Rezension über:

Martin Wagendorfer: Die Schrift des Eneas Silvius Piccolomini (= Studi e testi; 441), Città del Vaticano: Biblioteca Apostolica Vaticana 2008, 294 S., ISBN 978-88-210-0862-7
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Achim Thomas Hack
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Christine Reinle
Empfohlene Zitierweise:
Achim Thomas Hack: Rezension von: Martin Wagendorfer: Die Schrift des Eneas Silvius Piccolomini, Città del Vaticano: Biblioteca Apostolica Vaticana 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9 [15.09.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/09/15234.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Martin Wagendorfer: Die Schrift des Eneas Silvius Piccolomini

Textgröße: A A A

Die hier zu besprechende Arbeit - eine Wiener Habilitationsschrift - widmet sich der Handschrift einer einzigen Person, die im 15. Jahrhundert gelebt hat. Das wäre mit Sicherheit eine viel zu eng begrenzte Thematik, handelte es sich bei diesem Individuum nicht um eine Persönlichkeit, die ohne Zweifel zu den profiliertesten ihrer Zeit zählte: der aus der Nähe von Siena stammende Humanist Eneas Silvius Piccolomini, der sich als Papst Pius II. nannte. Der Verfasser, Martin Wagendorfer, gehört längst zu den besten Piccolomini-Kennern [1], soeben ist seine gemeinsam mit Julia Knödler erarbeitete kritische Edition der Historia Austrialis erschienen.[2]

Möglich ist eine derartige Studie nur aufgrund der hohen Zahl von überlieferten Autographen, die bisher noch nie systematisch zusammengetragen worden sind. Hinzu kommt ihre ungewöhnlich breite zeitliche Streuung, die von den Studentenjahren bis ans Ende des Pontifikats reicht, mithin ganze vier Jahrzehnte umfasst. Darunter sind viele eigenhändig geschriebene Briefe, die, da stets präzise datiert, ein willkommenes chronologisches Gerüst liefern (Kap. 1, 7-15).

Das zweite Kapitel erläutert die Schriftreform als einen Teil der humanistischen Bewegung, die auf keinen geringeren als Francesco Petrarca zurückgeht. Sie richtete sich vor allem gegen die damals vorherrschende gotische Rotunda, die als sehr unleserlich gebrandmarkte wurde. Im Gegenentwurf dazu beabsichtigte vor allem Poggio Bracciolini die Rückkehr zu einer "littera antica", das heißt zu einer vorgotischen Schrift. Weniger gut erforscht ist die Entstehung der humanistischen Kursive, die sich aus der gotischen Kanzleischrift entwickelt hat. Als ihr Erfinder gilt im Allgemeinen der Florentiner Handschriftensammler Niccolò Niccoli, als Zentrum der Bewegung die Metropole am Arno. Zurecht beklagt Wagendorfer hier die Uneinheitlichkeit der wissenschaftlichen Terminologie und begründet die von ihm getroffene Begriffswahl. (Kap. 2, 16-24).

Nur sehr knapp lässt sich der Verfasser über die Vita seines Protagonisten aus, die gewissermaßen die Folie für die folgenden, chronologisch geordneten Abschnitte bildet. Wer mehr dazu lesen will - und es gibt sehr viel mehr zu erfahren - findet in den Anmerkungen Hinweise auf die maßgebliche Literatur (Kap. 3, 25-27).

Seine Karriere hat der spätere Papst mit einem Zivilrechtsstudium in Siena und Florenz begonnen. Schon aus dieser frühen Zeit besitzen wir von ihm ein umfangreiches Autograph: einen heute in Rom aufbewahrten Kodex (Biblioteca Apostolica Vaticana, Chig. J VII 252), der aus dem Jahr 1426 oder 1427 stammt. Die Handschrift des 21jährigen ist als Ausgangspunkt für die folgende Entwicklung von besonderer Bedeutung und enthält - ein glücklicher Umstand! - sowohl Beispiele seiner Kurrent- als auch seiner Buchschrift. Den zuerst genannten Schrifttypus charakterisiert Wagendorfer als hybride (das heißt bereits humanistisch beeinflusste) Kursive, die Buchschrift als humanistische Minuskel (Kap. 4, 28-60).

Die 1430er-Jahre sind vor allem durch den Aufenthalt in Basel geprägt, der dem aufstrebenden Sekretär sehr unterschiedliche Betätigungsfelder bot. Die wichtigsten Dokumente aus dieser Periode sind seine im Original erhaltenen Briefe, die eine Vielzahl an Einflüssen, ja sogar eine gewisse Experimentierfreude belegen. Was seine Kursive betrifft, hat Piccolomini hier verstärkt humanistische Formen rezipiert; die damals geprägten Züge blieben im Wesentlichen sein ganzes Leben über in Gebrauch (Kap. 5, 61-95). Sehr eingehend analysiert Wagendorfer sodann die Iuvenal-Handschrift in Rom (Biblioteca Apostolica Vaticana, Chig. H IV 135), die in einem nachträglich angebundenen zweiten Teil poetische Werke des späteren Papstes enthält. Sie dokumentiert am besten die Buch- und Glossenhandschrift während der Basler Zeit (Kap. 6, 96-116).

Ein neuer Lebensabschnitt beginnt mit der Dichterkrönung durch Friedrich III. und seinem Wechsel an den Hof des deutschen Königs. In dieser Phase erreicht Piccolominis Kursive nach Wagendorfer eindeutig ihren Höhepunkt, erscheint eleganter, feiner und flüssiger als jemals zuvor. Auch die Minuskel ist nach wie vor auf einem sehr hohen Niveau, auch wenn sie nicht mehr ganz die Qualität der 1430er-Jahre erreicht (Kap. 7, 117-135).

Mit der Ernennung zum Bischof von Siena und der Vorbereitung des kaiserlichen Romzuges wird wieder Italien zum Bezugspunkt des Humanisten; aus dieser Zeit stammt eine ungewöhnlich große Zahl an originalen Handschriften: Konzepte, Exzerpte und vor allem Briefe. In diesen Jahren mit Einschluss des Kardinalats kann der Verfasser einen rapiden Verfall der Handschrift beobachten. Buchstaben wie m, n, u oder v lösen sich in ihre einzelnen Bestandteile auf, die Zunge des e am Ende wird länger, das r immer stärker gespalten (Kap. 8, 136-183). Diese Tendenzen verstärken sich in den sechs Jahren seines Pontifikats, in denen der Sienese noch immer selbst zur Feder greift - nach eigener Aussage in jenen Stunden, in denen die anderen bereits schlafen. Als Gründe für den Schriftverfall führt Wagendorfer die Krankheit des Papstes an: Gicht und Arthritis in Verbindung mit Alterssichtigkeit. Der Erwerb von dickeren Federn lässt sich bis in die päpstlichen Rechnungsbücher hinein verfolgen (Kap. 9, 184-221).

Außerhalb der chronologischen Ordnung behandelt Wagendorfer die autographen Marginalien, die sich in zahlreichen Kodizes aus dem später weit verstreuten Besitz des Humanisten finden. Die zuvor gewonnenen Erkenntnisse zur Entwicklung der Schrift können hier noch einmal gewinnbringend eingesetzt werden (Kap. 10, 222-246).

Die reichen Erkenntnisse der Untersuchung werden abschließend knapp, aber präzise resümiert (Kap. 11, 247-249) und durch eine Vielzahl von Verzeichnissen, Bibliographien und Registern erschlossen (250-291), darunter besonders nützlich das "Verzeichnis der Handschriften und Konvolute mit Autographen Piccolominis" sowie das "Verzeichnis der erhaltenen autographen Briefe" (253-255). 48 Tafeln in Schwarz-Weiß sind eine sehr willkommene Hilfe, um die im Text formulierten Aussagen nachzuvollziehen.

Die beeindruckende Untersuchung von Martin Wagendorfer ist zuverlässig und grundsolide auf paläographischem Terrain, geht aber weit über die technische Seite dieses hilfswissenschaftlichen Themas hinaus. Ihre in jeder Hinsicht überzeugenden Ergebnisse liegen auf einer ganzen Reihe von Feldern: Erstens bietet die Arbeit die bislang umfangreichste Zusammenstellung von Piccolomini-Autographen, beschreibt und datiert sie präzise und bietet dadurch ein sicheres chronologisches Gerüst; alle Ausführungen in punkto Echtheit und Entstehungszeit werden sich künftig daran zu orientieren haben. Zweitens illustriert sie an einem gut dokumentierten individuellen Beispiel das Zurückdrängen der gotischen Formen und die Durchsetzung der humanistischen Schrift, wobei die Unterschiede verschiedener Schriftarten und Schriftniveaus nicht einnivelliert, sondern ganz im Gegenteil sorgfältig herausgearbeitet werden. Drittens bindet sie diese Ergebnisse zurück an die Persönlichkeit und deren historische Entwicklung, ohne dabei graphologischen Spintisierereien zu erliegen; sie liefert damit einen wichtigen Baustein für eine moderne, noch zu schreibende Piccolomini-Biographie. Viertens bietet sie eine Fülle von Ansatzpunkten für die (kultur-)historische Forschung, wie zum Beispiel über das Verhältnis von Krankheit und Schrift; Pius II. war nicht der einzige Gichtbrüchige unter den spätmittelalterlichen Päpsten, vielmehr litt er an einem offenbar für seine Schicht geradezu typischen Gebrechen - ein Thema, dem sich durch komparatistische Untersuchungen gewiss noch einiges abgewinnen ließe.


Anmerkungen:

[1] Vgl. vor allem Martin Wagendorfer: Horaz, die Chronik von den 95 Herrschaften und Friedrich III. Überlegungen zum Widmungsbrief der "Historia Austrialis" des Aeneas Silvius de Piccolominibus, in: Handschriften, Historiographie und Recht. FS Winfried Stelzer zum 60. Geburtstag, hg. von Gustav Pfeifer, Wien/München 2002, S. 109-127 ( MIÖG Erg.-Bd.42); Ders.: Studien zur Historia Austrialis des Aeneas Silvius de Piccolominibus, Wien/München 2002 ( MIÖG Erg.-Bd.43); Ders.: Ein von der Hand des Eneas Silvius Piccolomini geschriebenes Exzerpt aus dem "Liber certarum historiarum" Johanns von Viktring (BAV, Vat. Lat. 7082, fol. 96), in: RHM 47 (2005), S. 81-121; Ders.: Zur Orthographie des Eneas Silvius Piccolomini, in: MLJ 42 (2007), S. 431-476; Ders.: Der Blick des Humanisten. Außenpolitik in der "Historia Austrialis" des Eneas Silvius Piccolomini, in: Außenpolitisches Handeln im ausgehenden Mittelalter: Akteure und Ziele, hg. von Sonja Dünnebeil/Christine Ottner, Wien/Köln/Weimar 2007, S. 341-368 ( Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte 27) ; Ders.: Eneas Silvius Piccolomini und die Wiener Universität - ein Beitrag zum Frühhumanismus in Österreich, in: Pirckheimer-Jahrbuch 22 (2008), S. 21-52; Ders.: Adolf Rusch, die "Historia Austrialis" und St. Paul, Cod. Blas. Chart. 7/2. Zur Datierung und Überlieferung der Wien-Beschreibung des Eneas Silvius Piccolomini, in: Neulatein an der Universität Wien. Ein literarischer Streifzug. FS Franz Römer zum 65. Geburtstag, hg. von Christian Gastgeber/ Elisabeth Klecker, Wien 2008, S. 89-102 ( Singularia Vindobonensia 1); Ders.: Die Editionsgeschichte der Historia Austrialis des Eneas Silvius Piccolomini, in: DA 64 (2008), S. 65-108.

[2] Vgl. Julia Knödler/ Martin Wagendorfer ( Eds.): Eneas Silvius Piccolomini, Historia Austrialis (1.-3. Redaktion), Hannover 2009. ( MGH SS rer. Germ. N.S. XXIV)

Achim Thomas Hack