Rezension über:

Peter Lüdemann: Virtus und Voluptas. Beobachtungen zur Ikonographie weiblicher Aktfiguren in der venezianischen Malerei des frühen Cinquecento (= Studi. Schriftenreihe des deutschen Studienzentrums in Venedig. Neue Folge; Bd. 1), Berlin: Akademie Verlag 2008, 368 S., 85 Abb., ISBN 978-3-05-004379-1, EUR 69,80
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Vera Mamerow
Kunstgeschichtliches Institut, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Sigrid Ruby
Empfohlene Zitierweise:
Vera Mamerow: Rezension von: Peter Lüdemann: Virtus und Voluptas. Beobachtungen zur Ikonographie weiblicher Aktfiguren in der venezianischen Malerei des frühen Cinquecento, Berlin: Akademie Verlag 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 7/8 [15.07.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/07/15009.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Peter Lüdemann: Virtus und Voluptas

Textgröße: A A A

Peter Lüdemann untersucht in seinem Buch, das im Wesentlichen der 2006 in Marburg eingereichten Dissertation gleichen Titels entspricht, das weibliche Akt- und Halbfigurenbild im Venedig des frühen Cinquecento. Diese, von Malern wie Giorgione, Palma il Vecchio, Giovanni Cariani u.a. geprägten erotischen Bildtypen werden mit Hilfe eines beachtlichen literaturgeschichtlichen Quellenmaterials im Kontext der Ehe interpretiert. Die in den Blick genommenen Bilder der Zeit von 1500 bis 1530 thematisieren, so Lüdemanns These, nicht etwa die erotische Anziehungskraft von Kurtisanen, sondern vielmehr die ambivalente Rolle der Ehefrau. Diese musste in der Öffentlichkeit vor allem zurückhaltend und tugendhaft auftreten, zugleich aber in der Intimität des eigenen Hauses den sinnlichen Erwartungen des Gatten entsprechen. Die Dialektik von virtus und voluptas als komplementäre Aspekte der idealen Braut wurde nach Lüdemann im weiblichen Akt des 16. Jahrhundert mit Bezug auf die "Epithalamia"-Tradition und ihre Motive zur Anschauung gebracht. Der bereits in der Antike geläufige Brauch, bei Eheschließungen Brautgedichte zu rezitieren, die an die Tugenden der Neuvermählten appellierten, wurde im 15. und 16. Jahrhundert auch in Venedig wieder aufgegriffen. Zwar sind der neueren kunsthistorischen Forschung die Epithalamia nicht unbekannt. Doch ist es ein großes Verdienst der vorliegenden Studie, diese Gedichte auch von literaturgeschichtlicher Seite aufgearbeitet, ergänzt und zum Teil ins Deutsche übersetzt zu haben.

Die Studie hat zwei Hauptteile. Der erste befasst sich mit den ganzfigurigen Aktdarstellungen, der zweite mit den halbfigurigen Frauenbildern. Lüdemann führt mit den zahlreichen nicht befriedigenden Ansätzen zu einer Deutung von Giovanni Carianis Bild einer "Jungen Frau vor einer Landschaft" (Berlin) in das Thema ein und gibt zu bedenken, dass der Schlüssel zum Verständnis allein in der Analyse des Bildtypus, also des liegenden Aktes, zu finden sei. Die mit diesem verknüpften Bedeutungsinhalte in der venezianischen Malerei veranschaulicht er anhand der "Schlafenden Venus" von Giorgione (Dresden), dem frühesten erhaltenen Beispiel und "Prototypen" (22).

Die bis dahin wenig überzeugende Interpretation des Bildes erfuhr, so Lüdemann, in den 1980er-Jahren mit Jaynie Andersons Vorschlag, das Motiv der schlafenden Nackten mit spätantiken Epithalamia in Verbindung zu bringen, eine aufschlussreiche Wendung. Anderson deutete die ruhende Nackte nicht länger als eine schlafende Nymphe der "Hypnerotomachia Poliphili", sondern als jene "Venus Pronuba", die in vielen Brautgedichten als Förderin der Ehe gepriesen wird. [1] Im Falle des Dresdner Bildes führt Lüdemann einige Epithalamia ins Feld, deren Motivrepertoire mit der Ikonografie des Bildes in der Tat deutliche Übereinstimmungen aufweist, was bisher in der Forschung kaum Beachtung fand. Der Hochzeitsbezug wird zudem durch die Tatsache bekräftigt, dass der Besitzer des Bildes, Girolamo Marcello, im Entstehungsjahr 1507 eine venezianische Patriziertochter heiratete, das Bild wahrscheinlich zu diesem Anlass in Auftrag gab und mit entsprechenden Epithalamia vertraut war.

Lüdemann folgt der These Andersons und sucht sie in den folgenden Kapiteln an weiteren Beispielen zu erhärten. So macht er deutlich, dass es vor allem frühneuzeitliche Variationen der antiken Gelegenheitsdichtung sind, die dem Bildmotiv der liegenden Venus als literarisches Vorbild zu Grunde liegen und entsprechende bildliche Darstellungen daher in einem Ehekontext zu verstehen sind. Damit schließt er sich im weitesten Sinne der Forschung von Augusto Gentili, David Rosand, Rona Goffen u.a. an, die vor allem in Zusammenhang mit den Akten Tizians die These von "marriage pictures" vertreten. [2]

Der Bezug der Epithalamia zu Werken der Malerei wird zum Teil, z.B. bei der Giorgione-Venus, plausibel dargestellt. Bei anderen Gemälden jedoch entfaltet Lüdemann eine komplizierte Suche nach Übereinstimmungen von Text und Bild, die durch den zwar kenntnis- und materialreichen, aber teilweise überbordenden Fußnotenapparat sowie durch mitunter kafkaeske Sätze unnötig verkompliziert wird. Auch zeigt sich gelegentlich, dass der Autor sein eigenes Medium als den Schriften nachrangig bewertet und damit die Aussagekraft der Bilder unterschätzt.

Im zweiten Teil der Studie betrachtet Lüdemann auch die weiblichen Halbfigurenbilder der ersten drei Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts im literarischen Kontext frühneuzeitlicher Epithalamia-Dichtung. Dabei wird die in der Forschung seit Langem kontrovers geführte Diskussion, ob es sich bei den prominenten Darstellungen tatsächlich um Ehefrauen oder aber um Kurtisanen handelt, durch das zusammengetragene Quellenmaterial punktuell bereichert und vorangetrieben. So fasst Lüdemann sowohl Giorgiones umstrittene "Laura" als auch die viel diskutierten "Flora"-Darstellungen Tizians und Palma il Vecchios als Idealbilder venezianischer Bräute im Spannungsfeld von virtus und voluptas auf. Zudem konstatiert er einen Wandel dieses halbfigurigen Bildtypus, der ab den 1530er-Jahren an Seriosität einbüßen und mit einem zunehmenden erotischen Ausdruck, so Lüdemann, nur noch den repräsentativen Ansprüchen einer "venezianischen Halbweltdame" (228) genügen sollte. Diese interessante Entwicklung gilt es noch weiter zu untersuchen. Vor allem wäre zu überprüfen, ob sie tatsächlich, wie Lüdemann vermutet, unter anderem auf den Einfluss römischer Autoren wie Pietro Aretino zurückzuführen ist und mit einer Pornografisierung der Schriftkultur einherging.

Weitere Fragen stellen sich besonders in Hinblick auf die weiblichen Halbfiguren.

Von der Vorstellung geleitet, allein mit der virtus- und voluptas-These eine sinnvolle und eindeutige Interpretation der erotischen Darstellungen leisten zu können, spielt der Autor gleichzeitig die gesellschaftliche Relevanz der Kurtisane zu Beginn des Cinquecento herunter. Zudem geben Textpassagen, in denen er von "Halbweltdamen" (203, 228) oder "subalternen Elementen" (223) spricht, seine eigenen moralischen Vorbehalte zu erkennen, welche sich für die Auseinandersetzung mit dem Thema schon immer als hinderlich erwiesen haben.

Dass es sich bei den fraglichen Halbfigurenbildern nicht um individualisierte Porträts handelt, ist in der Forschung weitestgehend communis opinio. So ist es vor dem Hintergrund des unscharfen venezianischen Porträtbegriffs des 16. Jahrhunderts sicherlich in vielen Fällen sinnvoller, von Idealbildern einer gesellschaftlichen Gruppe, nämlich der der Kurtisanen, zu sprechen. Dies aber lehnt der Autor als "Produkt mehr oder weniger tendenziöser moderner Interpretationen" (199) zugunsten der ehelichen virtus- und voluptas-These ab. Dabei kommentiert er polemisch die Ansätze feministischer Forschung, deren Ergebnisse lediglich den Wunsch bezeugten "die eigenen weltanschaulichen (= feministischen) Überzeugungen [...]" (219) auf die Malerei des Cinquecento zu übertragen.

Es wäre genauer zu untersuchen, inwieweit Liebe und Ehe im 16. Jahrhundert - vor allem im zeitgenössischen Liebesdiskurs - miteinander verbunden waren und ob es in manchen Bildbeispielen nicht doch Kurtisanen sind, die als aktive Verführerinnen dem männlichen Betrachter erotische Avancen in einer Weise machen, die einer verheirateten Frau nicht gut zu Gesicht stand.

Man vermisst in dieser Arbeit eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Eheverständnis des Cinquecento, die neben den Epithalamia auch andere Textgattungen einbezogen hätte. Auch im zweiten Teil der Studie stützt sich die Behandlung sozialgeschichtlicher Aspekte des Kurtisanenwesens nur auf ein in textsortenspezifischer Hinsicht schmales Quellenmaterial, vor allem auf die "Diarii" Marino Sanudos und einige Archivalien. Andere Textgattungen, die womöglich ein anderes Bild ergeben hätten, z.B. Dichtungen, Briefe und Reiseberichte, bleiben hier ebenso unberücksichtigt wie die grundlegende Arbeit von Monika Kurzel-Runtscheiner, deren Erkenntnisse über die römische "civilità puttanesca" für die neuere Forschung unverzichtbar sind. [3]

Sicherlich wird die alte Frage, ob es sich bei den "nude" und "belle donne" um Ehefrauen oder Kurtisanen handelt, in der Forschung weiter lebhaft diskutiert werden. Mit der vorliegenden, vor allem literaturgeschichtlich orientierten Studie hat sich Lüdemann in einigen Fällen plausibel für die erste Deutung ausgesprochen und damit einen wertvollen Beitrag zur aktuellen Diskussion geleistet.


Anmerkungen:

[1] Jaynie Anderson: Giorgione, Titian and the Sleeping Venus, in: Tiziano e Venezia. Convegno internazionale di studi (Venedig 1976), Vicenza 1980, 337-342.

[2] Vgl. u.a. Rona Goffen: Titian's 'Sacred and Profane Love'. Individuality and Sexuality in a Renaissance Marriage Picture, in: Titian 500 (Studies in History of Art; 45 / Center of Advanced Study in Visual Arts, Symposium Papers; 25), hg. von Joseph Manca, Washington 1993, 121-146; David Rosand: So-and-So Reclining on Her Couch, in: Titian 500, 1993, 101-119.

[3] Monika Kurzel-Runtscheiner: Töchter der Venus. Die Kurtisanen Roms im 16. Jahrhundert, München 1995.

Vera Mamerow