Daniele Ganser: Nato-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung. Mit einem Vorwort von Georg Kreis. Aus dem Englischen übersetzt von Carsten Roth, 2. Aufl., Zürich: Orell Füssli Verlag 2008, 445 S., ISBN 978-3-280-06106-0, EUR 29,80
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Unmittelbar nach dem Einmarsch irakischer Truppen in Kuwait sorgte der italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti am 3. August 1990 für Schlagzeilen ganz anderer Art: Vor italienischen Senatoren enthüllte er die Existenz illegaler NATO-Geheimarmeen, die seit Beginn des Kalten Krieges über ganz Europa verteilt gewesen seien. Seine Aussagen lösten eine Lawine der Empörung aus, die vor den italienischen Grenzen nicht Halt machte: Sukzessive sahen sich andere europäische Staats- und Regierungschefs gezwungen, zähneknirschend die Existenz derartiger Einheiten einzugestehen. In Italien, der Schweiz und Belgien befassten sich anschließend parlamentarische Untersuchungskommissionen mit dieser Thematik. Nur die Verantwortlichen der NATO, des MI6 und der CIA hüllten und hüllen sich weiterhin in Schweigen.
Der Schweizer Historiker Daniele Ganser legte im Jahr 2005 in englischer Sprache erstmals eine wissenschaftliche Studie über die Geheimarmeen der NATO vor, deren Ergebnisse auf seiner Dissertation beruhten. Mittlerweile wurde die Arbeit in neun Sprachen übersetzt und erschien im Jahr 2008 auch auf Deutsch. Ganser schildert detailliert die strategischen Konzepte, den Aufbau und die Struktur der "Stay-behind-Armeen". Die Initiative für die Aufstellung der Untergrundeinheiten sei maßgeblich vom britischen und amerikanischen Geheimdienst ausgegangen und zu einem späteren Zeitpunkt von NATO-Komitees koordiniert worden. Ihre Aufgabe sei es gewesen, im Falle einer sowjetischen Invasion den Widerstand in den besetzten Gebieten zu organisieren sowie Guerilla- und Sabotageaktionen durchzuführen. Bei der Rekrutierung des Personals seien die Planer in Washington und London nicht gerade mit großen moralischen Bedenken vorgegangen: Es galt, in erster Linie überzeugte Antikommunisten anzuwerben, wobei es keine Rolle spielte, ob es sich dabei um ehemalige Nationalsozialisten oder Faschisten handelte. Die Parlamente in den betroffenen Ländern seien von diesen Vorgängen nicht in Kenntnis gesetzt worden.
Die Invasion aus dem Osten blieb jedoch aus. Deswegen seien verstärkt die Linksparteien - insbesondere die kommunistischen Parteien - in Westeuropa in das Visier der "Stay-behind-Einheiten" gerückt. Die Untergrundarmeen, wie die italienische Gruppe "Gladio", wollten eine mögliche Machtübernahme der Linken mit allen Mitteln verhindern. Dabei schienen ihnen alle erdenklichen Mittel Recht: Nach Gansers Meinung unterstützten und förderten sie gezielt Terroraktionen wie den Anschlag auf der Piazza Fontana in Mailand 1969. Diese Attentate sollten den Linken angelastet werden, um sie in den Augen der Öffentlichkeit zu diskreditieren.
Die lebendig und gut lesbar geschriebene Studie Gansers ist auf den ersten Blick überzeugend. Sein größtes Verdienst ist es, die verfügbaren Informationen über die "Stay-behind-Einheiten" der NATO akribisch zusammengetragen und in einer vorrangig deskriptiven Überblicksdarstellung für ein breiteres Publikum aufbereitet zu haben. Hilfreich ist auch die Chronologie am Ende des Buches. Auf den zweiten Blick offenbart die Darstellung Gansers jedoch einige Schwächen, die in erster Linie mit der Thematik und der damit verbundenen äußerst schwierigen Quellenlage zusammenhängen. Zwar weist der Autor immer wieder daraufhin, dass weder die USA, noch Großbritannien oder die NATO Einsicht in relevante Aktenbestände gewährten. Jedoch hindert ihn dies nicht, über die mögliche Involvierung der "Stay-behind-Armeen" in terroristische Anschläge spekulative Thesen aufzustellen. Dabei stützte er sich ausschließlich auf Presseartikel, Zeitzeugenaussagen sowie Berichte parlamentarischer Untersuchungskommissionen, die jedoch gerade im Fall Italien kritisch zu bewerten sind. Denn anders als Ganser dies suggeriert, konnte sich die Kommission in Italien aufgrund von Meinungsverschiedenheiten auf keinen gemeinsamen Abschlussbericht einigen. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Quellen und eine theoretisch-methodische Hinführung an die Problematik der Geheimdienstgeschichtsschreibung wären wünschenswert gewesen. In diesem Zusammenhang ist ferner zu bedauern, dass die Arbeit Gansers kein umfassendes Quellen- und Literaturverzeichnis aufweist.
Ferner schleichen sich immer wieder Ungereimtheiten in die Darstellung ein, die zwar die These Gansers stützen, aber den historischen Gegebenheiten nicht immer entsprechen. Im Jahr 1972 waren die Brigate Rosse noch nicht die terroristische Organisation, die durch "kaltblütige Attentate" (24) in Italien gefürchtet war, wie dies Ganser suggeriert. Vielmehr war die Gruppe zu diesem Zeitpunkt nahezu unbekannt und hatte lediglich einen Manager von Sit-Siemens für zwanzig Minuten entführt. Beinahe ärgerlich ist die Schilderung der Entführung Aldo Moros: Ohne die Kontroversen über diesen wiederzugeben, rezipiert Ganser ausschließlich die Verschwörungstheorien. Gerade italienische Historiker wie Vladimiro Satta, Agostino Giovagnoli oder Giovanni Sabbatucci haben jedoch in den letzten Jahren überzeugend gegen diese Theorien Stellung bezogen. [1]
Letztlich bleibt sogar fraglich, ob die länderspezifische Gliederung die optimale Wahl war, da sie Ganser selbst nicht strikt durchhält. Dadurch geht nicht nur der rote Faden verloren, sondern es stellen sich auch immer wieder Redundanzen ein. Ferner mangelt es hin und wieder an einer historischen Kontextualisierung: So unterstellt Ganser zum Beispiel eine Kontinuität zwischen der Aufstellung von "Gladio" in Italien, den rechtsterroristischen Bombenattentaten zwischen 1969 und 1974 sowie dem Anschlag in Bologna 1980. Dabei setzt er sich weder mit dem 1974 initiierten Wandel in der italienischen Geheimdienstpolitik, noch mit der Tatsache auseinander, dass spätestens seit den Stimmengewinnen der Kommunisten bei den Parlamentswahlen 1972 das Scheitern der "Strategie der Spannung" offensichtlich war.
Die Enthüllungen über illegale und jeglicher parlamentarischer Kontrolle entzogene Geheimarmeen in rechtsstaatlichen Demokratien schockierten nach dem Ende des Kalten Krieges zu Recht die Öffentlichkeit. Dass sie existierten und der strategischen Logik des Kalten Krieges entsprachen, ist nach Gansers Studie nicht mehr anzuzweifeln. Ob sie in dem Maße auch "Quelle des Terrors" waren, wie Ganser behauptet, muss jedoch in Frage gestellt werden. Es bleibt zukünftigen Forschungsarbeiten überlassen, diese Problematik weiter zu untersuchen und in Einzelstudien zu vertiefen.
Anmerkung:
[1] Agostino Giovagnoli: Il caso Moro. Una tragedia italiana, Bologna 2005; Giovanni Sabbatucci: I misteri del caso Moro, in: Miti e storia dell'Italia unita, hg. Von Giovanni Belardelli u.a., Bologna 1999, 217-221; Vladimiro Satta: Odissea nel caso Moro. Viaggio controcorrente attraverso la documentazione della Commissione Stragi, Rom 2003; Vladimiro Satta: Il caso Moro e i suoi falsi misteri, Saverio Mannelli 2006.
Tobias Hof