Rezension über:

Reiner Schulze / Thomas Vormbaum / Christine D. Schmidt / Nicola Willenberg (Hgg.): Strafzweck und Strafform zwischen religiöser und weltlicher Wertevermittlung (= Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496; Bd. 25), Münster: Rhema Verlag 2008, 318 S., ISBN 978-3930454-89-1, EUR 38,00
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Rezension von:
Falk Bretschneider
École des Hautes Études en Sciences Sociales, Paris
Redaktionelle Betreuung:
Julia A. Schmidt-Funke
Empfohlene Zitierweise:
Falk Bretschneider: Rezension von: Reiner Schulze / Thomas Vormbaum / Christine D. Schmidt / Nicola Willenberg (Hgg.): Strafzweck und Strafform zwischen religiöser und weltlicher Wertevermittlung, Münster: Rhema Verlag 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 11 [15.11.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/11/15488.html


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Reiner Schulze / Thomas Vormbaum / Christine D. Schmidt / Nicola Willenberg (Hgg.): Strafzweck und Strafform zwischen religiöser und weltlicher Wertevermittlung

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Der vorliegende, aus einer im Februar 2008 in Münster stattgefundenen Tagung hervorgegangene Band beschäftigt sich mit einer zentralen Funktion von Strafe: der Vermittlung von gesellschaftlichen Werten. Wie im Bereich der Strafjustizgeschichte inzwischen üblich, bemüht er sich um eine interdisziplinäre Perspektive, die rechtshistorische und geschichtswissenschaftliche Ansätze miteinander verbindet. Dem Forschungsprogramm des Münsteraner SFBs "Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme" verpflichtet, setzt er sich intensiver mit den verschiedenen Kommunikationsformen auseinander, in denen sich diese Wertevermittlung seit dem Spätmittelalter vollzog. Zwei eingeführte Annahmen, so die Herausgeber/innen in ihrer Einleitung, sollen dabei kritisch hinterfragt werden: zum einen der Übergang von vorrangig symbolischen zu vor allem diskursiven Kommunikationsformen im Bereich der Strafjustiz (vom "Theater des Schreckens" der Frühen Neuzeit zur nüchternen Gerichtsverhandlung der Moderne); zum anderen die vermeintliche Gewichtsverlagerung von religiösen Vorbestimmungen des Strafens zu säkularen Straftheorien und -praktiken.

Die insgesamt 16 Beiträge des Bandes lassen sich entlang von mehreren chronologischen bzw. thematischen Schwerpunktsetzungen gruppieren: Einzelne Texte richten ihr Augenmerk bereits auf die beginnende Vormoderne. Insbesondere Peter Schusters Betrachtungen zu Wandel und Kontinuität vormoderner Strafformen, in denen er den engen Konnex zwischen dem städtischen Herrschaftsausbau im Spätmittelalter, der Notwendigkeit einer religiösen Legitimation von Macht und dem Aufschwung der Blutgerichtsbarkeit betont, stechen hier hervor. Mathias Schmoeckel beschäftigt sich mit den Einstellungen reformatorischer Gelehrter zum Strafzweck der Besserung und arbeitet heraus, welchen Einfluss diese auf die Entstehung und Ausbreitung der Zuchthausstrafe hatten. James A. Sharpe beschreibt in einem weiten Bogen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert den Niedergang des öffentlichen Strafens in England und bindet diesen an das Verschwinden einer auf face-to-face-Kommunikationen gestützten Gesellschaft.

Das Gros der Autorinnen und Autoren allerdings widmet sich der Sattelzeit. Hinrich Rüping, Kurt Seelmann und Georg Steinberg legen den Fokus dabei auf die Entwicklungen der Strafrechtsphilosophie. Während Rüping und Steinberg sich intensiver mit den Vorstellungen einzelner Philosophen (Thomasius, Kant) auseinandersetzen, untersucht Seelmann verschiedene Strafzweck- und Straflegitimationslehren des 18. und 19. Jahrhunderts und ihren Wandel von vertragstheoretischen Entwürfen hin zu Begründungen des Strafens, die mit Metaphern der Verteidigung oder des Schadenersatzes arbeiten. Strafpolitisch konkreter dargestellt wird das Geschehen um 1800 von Karl Härter, der anhand von Kurmainz bzw. des Großherzogtums Frankfurt deutlich macht, wie fließend der Übergang zwischen 'vormodernen' und 'modernen' Strukturen und Praktiken der Strafgerichtsbarkeit war. Deren Ausdifferenzierung durch das Ordnungsmodell der "guten Policey" setzte bereits in der Frühen Neuzeit ein und zog sich bis weit ins 19. Jahrhundert hin, wobei erst nach 1848 mit dem weitgehenden Verschwinden des traditionell öffentlichen Vollzugs von Strafen eine grundlegende Änderung eintrat. Am Beispiel der Sittlichkeitsdelikte und ihrer Bestrafung bestätigt Andreas Roth dieses ambivalente Bild.

Mehrere Beiträge des Bandes rücken bestimmte Strafformen in den Mittelpunkt. Während Barna Mezeys Text zum Symbolhaushalt der Freiheitsstrafe vor allem dadurch überrascht, dass er methodisch den rechtshistorischen Forschungsstand der 1950er Jahre widerspiegelt, bieten andere Beiträge interessante Erweiterungen des nicht erst seit Foucault in vielen Köpfen fest verankerten Schemas 'von der Marter zum Gefängnis'. Christine D. Schmidt verdeutlicht am Beispiel der Kirchenbuße nicht nur eine erhebliche Spannbreite spiritueller Strafformen in der Vormoderne (insbesondere im Falle der Unfähigkeit eines Delinquenten, eine verhängte Geldstrafe zu bezahlen), sondern betont auch die Rolle strafrechtlicher Sanktionierung bei der Perpetuierung von Macht und Einfluss im Kampf zwischen verschiedenen Herrschaftsinstanzen (hier zwischen Landesherrschaft und Domkapiteln im Nordwesten des Alten Reiches). Helga Schnabel-Schüle macht auf die problematische Rolle der vormodernen Ehrstrafen aufmerksam. Zwar waren diese aus dem Gefüge der frühneuzeitlichen Sanktionen nicht wegzudenken, verlangten gleichzeitig aber, um überhaupt wirksam zu sein, nach einer mit dem Verurteilten kommunizierenden Öffentlichkeit, was tendenziell das sich herausbildende Strafmonopol des frühmodernen Staates bedrohte. Hans Schlosser schließlich lenkt den Blick auf die frühneuzeitliche Flexibilisierung der richterlichen Strafzumessungsspielräume und wendet sich damit überzeugend gegen eingeführte Interpretationen, welche die massive Ausbreitung von Arbeitsstrafen im 18. Jahrhundert entweder gestiegener Menschenfreundlichkeit oder aber konsequenter strafpolitischer Ausrichtung am Wert der Nützlichkeit zurechnen.

Ein letzter thematischer Schwerpunkt liegt auf der Todesstrafe. Luigi Cajani beschreibt die Tröstungen der Todeskandidaten im päpstlichen Rom und schildert diese als eine ausgefeilte Strategie, um die symbolisch hochbedeutsame Inszenierung einer Hinrichtung nicht zu gefährden. André Krischer und Nicola Willenberg beschäftigen sich mit dem Verschwinden der öffentlichen Exekutionen. Krischer stellt überzeugend die Situation in England dar, wo die Todesstrafe in eine tiefe Sinnkrise geriet, seit sich die Obrigkeiten von ihr eine Abschreckung des Publikums und nicht mehr allein eine Legitimierung des Urteils (göttliches Einverständnis, reuevolle Annahme der Strafe durch den Delinquenten) erwarteten. Willenberg hingegen illustriert am preußischen Fall, dass man bei Hinrichtungen auch nach deren Verlegung hinter die Mauern der Strafanstalten weiterhin auf religiöse Symbole (insbesondere das Läuten der Glocken) zurückgriff, um die Legitimität des Strafaktes adäquat auszudrücken. Noch deutlicher arbeitet Jürgen Martschukat die Verankerung verschiedener Hinrichtungsformen in einem gleichen diskursiven Feld heraus, indem er eindrücklich aufzeigt, welchen enormen Stellenwert die Werte Geschwindigkeit und Verlässlichkeit für die Diskussionen moderner Hinrichtungsverfahren (von der Guillotine bis zur Giftspritze) hatten und haben. Der Glaube an den professionellen und schmerzlosen Tod, der bis heute die amerikanischen Debatten bestimmt, behindert ein Nachdenken darüber, ob Todesstrafen überhaupt vollstreckt werden sollten, und trägt hier (wie vorher in Europa auch) maßgeblich zu einer fortdauernden Legitimität des strafenden Tötens bei.

Alles in allem gelingt es den Autor/innen, ein vielschichtiges Bild religiöser und weltlicher Wertevermittlung durch Strafe zu zeichnen, welches durch zahlreiche Diachronien und quer zu den Meistererzählungen liegende Entwicklungen auszeichnet. Gemessen an den einleitenden Ausführungen darf der Anspruch des Bandes also als eingelöst betrachtet werden. Dass sich in der Gesamtschau dabei keine eindeutigen Befunde ergeben, dürfte allerdings nicht nur an der programmatischen Weitsicht der Herausgeber/innen liegen, sondern auch auf die hohe thematische Vielfalt und die schwankende Qualität der Beiträge zurückzuführen sein. Neben spannenden Ergebnissen im Einzelnen (die jedoch meist auch anderswo nachzulesen sind) bleibt deshalb der Eindruck, dass eine stärkere inhaltliche Lektorierung und Ausrichtung der Texte auf die Leitfragen des Bandes einigen von ihnen durchaus gut getan hätten.

Falk Bretschneider