Eberhard Eichenhofer: Geschichte des Sozialstaats in Europa. Von der "sozialen Frage" bis zur Globalisierung (= Beck'sche Reihe; 1761), München: C.H.Beck 2007, 219 S., ISBN 978-3-406-54789-8, EUR 12,95
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In einem kurzen Abriss zur Geschichte des Sozialstaats in Europa präsentiert einer der renommiertesten Sozialrechtler in Deutschland, der in Jena lehrende Eberhard Eichenhofer, ein zweigeteiltes Werk. Im ersten Drittel legt er pointiert wichtige historische Vorläufer des heutigen Sozialstaates von den christlichen Wurzeln bei Kaiser Konstantin bis zu einzelnen Ausformungen in ausgewählten westeuropäischen Ländern am Ende des 20. Jahrhunderts dar. Der zweite, größere Teil befasst sich dann mit seiner eigentlichen Hauptintention: das Verdeutlichen der europäischen Sozialstaatskomponente und die Angleichung nationalstaatlicher Sozialpolitik im Rahmen der EU.
Die historischen Kapitel zeigen für den Verfasser, dass alle Mitgliedstaaten der EU im 20. Jahrhundert Sozialstaaten geworden sind. Die zunehmend engere Verflechtung verschiedenster Einrichtungen zum sozialen Schutz tragen für ihn dazu bei, das System sozialer Sicherung der Mitgliedstaaten mit klarer, selten öffentlich wahrgenommener Tendenz umzugestalten. Flankierend erhalten nach seiner Ansicht die Mitgliedstaaten wesentliche Impulse zu einem sozialpolitischen Wandel von der EU. Die Europäisierung des sozialen Schutzes ist für Eberhard Eichenhofer daher bereits eine Tatsache, die jedoch im öffentlichen Bewusstsein zu selten gewürdigt wird.
In der Tat zeigt die Geschichte der Armenfürsorge / Wohlfahrtspflege / Sozialpolitik - genaue begriffliche Bestimmungen und Abgrenzungen lassen die Kürze der Abhandlung leider nicht zu - einen stetigen Fortschritt in Richtung des heute vorherrschenden Sozialsystems, wenn der Leser bereit ist, sich auf das alle Mitgliedstaaten einende europäische Modell einzulassen.
Die Entstehung des modernen Sozialstaates aus der Geistes-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas wird sehr deutlich. In der christlichen Tradition verhaftet erfuhr die soziale Sicherung in den Städten des Mittelalters eine erste Ausprägung in der Bereitstellung von Schutz- und Versorgungseinrichtungen. Von der städtischen Armenfürsorge der Frühen Neuzeit über die aufgrund der expandierenden Städte nötig gewordene öffentliche Daseinsvorsorge bis hin zu den Territorialstaaten, die bereits mit dem Ordnungsauftrag, die Wohlfahrt des gesamten Gemeinwesens zu sichern, konfrontiert waren, versteht es der Autor in einer ungeheuren Komprimierung die Tendenzen der Jahrhunderte darzustellen.
Nebenbei gelingt zudem das Kunststück, den politischen Liberalismus im Rahmen der Diskussion um Fürsorgestaat oder Rechtsstaat, wobei sich beides natürlich nicht ausschließen muss, als wichtige politische Strömung in die Argumentation einzubinden. Die prägende Ausformung des politischen Liberalismus, Fürsprecher von Freiheit und Gleichheit, wird als Vorbedingung für eine solidarische Gesellschaft und als Befürworter des Staatsinterventionismus nur zum Schutz allgemeiner Belange und der Rechte von Einzelnen geschildert. Die im 19. Jahrhundert gereifte Einsicht, der Staat solle fortan der Gestaltung der gesellschaftlichen Bedingungen und somit allen zugute kommen, veränderte als an der Schwelle zum 20. Jahrhundert entstandener Sozialstaat tiefgreifend die bürgerliche Gesellschaft und drängte liberale Gegentendenzen zurück - zunächst nur durch gewandelte Deutungen und Wertungen, dann auch in Folge veränderter Institutionen.
Die ungewöhnlich souveräne Darstellung der historischen Sozialstaatswurzeln darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es dem Autor zwar gelingt, die rechtliche Fundierung bereits im ersten Teil in den Blick zu bekommen, doch die historischen Ausformungen meist zu knapp erörtert werden. Gewiss, Eichenhofer besticht durch das Einfügen von Originalquellen von Zeitgenossen - was er auch im zweiten Teil durch die Betonung sozialer Reformansätze der Gegenwart mittels zeitgenössischer Darlegungen beibehält - und durch die hervorragende Kenntnis sozialrechtlicher Entwicklungen. Demgegenüber stehen historische, soziologische und politikwissenschaftliche Analysen hinten an, ja diese können in einer derart prägnanten Darstellung gar nicht ausführlicher berücksichtigt werden. Seien es historische Kontexte von räumlichen Gebilden, Analysen der Institutionen oder sozialen Interaktionen, sozialpolitische Entscheidungsprozesse, all dies würde der Leser gerne ausführlicher erläutert bekommen. Doch dann wäre ein stärker interdisziplinärer Zugang nötig gewesen, der - dies sei wiederholt - einfach in dieser knappen Darstellung nicht zu leisten ist. Eine Sozialgeschichte, die all die verschiedenen Ansätze verbindet und zusammenfügt, bleibt ohnehin selbst für Deutschland noch ein Desiderat, trotz herausragender Forschungsleistungen in den einzelnen Fachgebieten von Hartmut Kaelble, Hans Günter Hockerts, Gerhard A. Ritter, Christoph Sachße, Florian Tennstedt über Franz-Xaver Kaufmann, Göran Therborn, Gøsta Esping-Andersen zu Eckart Reidegeld, Manfred G. Schmidt und Wolf Rainer Wendt, um nur einige für den deutschen Sozialstaat äußerst bedeutende Forscher zu erwähnen.
Die repräsentative Auswahl nationalstaatlicher Entwicklungen im 20. Jahrhundert gelingt wieder hervorragend, wobei natürlich darauf hinzuweisen ist, dass lediglich westeuropäische Länder berücksichtigt wurden. Eichenhofer schafft es, Länderanalysen mit der Behandlung wichtiger sozialpolitischer Strömungen wie dem Verein für Socialpolitik und dem Austromarxismus anzureichern. Lediglich ein Vergleich einzelner erwähnter sozialpolitischer Errungenschaften - so der Wiener Wohnungsbau in den 20er und 30er Jahren - mit der Entwicklung eines ähnlich strukturierten Raumes in einem anderen Land würde zusätzlich Erhellendes bringen. Die groben Umrisse der sich im 19. und 20. Jahrhundert herausbildenden Wohlfahrtssysteme wichtiger Nationalstaaten werden ohne Zweifel sehr deutlich.
Die vertragsrechtliche Ausgestaltung bis hin zur "europäischen Sozialunion" wird trotz zunächst geringer rechtlicher Zuständigkeit der EU/EG auch als Folgewirkung aus der ökonomischen Integration argumentativ überzeugend dargelegt. In den gegenwärtigen Debatten über rechtliche Zuständigkeiten und wünschenswerte Entwicklungen spart Eichenhofer nicht mit deutlichen Worten bezüglich einer britischen "Blockadehaltung", die in Fragen europäischer Harmonisierung gerade auf dem Gebiet sozialer Fragen bremsend wirkt. Dennoch lassen sich scheinbar sozialpolitische Angleichungen nicht aufhalten. Die europäische Verfassung wird, und auch dies wird argumentativ überzeugend ausgeführt, eine weitere soziale Basis der EU fundieren.
Die gesamte Analyse durchzieht eine angenehme positive Grundstimmung, die sich doch von vielen pessimistischen Analysen unterscheidet. So ist der Verfasser überzeugt, dass sich eine um die beste Lösung bemühte Sozialpolitik in der EU herausschält. Zudem sieht er über die bekannte Wechselwirkung von wirtschaftlicher und sozialer Leistungskraft hinausgehend die europäische Sozialpolitik gar als stützendes Element für eine Wirtschaftspolitik - eine These, die insbesondere von Wirtschaftswissenschaftlern mit Skepsis betrachtet werden dürfte. Dies wird anhand der Beschäftigungspolitik, den sozialen Schutzregelungen und umfassender Dienstleistungen innerhalb der gesamten EU verdeutlicht und durchaus plausibel.
Interessant sind auch die Ausführungen zur neuen sozialpolitischen Ausrichtung europäischer Politik. Flexibilität im persönlichen Lebensentwurf soll mit der Sicherheit durch soziale Leistungen bei einer Neuorientierung des Erwerbslebens verbunden werden, um die nötige Daseinsgrundlage schaffen zu können. Der darauf folgende angeregte programmatische und konzeptionelle Wandel sieht eine private Säule des sozialen Schutzes als Beteiligung zum öffentlichen vor. Die Mitgliedstaaten wurden nach Eichenhofer durch diese Neuorientierung zum EU-rechtlich gebundenen sozialpolitischen Akteur, und somit wird zunehmend ein einheitlich gerichteter Sozialraum geschaffen.
Europäische Sozialpolitik sei natürlich nur mit den Mitgliedstaaten zu verwirklichen und eine zwangsläufige Folge der europäischen Integration. Zudem müsse sie auch immer mehr Gewicht gewinnen, da die einseitige Nationalisierung des sozialen Schutzes in einer transnationalen Welt nicht länger aufrechterhalten werden könne.
Die sozialrechtlichen Analysen überzeugen voll und ganz. Neben der stärkeren Berücksichtigung der erwähnten Nachbarwissenschaften wären empirische Daten zur Untermauerung der Angleichung nationaler europäischer Sozialsysteme wünschenswert, doch angesichts der knappen Darstellung illusorisch. Eberhard Eichenhofer ist ein überzeugendes Plädoyer für ein europäisches Sozialstaatsmodell aus dem Blickwinkel des Sozialrechtes gelungen, das viele Leser verdient.
Alexander Goller