Rezension über:

Martin Nissen: Populäre Geschichtsschreibung. Historiker, Verleger und die deutsche Öffentlichkeit (1848-1900) (= Beiträge zur Geschichtskultur; Bd. 34), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009, 375 S., ISBN 978-3-412-20283-5, EUR 39,90
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Rezension von:
Dirk Moldenhauer
Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Julia A. Schmidt-Funke
Empfohlene Zitierweise:
Dirk Moldenhauer: Rezension von: Martin Nissen: Populäre Geschichtsschreibung. Historiker, Verleger und die deutsche Öffentlichkeit (1848-1900), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 7/8 [15.07.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/07/15750.html


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Martin Nissen: Populäre Geschichtsschreibung

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Das vorliegende Werk ist die überarbeitete Fassung einer Dissertation, welche von Wolfgang Hardtwig betreut und 2008 von der philosophischen Fakultät der FU Berlin angenommen wurde. Im Mittelpunkt der Studie steht das Verhältnis zwischen Geschichtsschreibung und Öffentlichkeit in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, genauer gesagt das Spezifische der Vermittlung historischen Wissens an den Laien. (13) Vorrangiges Ziel ist es, die Darstellungsformen und Vermittlungstechniken populärer Geschichtsschreibung zu untersuchen, daneben aber auch die zugehörigen Entstehungskontexte und Veröffentlichungspraktiken. (27)

Die im Grenzbereich zwischen Historiographie-, Wissenschafts- und Buchhandelsgeschichte verortete Studie ist in vier Abschnitte aufgeteilt: In Teil 1 wird das Verhältnis von Geschichtsschreibung und Öffentlichkeit thematisiert, Teil 2 gibt einen Überblick über die Vermittlungswege historischer Literatur, Teil 3 enthält das analytische Herzstück - eine bibliographische Analyse - und Teil 4 eine Fallstudie zu Gustav Freytags "Bilder aus der deutschen Vergangenheit", an dem die Fragestellung exemplarisch abgearbeitet wird. Zusammenfassung, Quellen und Literatur sowie ein Personenregister runden das Buch wie üblich ab.

Zunächst versucht Nissen sein Untersuchungsobjekt einzugrenzen: die "populäre Geschichtsschreibung". Diese wird einerseits vom Historischen Roman und von naturkundlichen Darstellungen abgegrenzt, andererseits von der "stärker spezialisierten" Geschichtsschreibung - wichtigstes Unterscheidungsmerkmal zur letztgenannten ist ein "Lesekreis jenseits der Fachöffentlichkeit", also ein "vorrangiger Bezug auf ein nicht oder nur wenig vorgebildetes Publikum." (23) Im Verlauf der Untersuchung kommen weitere Begrifflichkeiten hinzu, die leider nicht zur Schärfung des Untersuchungsgegenstands beitragen: So ist die Rede von einer "außeruniversitären Geschichtsschreibung", die sowohl vom "Amateurhistoriker" als auch vom "professionellen Historiker" betrieben werden kann (64-66); dann wird der Verkauf von "Geschichtsbüchern" (102ff.) analysiert und schließlich die Verbreitung "Historischer Literatur" (134) in Leihbibliotheken.

Auch die Abgrenzung des Untersuchungszeitraums (1848-1900) erscheint eher unscharf - mag der Ausgangspunkt mit Hinblick auf die Öffentlichkeit noch einleuchten, ist das beim eher symbolischen Grenzstein "1900" nicht der Fall, wie Nissen selbst einräumen muss. (27-29) Noch schwerer wiegt der explizite Ausschluss eines chronologischen Grundrasters, der fast zwangsläufig mit dem empirischen Teil kollidiert und die Aussagekraft von Rückblenden in vorausgegangene Perioden (41ff., 79ff., 165ff.) verwässert. Vor allem für die Goethezeit berücksichtigt der Autor leider nicht immer den neuesten Forschungsstand - dabei sind gerade für diesen Zeitabschnitt die als Desiderat beklagten Synergien (34f.) zwischen Historiographie- und Verlagsgeschichte intensiv genutzt worden. [1] Damit verschenkt der Autor wertvolles Vergleichspotential, denn viele der Strukturen, die der Autor in seinem Untersuchungszeitraum als neu postuliert (etwa die differenzierte Ansprache von Experten und Laien mit verschiedenen Darstellungsformen und Ausgaben), waren bereits in der Goethezeit intakt.

Ausgangspunkt der Studie ist die Hypothese, "dass die Historiker, Journalisten Publizisten und sonstigen Verfasser in Absprache mit Fachgenossen, Verlegern und Herausgebern der Reihen und Zeitschriften auf je unterschiedliche Lesepublika abzielten und ihren Texten damit unterschiedliche kommunikative Aufgaben zuwiesen, durch die die Formen der Darstellung maßgeblich geprägt wurden. Populäre Geschichtsbücher waren danach in besonderer Weise den Gesetzmäßigkeiten des Buchmarktes und dem wechselnden Geschmack des Lesepublikums unterworfen." (23) Um diesen "spezifischen Publikumsbezug" zu ermitteln, ohne den "eingeübten Wahrnehmungsmustern" der bisherigen Forschung zu verfallen, entschied sich der Autor für den bereits erwähnten empirischen, genauer gesagt bibliographischen Ansatz in Abschnitt 2. (79ff.) Ziel dieser Analyse ist es, ein "Quellenkorpus" von 250 Publikationen zu ermitteln, die die Kriterien "populär, erfolgreich und in der deutschen Historiographiegeschichte als besonders wichtig erinnert" erfüllen. (20) Leider sind ausgerechnet in diesem Herzstück gravierende methodische Schwächen erkennbar.

Dies fängt schon bei der grundlegenden Auswahl der Vermittlungsinstanzen an: Die Analyse wird von vornherein auf Bücher beschränkt, weil es im Untersuchungszeitraum angeblich keine populären Geschichtsperiodika gab. (26) Das ist angesichts des langanhaltenden Publikumserfolgs von Raumers "Historischem Taschenbuch" (1830-1892) oder der "Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland" (1838-1923) mit ihrer Vielzahl von historischen Aufsätzen und Rezensionen nicht nachvollziehbar. In diesem Zusammenhang muss auch die Frage erlaubt sein, warum die zweifellos das historische Interesse stimulierenden belletristischen "Bestseller" von Alexandre Dumas, Walter Scott, Gustav Schwab, Karl Simrock oder Felix Dahn überhaupt keine Berücksichtigung im Untersuchungsraster finden, obwohl der Autor mehrfach feststellt (89ff., 106, 139), dass der Marktanteil historischer Werke im Verlauf des 19. Jahrhunderts sank, während die Bedeutung der Belletristik kontinuierlich stieg; und zumindest Dahn und Simrock zugleich anerkannte Fachleute waren und somit eine wichtige Voraussetzung für eine breite Rezeption erfüllten. Der sich insgesamt aufdrängende Verdacht, dass ein Großteil der "Laien"-Leser Geschichte zunehmend über das Genre "Historische Belletristik" bzw. Memoires konsumierte, wurde in der Weimarer Republik eindrucksvoll durch den Erfolg von Autoren wie Carl Ludwig Schleich oder Emil Ludwig bestätigt.

Aus dem (bereits vorgefilterten) "Quellenkorpus" ermittelte Nissen im ersten Schritt unter Zuhilfenahme des GV die historischen Werke mit den höchsten Auflagenzahlen (5 und höher, insgesamt 72 Titel) mit dem Wunsch, hieraus die Auflagenhöhe und somit den Verkaufserfolg bzw. Verbreitungsgrad ableiten zu können. Ein erster Blick in die Tabellen (113ff.) offenbart sofort das größte Problem, das aus der oben kritisierten methodischen Unschärfe resultiert. Hier tauchen sowohl die Werke universitärer als auch außeruniversitärer Geschichtsschreiber mit völlig unterschiedlichen Zielgruppen auf - woraus signifikante Unterschiede im Hinblick auf deren Verbreitungsgrad resultieren: Eine Ranke- (der Erstdruck "Fürsten und Völker" von 500 Exemplaren brauchte 10 Jahre für den kompletten Absatz) oder Droysen- (vom preisgesenkten Erstdruck des "Alexander" wurden 1837-40 nur 90 Exemplare verkauft) Auflage lässt sich nur schlecht mit einer Kohlrausch- (1.-4. Auflage 1816-22 umfasste ca. 10.000 Exemplare) oder gar Freytag-Auflage (Start mit 5000 Exemplaren) vergleichen.

Die Verzerrungen, die aus den gewählten "Vorfiltern" resultieren, machen sich noch stärker bei der folgenden Auswertung der Leihbibliothekskataloge bemerkbar (134 ff.), wobei alle Titel mit mehr als fünf Treffern aufgelistet (insgesamt 47 Titel) wurden. Die von Nissen durchaus erkannte Konzentration der bisherigen Leihbibliotheksforschung auf den süddeutschen Raum (144) verhält sich diametral entgegengesetzt zur Struktur des Buchmarkts: die Hauptabsatzgebiete lagen im norddeutsch-protestantischen Raum (Preußen, Sachsen), was sich natürlich auch in der Bibliotheksverteilung und -bestückung widerspiegelte. Laut Auszählung sind Arneths "Geschichte Maria Theresias" und Rottecks "Allgemeine Geschichte" die meist angeschafften historischen Werke - ein für die Gesamtheit aller deutschen Leihbibliotheken undenkbares Ergebnis (zu Recht weist Nissen daraufhin, dass Rottecks Werke in Norddeutschland aufgrund von Zensur und Verboten nur eingeschränkte Verbreitung fanden, 104 Anm. 99). Des Weiteren wäre eine Angabe des Preises zu jedem Titel zwingend nötig gewesen, denn natürlich fanden preisgünstige Werke, die in Sammlungen wie Meyers "Klassiker-Bibliothek" oder bei Reclam erschienen (z.B. Schiller, Archenholtz) eher den Weg in die Bibliotheksregale als teure Monographien.

So sehr der Wille des Autors zu loben ist, die Verbreitung populärer Geschichtswerke mit Hilfe quantitativer Verfahren präziser als bisher nachzuzeichnen, so zweifelhaft muss die Aussagekraft der erstellten Statistiken bleiben. Selbst wenn deren Grundtendenz stimmt, können daraus keine analytischen Schlussfolgerungen gezogen werden wie in Teil 3 versucht. Demgegenüber hätte ein systematischer Vergleich der "populärsten" Werke beider Übersichten mit ausreichender Quellenlage (z.B. Rottecks "Allgemeine Geschichte", Schlossers "Weltgeschichte", Janssens "Deutsche Geschichte" und ggf. Zimmermanns "Bauernkrieg") unter Fokussierung auf die verschiedenen Rahmenbedingungen (darunter Entstehungszeit und Weltanschauung / Vernetzung des Autors), Zielgruppen (darunter Konfessionen) und entsprechenden Publikationsstrategien der Verlage einen beträchtlichen Erkenntnisgewinn mit sich gebracht.

Dies geschieht nicht, stattdessen bleibt der Autor selbst auf der untersten Analyseebene ("Bibliothek deutscher Geschichte" 222ff., Freytags "Bilder" 269ff.) zu sehr an der Oberfläche. Hier macht sich das Grundproblem der gesamten Studie bemerkbar: Die Abhängigkeit des Erfolgs bestimmter Buchprojekte von den Strukturen und Mechanismen innerhalb des Buchmarkts und der geschichtsschreibenden Zunft wird allenfalls als Randglosse behandelt, obwohl Nissen die Wichtigkeit dieser Faktoren gerade für die "populäre Geschichtsschreibung" benennt und deswegen den Interaktionen zwischen Historikern und Verlegern besondere Beachtung einräumen will. (35, 123)

Angesichts dieser Unebenheiten innerhalb der Analyse überrascht es nicht, wenn das (recht dürre) Fazit der Studie nicht so recht zur Fragestellung passt: "Die in der Einleitung formulierte Hypothese vom Innovationspotential populärer Geschichtsschreibung, das aus der im Vergleich zur Fachwissenschaft größeren institutionellen, methodischen und thematischen Offenheit des Feldes resultiere, muss differenziert betrachtet werden". (320) Die anschließend aufgelisteten Erkenntnisse zu den Charakteristika und Erfolgsfaktoren populärer Geschichtsschreibung ergeben sich nicht zwingend aus der Analyse - hierzu hätte es eines weitaus umfangreicheren, auf sicherem methodischem Grund und einer größeren Anzahl von Fallstudien fußenden, empirischen Teils bedurft.


Anmerkung:

[1] Vgl. Thomas Brechenmacher: Großdeutsche Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert. Die erste Generation (1830 - 48), Berlin 1996; Matthias Klug: Rückwendung zum Mittelalter? Geschichtsbilder und historische Argumentation im politischen Katholizismus des Vormärz, Paderborn 1995; Uwe Hebekus: Klios Medien. Die Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts in der historistischen Historie und bei Theodor Fontane, Tübingen 2003; Helen Müller: Wissenschaft und Markt um 1900. Das Verlagsunternehmen Walter de Gruyters im literarischen Feld der Jahrhundertwende, Tübingen 2004; sowie die umfangreichen Ergebnisse des Jenaer SFB 482 / B 6 zur Kommunikationsverdichtung und Ideenzirkulation in Thüringen um 1800.

Dirk Moldenhauer