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Stephan Conermann: Islamische Welten. Einführung, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10 [15.10.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
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Islamische Welten

Einführung

Von Stephan Conermann

In diesem Forum "Islamische Welten" haben wir es mit Besprechungen von 12 Büchern zu tun, die wieder einmal eine Reihe wichtiger Fragen unseres Faches tangieren. Grundlage unserer philologischen Tätigkeit bildet der überaus reichhaltige Fundus an Handschriften. Über der Beschäftigung mit den Texten vergisst man bisweilen, sich auch einmal mit der historische Manuskriptkultur zu befassen. Dabei gibt es, wenn man genau hinschaut, eine Reihe von Quellen, aus denen sich die chemische Technologie der farbigen und schwarzen Tinten und Tuschen des arabischen Mittelalters bis zum 11. Jahrhundert rekonstruieren lässt. Auf Ruß- und Kohletinte folgte mit dem Wechsel von Papyrus zu Pergament ab Mitte des 8. Jahrhunderts die Eisengallustinte. Mit der Einführung des Papiers um 800 wurde diese Flüssigkeit kontinuierlich verbessert, bis dann zum Ende des 10. Jahrhunderts mit der Eisengallus-Rußtinte oder Papiertinte eine Substanz entwickelt worden war, die die Schriftkundigen bis in das 19. Jahrhundert verwenden sollten. (Weintritt über Schopen)
Den Inhalt vieler Manuskripte bilden selbstverständlich normativ-religiöse Schriften. Ein Teil von ihnen formt den Hintergrund für die Entstehung der juristischen Hermeneutik im frühen Islam. Grundsätzlich mussten sich die Rechtsgelehrten die Frage stellen, wie mit inneren Widersprüchen in autoritativen Texten (hier: Koran und Sunna) umzugehen ist. Bevorzugte Methode war, eine Regelung durch eine andere einzuschränken, um so beide Anordnungen beizubehalten. Man musste aber in solchen Fällen zum einen die allgemeinere der beiden Regelungen erkennen, die dann durch die speziellere begrenzt wird, und zum anderen Kriterien entwickeln, wie diese Einschränkungen methodisch sauber durchzuführen sind. Interessant ist dabei zu beobachten, wie in diesem Zusammenhang bis zum 8. Jahrhundert Koran und Sunna im Rahmen einer "exegetischen Wende" zu kanonischen Texten der juristischen Rechtsfindung wurden. (Scheiner über Tillschneider)

Historische Fragen stehen im Mittelpunkt einiger anderer rezensierter Werke. So kommt etwa eine Autorin zu einer Neubewertung der 'Ayyārān, einer häufig geringschätzig betrachteten Gruppe von frühislamischen Glaubenskämpfern. Auf der Basis einer umfassenden Analyse unterschiedlicher Quellensorten in persischer und arabischer Sprache weist sie nach, dass diese Personen von ihren Zeitgenossen durchweg positiv gesehen wurden, was sich auch durch ihren engen Bezug zu vielen Proto-Sufis erklären lässt. Ihr negatives Image entstand erst zu einem späteren Zeitpunkt durch ihre Gegner. Interessant ist die These, dass der Ehrenkodex dieser Leute möglicherweise als Vorbild für die europäischen Ritter diente und durch die Kreuzzüge nach Europa gelangt sei. (Schüller über Tor) Ein anderes Buch - die sehr späte Übersetzung einer englischsprachigen Abhandlung aus dem Jahre 1994 - widmet sich dem Zusammenleben von Juden und Christen im Mittelalter unter besonderer Berücksichtigung der jüdisch-christlichen und der jüdisch-muslimischen Beziehungen. Da der Vergleich sehr breit angelegt ist, baut der Verfasser offenbar stark auf den Ergebnissen anderer Wissenschaftler auf und ist dadurch kaum einmal in der Lage, eigene Akzentuierungen zu setzen. Das kann man für eine allgemeine Leserschaft sicher einmal so machen. (Scheiner über Cohen) Viel wichtiger scheint mir der Versuch zu sein, die Zeit vor 1800 aus einer globalgeschichtlichen Perspektive zu betrachten. Nachdem Christopher Bayly und Jürgen Osterhammel mit ihren beiden monumentalen Werken "The Birth of the Modern World, 1780-1914. Global Connections and Comparisons" (Oxford 2004) und "Die Verwandlung der Welt: eine Geschichte des 19. Jahrhunderts" (München 2009) das lange 19. Jahrhundert, also die Zeit von 1789 bis 1914, ausgelotet haben und dabei zu der Erkenntnis gekommen sind, dass man vor 1800 auf keinen Fall von einer europäischen politischen, kulturellen oder ökonomischen Dominanz sprechen könne, gilt es, die Epoche der Frühen Neuzeit (16.-18. Jahrhundert) neu, d.h. also nicht aus der Sicht der Kolonialreiche heraus, zu lesen. "Decolonized history has cut Europe down to size", wie es so schön formuliert worden ist. Der "European Breakout" geschah erst im 19. Jahrhundert, die europäische Expansionsbewegung in den Jahren von 1480 bis 1620 ist zwar immens wichtig, globalgeschichtlich jedoch nicht wirklich epochal, denn auch die islamische Welt expandierte in dieser Zeit in gewaltigem Ausmaß. Die Frühe Neuzeit war weniger eine Ära, in der Europa und Asien auseinanderdrifteten, sondern vielmehr ein Zeitalter, in dem die beiden Kulturräume auf verschiedenen Ebenen eng miteinander verflochten waren. Bildete das Moghulreich die größte imperiale Leistung dieser Zeit, kann die Lage in Europa nur als sehr instabil bezeichnet werden. Von 1600 bis 1750 herrschte ein Gleichgewicht der Kräfte, der eigentliche Wendepunkt kam erst mit der "Eurasischen Revolution" im darauf folgenden Saeculum. (Kulke über Darwin und über Subrahmanyam) In diesem 19. Jahrhundert entwickelten europäische Denker wie Charles de Secondat Baron de Montesquieu, Edmund Burke, Alexis de Tocqueville, James Mill, Karl Marx und Max Weber Vorstellungen von einer "typisch" asiatischen Produktionsweise" und einer ebenso "typisch" orientalischen Despotie. Aufgegriffen und populär gemacht hat den letzteren Begriff vor allem Karl August Wittfogel (1896-1988), der darunter eine Regierungsform versteht, in der der Herrscher die totale Macht beansprucht und eine starke Staatsbürokratie das Land vollkommen beherrscht. In solchen Gesellschaften fehlten, so Wittfogel, politische Gegengewichte, die für bürgerliche Freiheiten sorgen können. Die Städte seien durch eine starke Abhängigkeit von der Beamtenschaft geprägt, so dass Kaufleute und Handwerker nicht zu einer eigenen politischen Kraft werden konnten. Und bis heute wird an vielen Orten die Frage gestellt, ob arabisch-muslimische Staaten grundsätzlich in der Lage sind, Reformen im westlichen Sinn durchzuführen. (Schwanitz über Curtis) Kommt man zur Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert und damit in Deutschland zur Kaiserzeit, so befindet man sich in einer Epoche, die aus der Sicht des Nationalstaates als die 'reichsdeutschen Orient- und Mittelost-Gründerjahre' galten. Wie diese Zeit von deutschen Diplomaten wahrgenommen worden ist, zeigt ein (recht bunt zusammengewürfelter) Band mit 19 Erlebnisberichten, den der Kölner Historiker Martin Kröger zusammengestellt hat. (Schwanitz über Kröger) Damit sind wir schließlich bei der Jetztzeit und der Situation der Muslime in der Bundesrepublik Deutschland angelangt. Zu diesem Thema gibt es eine große Zahl an Einzelstudien, doch fehlt bisher eine wirklich gelungene Gesamtschau. Diese liefert auch nicht der jüngst von Al-Hamarneh und Thielmann vorgelegte Sammelband, doch bietet er mit seinen 24 Beiträgen sehr umfassende Einblicke in zahlreiche wichtige Themenbereiche jenseits der in den Medien obligatorischen Diskussionen um Leitkultur, innere Sicherheit und religiös bedingte Integrationshemmnisse. Neben unterschiedlichen Entwicklungen des Islams in Deutschland, muslimischen Organisationen und Einzelaspekten gelebter muslimischer Realitäten kommen die Facetten des komplexen Verhältnisses von Mehrheitsgesellschaft und Muslimen überzeugend zur Sprache. (Agai über Al-Hamarneh/Thielmann)

Abschließend seien noch die drei übrigen Werke kurz angesprochen. (1) Der Glaube an den Mahdi, den erwarteten Erlöser und zugleich verborgenen zwölften Imam, bildet den zentralen Topos der schiitischen Eschatologie. Eine der rezensierten Arbeiten untersucht, wie sich der Mahdi-Glaube unter dem Einfluss der Moderne verändert hat. (Schüller über Ourghi) (2) Ein gutes Buch über den Palästinakonflikt zu schreiben, ist mehr als schwer. Hier ist dies offenbar gründlich misslungen - zu unwissenschaftlich sei der eine Teil, zu einseitig der andere, so das Urteil des Rezensenten. (Schwanitz über Flores) (3) Das Oberthema einer Festschrift für Michael G. Carter heißt "Arabische Grammatik". Dies ist jedoch ein so weites Feld, dass die einzelnen Beiträge - etwa zur Geschichte der arabischen Grammatikschreibung und zu grammatikalischen Sonderfällen und Randbereichen - insgesamt einen sehr heterogenen Charakter besitzen. (Bentlage über Edzard/Watson)

Ich wünsche allen viel Spaß bei der Lektüre!

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