Marianne Koos: Bildnisse des Begehrens. Das lyrische Männerporträt in der venezianischen Malerei des frühen 16. Jahrhunderts - Giorgione, Tizian und ihr Umkreis, Emsdetten / Berlin: edition imorde 2006, 431 S., 74 Abb., ISBN 978-3-9809436-3-5, EUR 39,00
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Mit dem Bildnis des schönen Jünglings beginnt die Geschichte des Porträts, möchte man den antiken Mythografen der Kunst Glauben schenken. Plinius der Ältere berichtet von einer jungen Frau, die ihren Abschiedsschmerz von ihrem scheidenden Geliebten lindern wollte, indem sie seinen Schattenriss an einer Wand festhielt ("Naturalis Historia", XXXV, 151). In Ovids "Metamorphosen"(III, 341-510) entbrennt der Jüngling Narziss in Liebe zu seinem eigenen Spiegelbild, das er in einer Quelle sieht, und vergeht an seinem unerfüllbaren Begehren. Marianne Koos widmet sich somit einem Grundthema der Kunstgeschichte, wenn sie eine Gruppe meist jugendlicher Männerbildnisse des frühen 16. Jahrhunderts aus Venedig und dem venezianischen Einflussgebiet untersucht und sie als "Bildnisse des Begehrens" charakterisiert. Es gelingt ihr, eine bisher nicht als solche wahrgenommene Bildnisgruppe zu rekonstruieren und gleichzeitig leistet sie mit ihrer Studie innerhalb der Genderstudies einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Vorstellungen von Männlichkeit in der Frühen Neuzeit.
Plinius und Ovid erklärten mit dem Begehren die Funktion und Wirkung des Porträts. Löst in der einen Erzählung der Liebesschmerz den Wunsch nach einem Bildnis aus, so weckt es in der anderen das fatale Begehren. Beide Aspekte kommen auch bei den von Koos untersuchten Bildnissen zum Tragen. Auch bei ihnen darf eine Entstehung für den privaten Kontext angenommen werden. Affektbetontheit und Subjektivität zeichnen die Porträts aus, die die Autorin als Porträtmodus und nicht als -typus verstanden wissen möchte (73). Obwohl keiner der Dargestellten zweifelsfrei zu identifizieren ist und von keinem der Bildnisse Auftraggeber, Adressat oder Bestimmungsort bekannt sind, dürfte manches von ihnen für einen liebenden Partner, sei dieser nun weiblich oder männlich, bestimmt gewesen sein. Begehren ist der Affekt, der beim Betrachter dieser Porträts evoziert werden soll. Gleichzeitig charakterisiert das der Melancholie eng verwandte Sehnen und Streben auch die innere Gestimmtheit der Dargestellten.
Zu den Vorzügen der Malerei gegenüber der Dichtkunst zählte Leonardo da Vinci, dass es jener noch überzeugender als dieser gelänge, das Ersehnte unmittelbar präsent zu machen (272f.). Die Sinnlichkeit der Malerei, die Opulenz der Stoffe und die "morbidezza" des Karnats tragen zu der Verführung durch die Jünglingsbildnisse das Ihre bei. Es verwundert daher nicht, dass der Pionier des venezianischen Kolorits, Giorgione, als zentrale Figur des Künstlerkreises gelten darf, der diese Männerbildnisse schuf. Ziel der Autorin ist es nicht, die zu der Gruppe zählenden Bildnisse vollständig zu erfassen. Sie beschränkt sich in ihrer Untersuchung auf diejenigen Werke, die ihr in Hinsicht auf ihre Fragen nach den Voraussetzungen der Genese und nach den Ursachen für das frühe Ende dieses Porträtmodus, dem nur eine kurze Blüte von etwa einem Jahrzehnt beschieden war, besonders vielversprechend erscheinen (69). Lässt man einmal die heuristische Gefahr sich selbst bestätigender Auswahlkriterien außer Acht, so besteht der unbestreitbare Vorteil dieser Vorgehensweise in der Prägnanz, in der es der Autorin gelingt, die Eigenschaften dieser Porträtgruppe in sprachlich geschliffener Form herauszuarbeiten und zusammenzubinden.
Im Zentrum ihres Interesses steht der "Subjektentwurf" der Dargestellten. Hierbei ist sich Koos der Problematik durchaus bewusst, dass Subjektentwurf des Dargestellten und Objektentwurf des Malers nicht unbedingt kongruent sein müssen (78-82), auch wenn diese Unterscheidung in ihrer Analyse der gesellschaftlichen, kulturellen und genderspezifischen Bedingungen der Entstehung dieses Porträtmodus nicht zum Tragen kommt. Erklärungsbedürftig ist vor allem die "sensible und luxuriös geschmückte Männlichkeit" (62) der Dargestellten, die im Gegensatz zu geläufigen Vorstellungen von Männlichkeit in der Frühen Neuzeit steht, wie sie in Jacob Burckhardts Charakterisierung des selbstbewussten und rational kalkulierenden Renaissancemenschen prägnanten Ausdruck gefunden haben.
Die Vermutung, es könne sich in diesen Bildnissen begehrenswerter und sehnsuchtsvoller Knaben und Männer eine "homosexuelle Identität" manifestieren, schließt Koos aus und kann sich hierbei auf die Untersuchungen von Guido Ruggiero zur Sexualität in Venedig in der Frühen Neuzeit stützen. [1] Homosexualität in der passiven Rolle habe für junge Männer in der Regel episodenhaften Charakter gehabt und sei in der aktiven Rolle meist als eine Praxis neben anderen Formen der Sexualität ausgeübt worden. Daher sei die Frage nach einer möglichen Repräsentation oder Konstitution einer "homosexuellen Identität" falsch gestellt (138-143). Ohne die Möglichkeit homoerotischer Konnotationen zu leugnen, stellt Koos die Bildnisse stattdessen überzeugend in einen Zusammenhang mit der Kultur der kontemplativen Innerlichkeit und Empfindsamkeit, die auch die Dichtung und Musik dieser Zeit bestimmt. Sie kann hierin an die Studien von Elizabeth Cropper zum Frauenbild des frühen 16. Jahrhunderts anknüpfen. [2]
Nach der Niederlage Venedigs gegen die Liga von Cambrai bei Agnadello im Jahre 1509, die die Republik an den Rand des Untergangs führte, zogen sich viele junge Patrizier aus der "vita activa" der Republik zurück und propagierten einen Lebensentwurf der Weltentsagung und literarisch überhöhten Innerlichkeit. Als Wortführer dieser Bewegung, die wesentliche Impulse durch die Volgare-Lyrik Francesco Petrarcas erhielt, gelten die Humanisten Ermolao Barbaro und Pietro Bembo. Das petrarkistische Spannungsfeld von Liebessehnen und Unerreichbarkeit der Geliebten bot Gelegenheit, die ganze Bandbreite von lust- und schmerzvollen Gefühlen auszukosten, die Koos auch in den von ihr untersuchten Bildnissen wiederfindet. In Analogie zu dem "lyrischen Ich" der petrarkistischen Poesie bezeichnet sie daher die Bildnisse im Untertitel ihrer Studie als "lyrische Männerporträts".
Tatsächlich kann die Autorin in den Einzeluntersuchungen der Bildnisse neue Bildmotive aufzeigen, die durch die direkte Umsetzung von Metaphern und Metonymien des poetischen Liebesdiskurses den Weg in die Bildnisse fanden. Gleichzeitig konstatiert sie, dass die profane Porträtmalerei auf Errungenschaften der Gefühlsdarstellungen in der sakralen Kunst zurückgreifen konnte. Die affektive Gestimmtheit der Sehnsucht konnte sich in Dichtung und Malerei gleichermaßen auf die weltliche Liebe zu einer Frau oder einem Mann wie auch auf religiöse Ziele richten. Koos kann daher in den ideal schönen Christusbildnissen der Zeit die engsten Verwandten der Jünglingsbildnisse ermitteln (50-52). Eine vertiefte Beschäftigung mit jenen hätte vielleicht die Möglichkeit geboten, die Ableitung der Bildnisse aus der petrarkistischen Liebeslyrik einer Gegenprobe zu unterziehen.
Das Verhältnis der Bildnisse zur petrarkistischen Lyrik stellt die Autorin keineswegs als ein rein nacheiferndes, sondern als das eines produktiven medialen Wettstreits dar. Wie sie plausibel darlegt, treten die Bilder gegen das auf die Antike zurückgehende Postulat an, die Poesie hätte das innere Auge, die Malerei hingegen nur das äußere (268). Die Versunkenheit des Blicks der Dargestellten erweist ihn als Spiegel der Seele. Seine Unergründlichkeit signalisiert dem Betrachter die Tiefe des Gefühlslebens. Die Porträts werden gleichsam zu offenen Kunstwerken, da der Betrachter animiert wird, den versunkenen Blick mit der Annahme ethisch-seelischer Qualitäten zu füllen (292-294).
Dem lyrischen Männerporträt war nur ein kurzer Erfolg beschieden. Sein frühes Ende führt Koos im abschließenden Teil ihrer Untersuchung auf einen neuen Leitbegriff zurück, der für den männlichen Subjektentwurf ebenso Bedeutung hatte wie für den kunsttheoretischen Diskurs. Das nun in Baldassare Castigliones "Buch vom Hofmann" ("Il Cortegiano") propagierte Männlichkeitsideal richtete sich gegen Innerlichkeit und Empfindsamkeit als allzu weibliches Gebaren und etablierte stattdessen das Ideal einer souveränen Lässigkeit: die "sprezzatura".
Anmerkungen:
[1] Guido Ruggiero: The Boundaries of Eros. Sex Crime and Sexuality in Renaissance Venice, New York etc. 1985.
[2] Elizabeth Cropper: On Beautiful Women. Parmigiano, Petrarchismo, and the Vernacular Style, in: The Art Bulletin 58 (1976), 374-394; dies.: The Beauty of Women: Problems in the Rhetoric of Renaissance Portraiture, in: Rewriting the Renaissance. The Discourse of Sexual Difference in Early Modern Europe, ed. by Margaret W. Ferguson / Maurice Quilligan / Nancy C. Vickers, Chicago 1986, 75-190 u. 355-359; dies.: The Place of Beauty in the High Renaissance and its Displacement in the History of Art, in: Place and Displacement in the Renaissance (= Medieval & Renaissance Texts & Studies; 132), ed. by Alvin Vos, Birmingham / New York 1995, 159-205.
Gabriele Köster