Rezension über:

Ueli Haefeli: Verkehrspolitik und urbane Mobilität. Deutsche und Schweizer Städte im Vergleich 1950-1990 (= Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung; Bd. 8), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008, 380 S., ISBN 978-3-515-09133-6, EUR 66,00
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Rezension von:
Reiner Ruppmann
Bad Homburg
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Reiner Ruppmann: Rezension von: Ueli Haefeli: Verkehrspolitik und urbane Mobilität. Deutsche und Schweizer Städte im Vergleich 1950-1990, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 7/8 [15.07.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/07/15883.html


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Ueli Haefeli: Verkehrspolitik und urbane Mobilität

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Von der deutschen Fachwelt fast unbemerkt hat sich in der Schweiz eine verkehrsorientierte Forschung etabliert, der einfallsreiche Fragestellungen, profunde Analysen und bemerkenswerte Ergebnisse zur Verkehrspolitik und Verkehrsgeschichte attestiert werden können. Diesem fruchtbaren Umfeld ist das als Band 8 der Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung erschienene Buch mit dem Untertitel "Deutsche und Schweizer Städte im Vergleich 1950 - 1990" zu verdanken. Das weckt Interesse, denn das im 20. Jahrhundert dominante System 'Straße-Automobil' spielte in der Verkehrsgeschichte bisher eine eher untergeordnete Rolle. Dementsprechend gibt es zum motorisierten Stadtverkehr nur wenige Forschungsbeiträge.

Haefelis Studie versteht unter Mobilität Handlungsoptionen des Einzelnen, als Fußgänger oder mit Fahrzeughilfe Distanzen zu überwinden. Verkehr ist hingegen die Folge individueller Mobilitätshandlungen. Im Stadtverkehr aggregieren sich die Mobilitätsentscheidungen Vieler zu einem Mix öffentlicher und privater Verkehrsmittel. Der Autoverkehr in den Städten ist ein Phänomen der Massenmotorisierung, die zwischen 1950 und 1970 einsetzte. In diesem Zeitraum stieg der Anteil des automobilen Verkehrs am gesamten Verkehrsaufkommen dramatisch an. Nach 1970 erlebten öffentliche Verkehrsmittel auf Schiene und Straße eine Renaissance, sodass sich der innerstädtische Verkehr langsam ausdifferenzierte. Doch die herkömmlichen verkehrswissenschaftlichen Kriterien - Bevölkerungsentwicklung, Stadtgestalt, Fahrzeugdichte, Haushaltseinkommen und Verkehrspreise - können nicht erklären, worauf die unterschiedlich hohe Automobilnutzung in einzelnen Städten beruht bzw. weshalb sich dort unterschiedliche Modal Splits einstellten.

Zur Aufhellung dieser zentralen Frage vergleicht Haefeli die städtische Verkehrspolitik in Bern, Basel, Zürich bzw. in Bielefeld, Münster und Freiburg im Zeitraum 1950 bis 1990 miteinander; den Schwerpunkt bilden Bern und Bielefeld. Die Auswahl der Städte erfolgte aufgrund ihrer ähnlichen Größe. Es versteht sich, dass ein hermeneutisch-analytischer Ansatz eine Vielzahl potenzieller Einflussfaktoren berücksichtigen muss: Die politische, rechtliche und wirtschaftliche Abhängigkeit der Kommunen von übergeordneten Entscheidungsebenen, ihre finanziellen Spielräume, die zeitgenössischen Leitbilder der Stadtplaner innerhalb und außerhalb der Verwaltung, die Einwirkungen von örtlichen Wirtschaftsinteressen, politischen Parteien und autofeindlichen Bürgerinitiativen auf die Entscheidungen der Stadtparlamente, usw. Ein Blick in den Forschungsstand zeigt, dass sich nicht nur Verkehrsingenieure und Verkehrsökonomen mit Fragen zum Stadtverkehr befassen, sondern auch andere Disziplinen wie Soziologie, Humangeografie oder Verkehrspsychologie. Das beziehungslose Nebeneinander der fachspezifischen Diskurse hat jedoch eine konstruktive Synthese der Einzelerkenntnisse verhindert.

Dem leitenden Gedanken entsprechend gliedert sich die Untersuchung in drei Teile. Im ersten Teil werden die überlagernden gesamtstaatlichen Rahmenbedingungen für das verkehrspolitische Handeln der Stadtregierungen und die Akteure beleuchtet. Ungeachtet der Unterschiede in der politischen Organisation des Staates durchliefen die Schweiz und Deutschland zwei gleich gelagerte Phasen: 1957 bis etwa 1970 Durchbruch der Massenmotorisierung mit der Folge einer unkritischen Expansion des Fernstraßenbaus; etwa 1970 bis 1990 zunehmende Kritik an der automobilen Gesellschaft und Entstehung der Umweltschutzideen. Die zuvor auf das als 'modern' eingestufte Verkehrsmittel Kraftfahrzeug setzende nationale Verkehrspolitik geriet unter dem Druck der Ölkrisen sowie der Ökologiebewegungen in Legitimationszwänge und begann, den Schienenverkehr zu rehabilitieren sowie die schädlichen Einflüsse des Kraftfahrzeugverkehrs mit Gesetzen zu bekämpfen.

Wie die Fallstudien zu den sechs Städten im zweiten Teil der Untersuchung zeigen, gab es zu Beginn des Betrachtungszeitraums kaum Unterschiede in den Mobilitätssystemen der sechs Städte. Doch alsbald begannen Kraftfahrzeuge, den Fahrradverkehr zu ersetzen und den öffentlichen Schienenverkehr in den Untergrund zu verdrängen. Städtebauer und Verkehrsplaner gaben diesem Druck - auch mit dem Blick auf die als vorbildlich empfundenen automobilgerechten amerikanischen Städte - bereitwillig nach und wetteiferten beim Bau möglichst breiter Straßenschneisen für den motorisierten Individualverkehr. Schon in den 1960er Jahren gab jedoch die rapide ansteigende Verstopfung innerstädtischer Straßen durch die Kraftfahrzeuge den Anstoß für eine andere Verkehrspolitik. Die zuvor von Verkehrsexperten und Städteplanern unter weitestgehendem Ausschluss der Verkehrsteilnehmer geführten Diskurse über 'automobilgerechte Städte' und 'hindernisfreien Verkehrsfluss' erfuhren nunmehr durch partizipatorisch gestimmte Bürger eine Repolitisierung.

Trotz der langfristigen Wirkung automobilinduzierter Siedlungs- und Verkehrsstrukturen wie auch der Persistenz einmal erlernten Verkehrsverhaltens gelang den sechs Städten durch gezielte Förderung alternativer Verkehrsangebote ein Paradigmenwechsel. Die unterschiedlichen Ausgangslagen und Handlungsspielräume zeitigten spezifische Verläufe und letztlich je eigene Ergebnisse, doch eines ist allen gemein: Die Dominanz des Kraftfahrzeugs im städtischen Verkehr wurde gebrochen. Allerdings liegen die Grenzen der Verkehrsverlagerung in flächigen Siedlungsgürteln. Außerhalb eines leicht erreichbaren, radial auf die Städte zuführenden Netzes öffentlicher Nahverkehrsmittel ist das Auto weiterhin unabdingbar.

Der abschließende dritte Teil bietet eine Synthese der gewonnenen Einsichten in die hochkomplexen Zusammenhänge der Verkehrssysteme; auf Patentrezepte und apodiktische Urteile wird erfreulicherweise verzichtet. Hier tritt die Bedeutung der Untersuchung Haefelis deutlich hervor. Sie liegt in der systematischen Aufbereitung empirischen Materials, mit dessen Hilfe die unterschiedliche Entwicklung der Mobilitätssysteme in deutschen und schweizerischen Städten sowie die daraus resultierenden Unterschiede in der Pkw-Nutzung herausgearbeitet werden. Dabei gelingt es ihm, gängige verkehrswissenschaftliche Hypothesen zu relativieren und auf die verhängnisvolle Wirkung der Gleichsetzung von Mobilität und Verkehr aufmerksam zu machen. Nach der Analyse steht den vom Autoverkehr evozierten volkswirtschaftlichen Kosten öffentlicher und privater Infrastrukturinvestitionen wegen der Verkehrsdichte in den Städten dennoch eine abnehmende Qualität der Mobilität gegenüber, die durch öffentliche Verkehrsangebote nur bedingt ausgeglichen werden kann. Als Ausweg aus dem Dilemma schlägt Haefeli vor, Städte und ihre umgebenden Agglomerationsräume politisch zu vereinigen, um unter Beteiligung der Bevölkerung integrierte Gesamtkonzepte für die Verkehrssysteme einer Region zu entwickeln.

Man möchte meinen, dass dieses bemerkenswerte Buch zum Grundbestand für Forschung und Lehre gehört. Doch weit gefehlt: Eine Suche im deutschen OPAC-Verbundsystem ergab lediglich zwei Treffer.

Reiner Ruppmann