der beiden deutschen Gesellschaften nach 1945 ist - mit Ausnahme des Kriegsgedenkens und der Vergangenheitspolitik - dagegen nur rudimentär erforscht. Das Buch "Mythologisierte Gegenwart" des Princetoner Germanisten Theodore Ziolkowski kann einen Beitrag dazu leisten, diese Forschungslücke zu schließen.
Ziolkowski analysiert die Aneignung und Aktualisierung antiker Mythen in der deutschen Literatur seit 1933 und insbesondere nach 1945. Was Ziolkowski als "Rezeption" des kulturellen Erbes bezeichnet, deckt sich weitestgehend mit Jan Assmanns Konzept des kulturellen Gedächtnisses. Assmann definiert das kulturelle Gedächtnis als "ein Organ außeralltäglicher Erinnerung", das sich auf eine weit zurückliegende Vergangenheit bezieht und eine hohe Affinität zur Schriftlichkeit besitzt. [1] Das kulturelle Gedächtnis hat seine speziellen Träger, und in Ziolkowskis Studie stehen die Schriftsteller als Verwalter und Erneuerer antiker Stoffe im Vordergrund (deren Verleger kommen dagegen nur am Rande vor). Diese griffen auf Vorbilder aus der griechischen Mythologie und römischen Literatur zurück, um Probleme der Gegenwart zu thematisieren.
Auf knapp 250 Seiten behandelt Ziolkowski gut 120 Dramen, Essays, Gedichte und Romane aus der Feder von über achtzig Literaten, die an die Mythen von Kassandra, Odysseus, Prometheus und Medea oder die Schriftsteller Ovid und Seneca anknüpften - eine wahre tour de force durch die jüngste Literaturgeschichte. Auch wenn sich Ziolkowski auf die deutsche Literatur konzentriert, so liegt dem Werk doch eine vergleichende These zu Grunde: dass nämlich der Antike-Boom in Deutschland besonders ausgeprägt und stärker politisch motiviert sei. Gerade die komparativen Passagen in diesem Buch sind aufschlussreich, lässt doch erst der kontrastierende Blick deutsche Besonderheiten des kulturellen Gedächtnisses besonders deutlich hervortreten.
Eine solche nationale Eigenart repräsentiert der häufige Rekurs auf den ausgesprochen wandlungsfähigen Odysseus-Mythos seit 1933. Schriftsteller, die während des Dritten Reiches in die innere oder äußere Emigration gegangen waren, erkannten sich in der homerischen Figur wieder. Aber bereits hier deutet sich die Vielgestaltigkeit des Stoffes an: Für die Ausgewanderten stand Odysseus' Sehnsucht nach der Heimat im Vordergrund; für die Daheimgebliebenen dagegen die List und Tarnung des Helden. In der unmittelbaren Nachkriegszeit wandelte sich der Emigrant Odysseus zum Heimkehrer. Der Kriegsheimkehrer Heinrich Böll erkannte in der Odyssee den Ursprung der "Kriegs-, Trümmer- und Heimkehrerliteratur" (71). Die Heimkehr und Reintegration, dass wissen Historiker aus der sozial- und kulturgeschichtlichen Forschung, war ein steiniger Weg - ein Weg, den auch die verschiedenen Odysseuse der Nachkriegsliteratur auf vielfältige Weise beschreiten.
In den sechziger und siebziger Jahren verflüchtigt sich Odysseus aus der westdeutschen Literatur, um in der DDR - diesmal als Metapher des kritischen ostdeutschen Intellektuellen - ein gewisses Comeback zu erleben. Doch die Lieblingsfigur der literarischen Szene der DDR war nicht Odysseus, sondern Prometheus. In der Gründungsphase der DDR galt "Genosse Prometheus" (115) als marxistischer Held im Kampf gegen kapitalistische Ausbeuter. Doch im Laufe der fünfziger und sechziger Jahre schlichen sich Ambiguitäten in das ostdeutsche Bild des Titanen ein. Die Sünde des Wissens überschattete nun zunehmend den Geist der Rebellion. Zum endgültigen Bruch mit dem Mythos kam es in den siebziger Jahren. Allen voran Heiner Müller distanzierte sich nun von Prometheus, den er als einen in der bürgerlichen Ideologie verstrickten, opportunistischen Intellektuellen ansah.
Ziolkowski zeigt auf, wie eine "Antikewelle" die DDR-Literatur erfasste. Insbesondere die siebziger Jahre waren eine Hochzeit mythologischer Nachdichtungen. Ziolkowski sieht darin ein spezifisches Kulturprojekt ostdeutscher Intellektueller, die damit die Absicht verbanden, das deutsche und europäische Kulturerbe für sich zu reklamieren. Gleichzeitig boten Mythos-Adaptionen einen Ausweg aus der stilistischen Enge des sozialistischen Realismus. Darüber hinaus erlaubte die Mythologisierung der Gegenwart eine metaphorische Behandlung von Alltagsproblemen, die offen nicht angesprochen werden konnten. Das sind interessante Gedanken. Noch interessanter wären sie allerdings, wenn sie der Autor in Bezug zu den Ergebnissen der historischen DDR-Forschung gesetzt hätte. Die einschlägige Forschungsliteratur zum DDR-Restbürgertum und Verlagswesen ist ein blinder Fleck in Ziolkowskis Buch.
Hier zeigt sich - zumindest aus Sicht des Historikers - ein generelles Manko in dieser Arbeit. Sie ist in vielerlei Weise anschlussfähig an geschichtswissenschaftliche Forschungsthemen - von Odysseus-inspirierten Kriegserfahrungen der 1940er Jahre bis zum Medea-Feminismus des späten 20. Jahrhunderts. Doch Ziolkoswki hat fast ausschließlich literaturwissenschaftliche Werke rezipiert und die historische Fachliteratur links liegen gelassen. Das überrascht, denn der Autor versteht seine Monografie weniger als "ein literaturtheortisches als [...] ein kulturgeschichtliches Unternehmen" (10). Mit der modernen Kulturgeschichte hat dieses Projekt allerdings wenig gemein. Ziolkowski bewegt sich vielmehr in den Bahnen der Ideengeschichte vor dem Cultural Turn. Trotz dieser methodischen Differenzen wird auch der Historiker der DDR und Bundesrepublik Ziolkowskis geistreiches und elegant geschriebenes Buch mit Gewinn lesen können.
Anmerkung:
[1] Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 2. Aufl., München 1997, 58.
Stefan Goebel