Rezension über:

Johannes Myssok: Antonio Canova. Die Erneuerung der klassischen Mythen in der Kunst um 1800 (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; 48), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2007, 356 S., 228 Abb., ISBN 978-3-86568-223-9, EUR 59,00
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Rezension von:
Christian M. Geyer
Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Cristina Ruggero
Empfohlene Zitierweise:
Christian M. Geyer: Rezension von: Johannes Myssok: Antonio Canova. Die Erneuerung der klassischen Mythen in der Kunst um 1800, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2007, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 3 [15.03.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/03/15727.html


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Johannes Myssok: Antonio Canova

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Dieses bemerkenswerte, aus einer Habilitationsschrift entstandene Buch eröffnet neue Blicke auf den um 1800 berühmtesten Künstler Europas. Es ist dadurch nicht nur für Skulpturen-Spezialisten, sondern alle an dieser Umbruchzeit Interessierten Pflichtlektüre. Das Buch füllt eine Lücke, denn trotz traditionsreicher kunsthistorischer Italien-Forschung und einiger Canova-Werke in deutschen Museen gab es in Deutschland, beginnend mit Fernow (1806), 200 Jahre lang zwar Interpretationen, aber - bis auf wenige Dissertationen unterschiedlicher Qualität - keine zu den Quellen vordringende Forschung zu Canova. Myssoks knapper Verweis, dass Canova "vielgeschmäht" sei (9), weist darauf hin, dass dieser kaum glaubliche blinde Fleck nicht zufällig ist. Es spricht für seinen Mut, dass er, nach anfänglichen Studien im Gebiet der frühen Neuzeit, in den wenig erforschten "Kontinent Klassizismus" (9) aufbrach, um eine Revision früherer Bewertungen Canovas anzugehen.

Myssok formuliert eingangs seine Leitfrage: "Wodurch begründet sich also dieser Ruhm, diese Bedeutung?" (9) Seine Arbeit versuche "hierauf Antworten zu finden, indem sie eine Rekonstruktion der geistigen Welt Canovas unternimmt und dabei ebenso nach der Entstehung seiner Themen fragt, wie sie auch seine Kontakte zu Literaten und anderen Intellektuellen nachzuzeichnen versucht." Er strebe dabei keine umfassende Monografie an, denn "ursächlich für seinen Rang als kulturelle Leitfigur seiner Epoche waren [...] seine Figuren und Gruppen mythologischer Thematik." Allerdings scheint diese monokausale Begründung zu eng, denn für den deutschsprachigen Raum war beispielsweise das Grabmal der Erzherzogin Christine in Wien der Kristallisationspunkt der Canova-Begeisterung.

Erfreuliches Ergebnis der thematischen Beschränkung ist eine eingehende Behandlung einzelner Werke. Diese erfolgt vor allem in den ersten fünf Kapiteln: Frühwerk (Orpheus und Eurydike, Dädalus und Ikarus, Theseus und Minotaurus), Amor und Psyche (hier auch Venus und Adonis), Die Reliefs, Die Skulpturen des Genere forte (Herkules und Lichas, Mars, Perseus, Napoleon Kolossalstatue), Canova als Leser von Pausanias (Faustkämpfer, Palamedes, Hebe).

Myssok verfügt über eine stupende Kenntnis der ausführlich belegten Forschungsliteratur. Dank seiner Erschließung großteils unveröffentlichter Quellen konnte er die von Canova-Spezialisten erzielten Erkenntnisse nicht nur in einem klaren Stil zur Synthese zusammen führen und damit die deutsche Diskussion auf die Höhe der internationalen Forschung bringen, sondern diese Forschung substantiell vertiefen. Vom Leser wird allerdings erwartet, dass er die meist nicht übersetzten Zitate im zeitgenössischen Italienisch versteht. Myssoks Argumentation profitiert von sorgfältig ausgewählten, durchgängig guten und großformatigen Abbildungen, welche die Werke häufig in den bei Canova so wichtigen mehreren Ansichten und Details zeigen.

Gegen die ersten fünf Kapitel (270 Seiten) fallen die restlichen drei Kapitel nicht nur vom Umfang her (40 Seiten), sondern vor allem wegen methodischer Unstimmigkeiten ab. Kapitel sechs ("Christliche Mythologie") behandelt die Büssende Magdalena, ohne dass nachvollziehbar würde, ob Canova und zeitgenössische Betrachter die sich entwickelnde Haltung teilen, auch das Christentum distanziert als eine der vielen Mythen zu betrachten. Ganz offensichtlich wird, wie problematisch der hierzu konträre Untertitel des Buches ist. Mit "Erneuerung der klassischen Mythen" assoziiert man eine renovatio ecclesiae, d.h. das wieder zur Geltung Bringen des geglaubten Mythos. Wie sollte das für Canova passen, der nach Meinung Myssoks durch seine Werke sowohl den antiken als auch den christlichen Mythos erneuert haben sollte? Im Text werden weit weniger spektakuläre Aussagen zum Verhältnis von Canova zu den Mythen getroffen (14, 309), welche das Verwenden und Umformen, aber nicht das Erneuern der Mythen betonen. Die These des Untertitels wird in den zusammenfassenden Schlussbemerkungen (306ff.) nicht einmal erwähnt.

Canovas Werk ist offensichtlich weder auf den Nenner Mythologie noch den der Erneuerung der Mythen zu bringen. Da selbst nach fünfzigjähriger Canova-Forschung Hugh Honours projektierte Canova-Biografie ungeschrieben blieb, lässt sich vermuten, dass die Aufgabe, Canova in seiner ganzen Komplexität darzustellen oder ihn gar auf einen Begriff zu bringen, (noch) nicht lösbar ist. Dass Myssok diese Aufgabe im ersten Anlauf nicht bewältigen konnte, ist deshalb nicht verwunderlich und angesichts der zahlreichen anderen Verdienste seines Buches nicht problematisch. Vor weiteren Deutungsversuchen sollten aber das methodische Rüstzeug und die impliziten Annahmen überdacht werden.

Anlass für die Bemerkung gibt vor allem das siebte Kapitel "Mythos und Allegorie um 1800" (Der rasende Herkules, Theseus und Kentaur, Paolina Borghese als Venus victrix), wo es heißt: "Die Auseinandersetzung mit dem Mythos [...] hatte die besondere inhaltliche Dimension von Canovas Werken der achtziger und neunziger Jahre konditioniert, die für Italien, aber auch im internationalen Rahmen eine Avantgardeposition behaupten konnten. Diese experimentelle, lebendige Annäherung an die Antike wandelte sich deutlich erkennbar nach 1800 und machte einem letztlich konventionellen Mythenverständnis Platz." (297) Die angeblich einsetzende Konventionalität stellt er an den genannten Einzelwerken fest und begründet damit ein Abbrechen seiner Auseinandersetzung mit Canova. Dadurch werden die späteren erfolgreichen mythologischen Skulpturen Canovas (Venus Italica, Paris, Drei Grazien) nicht behandelt. Myssok arbeitet hier im künstlerischen und politischen Bereich mit den fragwürdig gewordenen Begriffen der Avantgarde und des Fortschritts, hinter denen nur vage benannte normative Kriterien stehen. Madame Mère sei gegenüber der Venus victrix "das letztlich fortschrittlichere [...] Werk." (299) An anderer Stelle spricht er von progressiven Kreisen Venedigs (306). In Nebenbemerkungen wird Canova der Vorwurf "genereller Nivellierung inhaltlicher Fragen" und "einseitiger Aufwertung der Form" gemacht, um im nächsten Atemzug darauf hinzuweisen, dass dies "Kennzeichen der modernen Skulptur" seien (300). Anhand subjektiver Urteile eines heutigen Betrachters kann die Frage nicht beantwortet werden, was den Ruhm Canovas in der Zeit um 1800 ausmachte, zumal wenn selbst von seinem mythologischen Werk nur die Hälfte betrachtet wird. Gerade die Differenzierung der vorherigen einstimmigen europäischen Begeisterung in einen dissonanten Chor unterschiedlicher Meinungen, der sich zunehmend entlang der Nationalitäten strukturierte, verspräche aber eine besonders ergiebige Untersuchung dieser historischen Veränderungen nach 1800.

Diese Einwände gegen methodische Ansätze und Grundannahmen relativieren sich dadurch, dass Meinung und Fakten deutlich getrennt sind und somit an kritischen Punkten eine Lektüre gegen den Strich möglich ist. Nur bei wenigen Themen, wie beispielsweise dem angeblichen Einfluss von Winckelmann auf Canova (13, 44f.), neigt der Autor dazu, diese der deutschen Kunstgeschichtsschreibung liebgewordene These durch suggestive Formulierungen stärken zu wollen. Trotz dieser Kritikpunkte soll zusammenfassend die positive Beurteilung der Anfangszeilen unterstrichen werden. Myssok hat als Einzelner für die deutsche Kunstgeschichte eine Pionierleistung erbracht. Für die traditionsreiche deutsche Italien-Forschung könnte sein Buch zum Aufbruchsignal einer behutsamen Modernisierung werden, indem es glanzvoll dafür wirbt, verstärkt Ressourcen auch dem Ottocento zu widmen.

Christian M. Geyer