Martin Steffens: Luthergedenkstätten im 19. Jahrhundert. Memoria - Repräsentation - Denkmalpflege, Regensburg: Schnell & Steiner 2008, 376 S., ISBN 978-3-7954-2098-7, EUR 66,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Claudia Hattendorff: Napoleon I. und die Bilder. System und Umriss bildgewordener Politik und politischen Bildgebrauchs, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2012
Nicolaj van der Meulen: Der parergonale Raum. Zum Verhältnis von Bild, Raum und Performanz in der spätbarocken Benediktinerabtei Zwiefalten, Wien: Böhlau 2016
Catherine Granger: L'Empereur et les arts. La liste civile de Napoléon III, Paris: École des Chartres 2005
Nationale Gedenkstätten und Erinnerungsorte des 19. Jahrhunderts gab und gibt es in Deutschland in großer Zahl. Kaiserdenkmäler und Bismarcksäulen konnten einen solchen Rang erhalten und konstituierten zu einem guten Teil die "Denkmallandschaft" im "Wilhelminischen Deutschland". Allerdings zählten vor allem die Finanzierungsmodalitäten, die Rolle des Reiches und der Kommunen bei Planung und Finanzierung, aber auch die Aufnahme seitens der Öffentlichkeit zu den entscheidenden Kriterien, ob ein Denkmal zum "Nationaldenkmal" werden konnte, wie Reinhard Alings in seiner wichtigen Studie "Monument und Nation" (Berlin 1996) festgestellt hat. Neben den herausragenden Aufgaben der Errichtung von Denkmälern ist in der Forschung bisher jener Aspekt zuwenig beachtet worden, der die gesamte Gattungsvielfalt von Gedenkstätten und Erinnerungsorten ins Zentrum des Interesses stellt.
Die vorliegende Arbeit, eine 2006 an der Freien Universität Berlin approbierte Dissertation, versucht diesen Mangel am Beispiel des "Kultes" um Martin Luther zu beheben. Nicht ohne Grund bezieht sich der Autor auf die denkmalpflegerisch motivierten Umgestaltungen vieler, zum Teil älterer Erinnerungsorte im Lauf des 19. Jahrhunderts - eine Periode, welche zugleich die Hauptphase denkmalhafter Umgestaltungen bezeichnet. Methodisch entwickelt Steffens seine Arbeit in einer geschickten Verschränkung der Gedächtnisforschung in der Tradition von Aleida Assmann und Étienne François bzw. Hagen Schulze mit einer äußerst präzisen Rekonstruktion baugeschichtlicher Details vier ausgewählter und herausragender Luthergedenkstätten (Geburtshaus in Eisleben, Sterbehaus in Eisleben, Wartburg und Wittenberger Schlosskirche). Indem der Autor nach den unterschiedlichen Konstruktionen und Motivationen fragt, mit deren Hilfe die Vergangenheit als Bezugsraum der jeweiligen Gegenwart gestaltet wird, kann er die unterschiedlichen Stufen der Aneignung von "Luther-Bildern" zusammen mit den aus der Bau- und Ausstattungsgeschichte ermittelten empirischen Fakten zu einem Gesamtbild vereinen.
In verdienstvoller Weise streicht Steffens heraus, dass das Luthergedenken des 19. Jahrhunderts in einer langen, bereits zu Luthers Lebzeiten beginnenden Tradition steht (32): Im Geburtshaus des Reformators setzte etwa die materielle Kennzeichnung als Lutherstätte wohl bereits 1583 ein (42). In allen gewählten Beispielen macht Steffens deutlich, dass über die Jahrhunderte hinweg ausgeprägte Bestrebungen existierten, Luthers Wirken durch das Herausstellen der dinglichen Erinnerungskultur - bis zur Verehrung von Lutherreliquien (!) - zu propagieren. Die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Sichtweisen Martin Luthers im 19. Jahrhundert - gipfelnd in der Heroisierung Luthers als Nationalheld - war eine entscheidende Grundlage für die Umgestaltung und Umkodierung der Luthergedenkstätten. Dabei ist zu beachten, dass Luther im 19. Jahrhundert nur selten unter theologischen Aspekten rezipiert wurde, vielmehr aber unter nationalen Vorzeichen (51).
Die Vielfalt der Aspekte soll im Folgenden besonders an den Ausführungen zu Luthers Geburtshaus in Eisleben (59-91), durch den dortigen Tod des Reformators zudem ein besonders signifikanter Erinnerungsort, zusammengefasst werden. Das beim Stadtbrand von 1689 zerstörte Haus wurde offenbar wenige Jahre später nach der ursprünglichen Grundrissdisposition wieder aufgebaut. Allerdings war mit diesem im Auftrag des Magistrats durchgeführten Umbau eine (nicht museale) Nutzungsänderung verbunden, die sich in der Verwendung als Almosenhaus sowie Schreib- und Rechenschule äußerte. Eine Sammlung und Präsentation von Kunstwerken oder historischen Relikten war jedenfalls nicht vorgesehen. Seit 1815, Eisleben war kurz zuvor an Preußen gefallen, setzten Bemühungen des Herrscherhauses ein, die mit Luther in Beziehung stehenden Orte zu bewahren oder einer entsprechenden Kennzeichnung zuzuführen, aber stärker im Sinne einer Legitimation und Popularisierung der neuen Obrigkeit. Hier zeigt sich deutlich, in welcher komplexen Weise das historische Objekt und der jeweilige "Agent" der Erinnerungskultur in Verbindung stehen, ähnlich wie auch beim Sterbehaus Luthers in Eisleben, wo es zu einer aufwendigen Neugestaltung erst nach einem langwierigen Ankaufsverfahren durch den preußischen Staat in den 1860er-Jahren kam. In diesem Zusammenhang ist das Dekret König Friedrich Wilhelms III. von 1817 zu sehen, welches das Geburtshaus unter staatlichen Schutz stellte. Dazu kam das Faktum, dass der Hauptraum, der "Schöne Saal", seine Funktion als Ort der Almosenausgabe verlor, nicht mehr als zu schützendes "Gesamtensemble" wahrgenommen wurde und - wie auch bei anderen Luthergedenkstätten - um Ausstattungsgegenstände ergänzt wurde, was die schleichende Musealisierung, gefördert durch Karl Friedrich Schinkel, begünstigte. Dadurch erlebte Luthers Geburtshaus im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts einen erheblichen Zuwachs an musealen Ausstattungsstücken, die sich aber vor allem auf die allgemeine Bedeutung und Wirkung des Reformators bezogen. Diesen Wandlungen der Nutzung des Gebäudeinneren folgte ab den 1860er-Jahren eine nachhaltige Veränderung des Äußeren, angeregt vor allem durch einen Bericht des berühmten Architekten Friedrich August Stüler im Jahr 1862. Die darauf folgende Freistellung des "Baudenkmals" Luthergeburtshaus und die Entfernung aller späteren Anbauten zusammen mit dem Abriss des Nachbargebäudes leiteten den letzten Akt der Umgestaltungen ein, die in der städtebaulichen Akzentuierung des Baudenkmals mündeten, das nicht ohne Grund von nun an von der Hauptstrasse aus besser zu sehen war. Diese "denkmalhafte Zurschaustellung" (86) des Gebäudes ist im 19. Jahrhundert kein Einzelfall und kann als eine - den Intentionen des Denkmalkults vergleichbare - Präsentation eines Gebäudes bzw. Innenraums (z.B. "Lutherstube" auf der Wartburg) gesehen werden, das zu diesem Zeitpunkt jeden wirklich historischen Charakter verloren hatte.
Dieses Beispiel illustriert somit ein charakteristisches Faktum der Luthergedenkstätten insgesamt, deren Wirkmächtigkeit weniger an die geschichtliche Substanz als solche oder an greifbare (zumeist aber inzwischen ohnehin zerstörte) Reliquien gebunden war, sondern an eine Mythisierung in Bezug auf den ursprünglichen Bewohner. Nur unter diesem Aspekt ist das preußische Bestreben in den 1860er-Jahren verständlich, das unscheinbare (und inzwischen hinsichtlich seiner Funktion als tatsächliches Sterbehaus Luthers "entmythisierte") Bürgerhaus in Eisleben in eine auratische Luthergedenkstätte zu verwandeln (108). Wo diese Aura nicht mehr greifbar war, wurde sie, wie etwa beim Sterbehaus Luthers, in den 1890er-Jahren durch Ergänzungen mit Möbeln im Charakter des 15. und 16. Jahrhunderts konstruiert (ähnliches gilt für die Möblierung der "Lutherstube" (186)) oder aber als historisierend formulierte Stilentwicklung von der Spätgotik bis zur Renaissance evoziert ("Reformationszimmer" auf der Wartburg (191-233)). Die in den Quellen direkt angesprochene erwünschte "stimmungsvolle" Atmosphäre (136) lässt zudem an Alois Riegls gleichzeitig formulierte Thesen zur Denkmalpflege denken.
Martin Steffens Studie ist im besten Wortsinn als exemplarisch zu bezeichnen. Dem Autor gelingt es, das auf den ersten Blick etwas sperrige Thema in einen Rahmen zu stellen, der Memorialkultur, Denkmalpflege und Kunstgeschichte souverän miteinander verbindet.
Werner Telesko