F. I. Firsov: Sekretnye kody istorii Kominterna 1919-1943, Moskau: AIRO XXI 2007, 576 S., ISBN 978-5-91022-052-6
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Russischen Spezialisten für die Geschichte der Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts muss man den Autor nicht vorstellen: Über drei Jahrzehnte hinweg hat er sich mit den Problemen beschäftigt, die im Titel seines neuen Buches angesprochen werden. Natürlich wäre es von den 1960er bis 1980er Jahren nicht nur unpassend, sondern sogar gefährlich gewesen, über "die geheimen Codes der Geschichte der Komintern" zu schreiben. Aber dennoch haben sowjetische Gelehrte in dieser Periode umfangreiche Forschungsarbeiten durchgeführt, die es an der Wende von den 1980er zu den 1990er Jahren ermöglichten, angemessen auf das explosionsartig anwachsende Interesse der Öffentlichkeit für die Ereignisse und Prozesse der jüngeren Vergangenheit zu antworten.
Die Zeiten des Perestrojka-Booms sind längst vergangen, und jene, die sich weiterhin mit der Geschichte der internationalen kommunistischen Bewegung beschäftigen, kann man heute nicht nur in Russland, sondern auch im Westen an den Fingern einer Hand abzählen. Diese Bewegung wird nicht mehr als Feind verstanden, der eine Gefahr für die "freie Welt" darstellt. Das ist gut und schlecht zugleich. Gut, weil es den Forschern erlaubte, sich von politisierten Stereotypen und Apriori-Bewertungen zu befreien, schlecht, weil ohne finanzielle Unterstützung und gesellschaftliche Aufmerksamkeit bedeutsame wissenschaftliche und Veröffentlichungsprojekte vom Austrocknen bedroht sind.
Umso erfreulicher ist das Erscheinen dieser gewichtigen wissenschaftlichen Arbeit, deren Autor stets ohne lange Unterbrechungen von sich hören ließ. Einen bekannten Ausspruch paraphrasierend könnte man sagen: "Ehemalige Historiker gibt es nicht." [Anm. des Übers.: "Ehemalige Tschekisten gibt es nicht." Redensartliche Formel für die lebenslange Verpflichtung von sowjetischen/russischen Geheimdienstmitarbeitern gegenüber ihrem Dienst.] Er ist als Vorbild für die ältere Generation von Gelehrten geeignet, von denen viele noch voller Kraft und frischer Ideen sind, aber sich nicht dazu entschließen können, die Resultate ihrer Arbeiten dem Urteil der sich radikal verändernden (und leider auch schrumpfenden) Forschergemeinde auszusetzen.
Nun zum Buch selbst, und vor allem zu seiner Quellenbasis. Die Kommunistische Internationale betrachtete sich selbst als den Globus umspannende Partei der proletarischen Weltrevolution, die in allen Ländern ihre "nationalen Sektionen" bildete und unterstützte. Dieser "globalistische" Ansatz führte sowohl zur Herausbildung eines gewaltigen bürokratischen Apparates in Moskau als auch zur Ausbreitung eines weltweiten Kommunikationsnetzes, das man mit dem heutigen Internet vergleichen könnte. Tote Briefkästen, Funkstationen, Verbindungszentren, Doppelagenten - all das wird früher oder später in interessante Romane eingehen. Jede der kommunistischen Parteien empfing regelmäßig Instruktionen und Direktiven aus Moskau, die den Rhythmus ihres politischen Lebens bestimmten. Zunächst wurden diese von diplomatischen Kurieren und Spezialagenten übermittelt, später übernahm diese Funktion der Äther.
Die Korrespondenz zwischen dem Exekutivkomitee der Komintern (EKKI) und den einzelnen kommunistischen Parteien, die sich in dessen Archiv angesammelt hat und bis heute unter Verschluss ist, hat die Fantasie von mehr als einer Generation von Forschern angeregt. Der Ausdruck "Chiffretelegramm" ist bis zum heutigen Tag ein Schlüsselwort für all jene, die sich mit der Geschichte der kommunistischen Bewegung beschäftigen - alle haben davon gehört, aber niemand hat sie je zu Gesicht bekommen. Anfang der 1990er Jahre hatte Firsov, der Mitarbeiter des Kominternarchivs geworden war (damals RCChiDNI, heute RAGSPI), das Glück, Zugang zu dieser Quelle zu erhalten.
Sein Buch ist praktisch vollständig auf der Basis des chiffrierten Schriftverkehrs verfasst. Im ersten Kapitel gibt der Autor dem Leser eine Vorstellung von dessen Umfang und den Umständen seiner Entstehung. Im Archiv werden 764 Akten für die Jahre 1933 bis 1943 aufbewahrt, deren Adressaten insgesamt 30 kommunistische Parteien waren. Je bedeutsamer die Ereignisse in dem einen oder anderen Land für Moskau waren, desto intensiver wurde die chiffrierte Korrespondenz mit dessen Kommunisten. Im Buch wird das anschaulich am Beispiel Frankreichs in der Ära der "Volksfront" gezeigt.
An dem geheimen Schriftwechsel mit den kommunistischen Parteien waren die unterschiedlichsten Unterabteilungen der Komintern beteiligt, ihre technischen Dienste, der Apparat der sowjetischen diplomatischen Vertretungen und sogar die militärische Aufklärung. Die Basisarbeit leistete die Abteilung für internationale Verbindungen (nach 1935 Verbindungsdienst) des EKKI, die über ein weltweites Agentennetz und solide finanzielle Möglichkeiten verfügte. Ihre Mitarbeiter nahmen eine besondere Stellung in der Kominternhierarchie ein. Sie arbeiteten sogar in Moskau unter Decknamen. Manchmal waren nicht einmal ihre engsten Angehörigen, mit denen zusammen sie auf Auslandsdienstreisen gesandt wurden, über den Charakter ihrer Arbeit im Bilde.
Wenn man Direktiven per Funk übermitteln konnte, so wurde Geld in der Regel von Kurieren überbracht, darunter auch von Mitarbeitern der sowjetischen Auslandsaufklärung. In Firsovs Buch gibt es keine sensationellen Enthüllungen über das verschwundene "Gold der Partei", dafür wird das System der Finanzierung der kommunistischen Parteien offengelegt, das Mitte der 1930er Jahre entwickelt wurde. "Der Umfang der Zahlungen, die die einzelnen kommunistischen Parteien oder ihre Jugendorganisationen erreichten, war im allgemeinen nicht sehr bedeutend, aber, was außerordentlich wichtig ist, sie trafen relativ regelmäßig ein." (79) Die Subsidien bildeten ein wirksames Instrument der politischen Kontrolle vonseiten der Führung der Komintern, insbesondere über Parteien, die sich in einem illegalen Status befanden (125). In den Fällen, wo Polizeibehörden oder Massenmedien Kenntnis von der finanziellen Unterstützung erhielten, wurde die Sache oft zum internationalen Skandal, dessen Zentrum die unheilbringende "Hand Moskaus" bildete.
Im Zweiten Weltkrieg verlor das Exekutivkomitee der Komintern viele Hebel der operativen Leitung der kommunistischen Parteien. Der von der Sowjetunion mit Hitler eingegangene Nichtangriffspakt rief "Desorientierung und Verwirrung über die Position des EKKI" hervor (328). Das Exekutivkomitee musste die brüske Änderung der politischen Linie der kommunistischen Parteien der Länder, die Deutschland den Krieg erklärten, von heute auf morgen aufzwingen. Später jedoch warnte es sie vor Vertraulichkeiten mit den deutschen Besatzern. Dass nicht eine dieser Parteien es wagte, eine eigene Meinung zu äußern, wurde schon nicht mehr als etwas Ungewöhnliches betrachtet. Zur letzten Prüfung, der die Komintern unterzogen wurde, wurde der Große Vaterländische Krieg. Während er die Auflösung der Dritten Internationale näher brachte, ermöglichte er es ihr zugleich, ihre Existenz in Dur-Tönen zu beenden. Die entschieden für die Verteidigung der Sowjetunion eintretenden kommunistischen Parteien der ganzen Welt trugen keinen geringen Teil zur Zerschlagung des Faschismus bei, und das, nachdem sie schon Jahrzehnte im wesentlichen von der politischen Arena abgetreten waren. In den Reihen der Widerstandskämpfer, in den Partisaneneinheiten und an der Front kamen die besten Eigenschaften des "Soldaten der Weltrevolution" zur Geltung. Ihr Leben riskierten gleichermaßen jene, die mit der Waffe in der Hand kämpften wie die, die beständige Verbindungen im Hinterland der deutschen Truppen sicherten. Über die Komintern erreichten Moskau nachrichtendienstliche Informationen von unschätzbarem Wert, die es ermöglichten die Leben zehntausender sowjetischer Bürger zu retten (siehe den Abschnitt "Die Komintern und die sowjetische Aufklärung").
Viele Themen, die vom Autor erstmals dargestellt werden, erfordern auch in dechiffrierter Form eine mühevolle analytische Bearbeitung, damit sie in den erforderlichen historischen Kontext eingeordnet werden können. Man nehme etwa das Zitat, mit dem das Buch beginnt: Der Führer der amerikanischen Kommunisten teilt Moskau seine Bereitschaft mit, zehn Werke von Marx und 15 von Engels nach Italien zu schicken. Bei dem, was hier ganz absurd erscheint, geht es in Wirklichkeit um die Lieferung von zehn Bombern ("Marx") und 15 Jagdflugzeugen ("Engels") an die republikanische Regierung Spaniens. Bei der Erfindung solchen "Neusprechs" vergas man in Moskau nicht, die nationalen Spezifika zu berücksichtigen. So bezeichnete in der Korrespondenz mit den japanischen Kommunisten "ein Kilogramm Tee" tatsächlich amerikanische Dollar.
Wahrscheinlich gibt es keinen Aspekt der Geschichte der Komintern, der in der chiffrierten Korrespondenz nicht seinen Niederschlag gefunden hätte. Hier stößt man zum Beispiel auf die Subventionszahlungen an ausländische kommunistische Parteien, auf die folgsame Unterstützung der Außenpolitik der UdSSR und auf Entscheidungen über die Kader. Keine geringe Rolle spielt in der Korrespondenz die Beteiligung der Komintern am "Großen Terror" Stalins. Mittels chiffrierter Telegramme wurden künftige Opfer nach Moskau gerufen, davon viele, die dem Befehl folgten, obwohl sie sich ihres künftigen Schicksals völlig bewusst waren. Wer sich dem Ruf in die Sowjetunion verweigerte, wie etwa Willi Münzenberg, wurde zum "Renegaten" und zum Objekt der Verfolgung durch die kommunistische Partei jeglichen Landes, in dem er sich aufhielt. Er nahm ein beträchtliches Risiko auf sich, bis hin zu dem der Ermordung.
Es wäre sinnlos die Hauptgegenstände des Buches und die einzelnen Funde des Autors alle aufzuzählen. Es soll dem Vergnügen des Lesers daran, mit der lebendigen Geschichte der Komintern in Berührung zu kommen, nicht vorgegriffen werden. Aber eines muss unbedingt gesagt werden: Firsov hat mit der Analyse der Chiffrierungen, die die Führung des EKKI bei der Kommunikation mit den ausländischen kommunistischen Parteien benutzte, eine enorme Leistung vollbracht. Nicht in allem war er erfolgreich, nicht alle "weißen Flecken" auf der Karte der Kominterngeschichte konnten ausgefüllt werden, aber ein Anfang ist gemacht. Eine gewaltige Zahl von Namen wurde entschlüsselt, Schlüssel zur Erklärung der Prinzipien der Kodierung und des Versands von Informationen wurden gefunden. Von der Qualität der Forschungsarbeit zeugt schon das Faktum, dass im Buch mehr als zwei Dutzend Pseudonyme angeführt werden, derer sich der Generalsekretär des EKKI, Georgi Dimitroff, bediente (32). Früher oder später werden die Dokumente, die der Autor verwendet hat, der Forschung allgemein zugänglich werden, und wir werden vom Ausgangspunkt der Hypothesen und Ergebnisse des Buches aus dankbar weitergehen.
Bei all ihrer Einzigartigkeit darf die chiffrierte Korrespondenz nicht als ausreichende Quelle für die vollständige Rekonstruktion der Geschichte der Komintern betrachtet werden. Sich auf die in den Funktelegrammen enthaltenen Informationen zu beschränken, würde bedeuten, das Schwergewicht auf den bürokratisch-technischen Aspekt des Themas zu legen, auf die Verbindung der "zweiten Ebene" zwischen dem EKKI und den einzelnen KPs. Darüber, wie in der Führung der Komintern Entscheidungen getroffen und wie sie "verkauft" wurden, welchen Einfluss die außenpolitische Lage oder die innere Entwicklung von Stalins Regime auf sie hatte, teilt uns diese Quelle kaum etwas mit.
Die im Buch präsentierten Dokumente bestätigen die Schlussfolgerung des Autors, dass bei der Komintern die positive Haltung zur Sowjetunion aufs Engste mit der Akzeptanz dieses Regimes verbunden war. "Indem sie auf der internationalen Arena als Propagandist und Beschützer des sowjetischen Systems auftrat und Solidaritätsbekundungen der Arbeitenden mit der Politik der UdSSR erwirkte, spielte die Komintern die Rolle ihrer außenpolitischen Stütze. Sie fungierte als integraler Teil des ideologisch-politischen Mechanismus, der von Stalin und seiner Umgebung für die Sanktionierung der eigenen Politik 'im Namen des internationalen Proletariats' benutzt wurde." (146)
In diesem Zusammenhang wäre es nützlich gewesen, in der Einleitung die Konturen des neuen Bildes der Komintern zu umreißen, wie sie sich auf der neuen Quellengrundlage abzeichnen, und auf die Aspekte ihrer Geschichte hinzuweisen, die im Buch nicht ausreichend beleuchtet wurden oder werden konnten. In den letzten Jahren sind neue Dokumenteneditionen aus den Archivbeständen Stalins und der VKP (b) erschienen, und russische Historiker haben interessante Monografien publiziert, die der Autor des rezensierten Werks nicht berücksichtigen konnte. Kritisch zu vermerken ist, dass er das elektronische Archiv der Komintern (http://www.comintern-online.com) nicht benutzt hat, das über eine Million Digitalisate umfasst.
Es sei angemerkt, dass das Buch die Ereignisse des letzten Jahrzehnts der Geschichte der Komintern analysiert, die bisher am wenigsten erforscht wurden, aber ohne Zweifel die tragischsten waren. Dass im Titel die gesamte Periode der Existenz dieser Organisation angeführt wird, die sich selbst stolz den "Generalstab der Revolution" nannte, ist wohl am ehesten als ein Marketing-Schachzug zu sehen, mit dem das Gewissen des Verlages zurechtkommen muss.
Aber nichtsdestoweniger haben wir es mit einem Fall zu tun, wie er auf dem heutigen Markt der Wissenschaftsproduktion äußerst selten vorkommt: Der prätentiöse Titel des Buches wird - lässt man die angesprochenen Rahmendaten einmal außer Acht - in vollem Maße seinem Inhalt gerecht. Die Auseinandersetzung des Autors mit einem neuen, bis heute selbst russischen Historikern unzugänglichen Quellenbestand führt nicht nur zur Präzisierung einer Reihe von Einschätzungen und zur Anreicherung der Kominterngeschichte mit neuen Fakten, sondern man kann von einer neuen Perspektive auf ein breites Spektrum wissenschaftlicher Probleme sprechen, die die markantesten Jahre der Geschichte der internationalen kommunistischen Bewegung betreffen. Niemand, der sich mit dem letzten Jahrzehnt der Komintern befasst, kommt um dieses Buch herum, das auf diesem geschichtswissenschaftlichen Forschungsfeld wenn nicht einen Meilenstein, so doch mindestens ein bemerkenswertes Ereignis darstellt.
Eine letzte Bemerkung: Es ist bereits ein Gemeinplatz geworden, vom Nutzen der Herausgabe dieses oder jenes rezensierten Buches in Russland zu sprechen. Hier haben wir es mit dem umgekehrten Fall zu tun: Ein Historiker, der nun schon anderthalb Jahrzehnte in den USA lebt und arbeitet, hat die Früchte seiner Arbeit als erstes dem russischen Leser präsentiert. Das ist nicht nur einfach der Achtung für die Kollegen, sondern auch der Rolle geschuldet, die die Komintern in der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts gespielt hat. Es steht zu hoffen, dass ein solcher Ansatz auch von den westlichen "Sowjetologen" aufgegriffen und das bedeutsame Buch von Fridrich I. Firsov baldmöglichst auch in englischer Sprache erscheinen wird.
Aus dem Russischen übertragen von Jürgen Zarusky.
Alexander Vatlin